Ist Optimismus Pflicht?

»Vollendet sich die Demokratie, verkörpert das Präsidentenamt immer mehr die innerste Seelenlage des Volkes. Wir nähern uns einem erhabenen Ideal. Eines großartigen und glorreichen Tages werden die einfachen Leute vom Lande ihren Herzenswunsch endlich erfüllt sehen, und das Weiße Haus wird geschmückt sein mit einem vollkommenen Trottel.« Mit diesen Sätzen endete ein Artikel des amerikanischen Satirikers Henry Louis Mencken (1880—1956) in der »Evening Sun« (Baltimore, Maryland) vom 26. Juli 1920 (Mencken, Henry Louis: Bayard vs Lionheart. In: The Evening Sun, Baltimore, Maryland, 26. Juli 1920. Zitiert nach: https://www.newspapers.com/article/the-evening-sun-hl-mencken-article-26/21831908/. Übersetzung: VF. Originaltext: “As democracy is perfected, the office of the President represents, more and more closely, the inner soul of the people. We move toward a lofty ideal. On some great and glorious day, the plain folks of the land will reach their heart’s desire at last, and the White House will be adorned by a downright moron.”). Vor rund hundert Jahren gab es demnach schon »rosige« Aussichten für die amerikanische Politik. Beim Studium der Geschichte wird man wohl für jede Epoche die Einschätzung finden, die Aussichten seien nicht rosig. 

Warum sollte dann Optimismus Pflicht sein, wie es der Philosoph Karl Popper vorschlug? Popper schrieb dazu: »Diesen Satz, ›Optimismus ist Pflicht‹, möchte ich noch ­erklären (…) Die Zukunft ist offen. Sie ist nicht vorausbestimmt. Daher kann sie niemand voraussagen – außer durch Zufall. Die Mög­lichkei­ten, die in der Zukunft liegen, gute sowohl wie schlimme, sind unabsehbar. Wenn ich sage, ›Optimismus ist Pflicht‹, so schließt das nicht nur ein, daß die Zukunft offen ist, sondern auch, daß wir alle sie mitbestimmen durch das, was wir tun: Wir sind alle mitverantwortlich für das, was kommt.« (Popper, Karl R.: Von der Notwendigkeit des Friedens. In: ders.: Alles Leben ist Problemlösen. Über Erkenntnis, Geschichte und Politik. München: Piper, 1994(3). S. 326.) Und daraus leitet er ab: »So ist es unsere Pflicht, statt etwas Schlimmes vorauszusagen, uns einzusetzen für jene Dinge, die die Zukunft besser machen.« (ebd.)

Diese Gedanken haben etwas Zwingendes, sich ihrer Überzeugungskraft zu entziehen, gelingt auch einem Melancholiker wie dem Autor dieser Zeilen nicht – allerdings auch nicht, frohgemut und mit leichter Hand entsprechend zu handeln. Vielleicht hilft es, die »Popper-Dosis« zu erhöhen und eine weitere seiner Argumentationen zur Zukunft anzuführen:

»Ich bin ein Optimist, der nichts über die Zukunft weiß und der daher keine Voraussagen macht. Ich behaupte, daß wir einen ganz scharfen Schnitt machen müssen zwischen der Gegenwart, die wir beurteilen können und sollen, und der Zukunft, die weit offen ist und von uns beeinflußt werden kann. Wir haben deshalb die moralische Pflicht, der Zukunft ganz anders gegenüberzustehen, als wenn sie etwa eine Verlängerung der Vergangenheit und der Gegenwart wäre. Die offene Zukunft enthält unabsehbare und moralisch gänzlich verschiedene Möglichkeiten. Deshalb darf unsere Grundeinstellung nicht von der Frage beherrscht sein ›Was wird kommen?‹, sondern von der Frage ›Was sollen wir tun: Tun, um womöglich die Welt ein wenig besser zu machen? Und zwar auch dann, wenn wir wissen, daß, wenn wir ­wirklich etwas zu verbessern imstande waren, spätere Generationen vielleicht alles wieder verschlechtern können?‹« (Popper, Karl R.: Gegen der Zynismus in der Interpretation der Geschichte. In: ders.: Alles Leben ist Problemlösen. Über Erkenntnis, Geschichte und Politik. München: Piper, 1994(3). S. 272.)

Karl Raimund Popper (1902—1994) ist einer der bedeutendsten Philosophen und Wissenschaftstheoretiker des 20. Jahrhunderts. Er nennt sich Rationalist und Aufklärer: Er ist überzeugt, dass wir durch die Kritik unserer Fehler und ­Irrtümer lernen können, wenn wir sie in einer ­­(selbst-)kritischen ­Diskussion prüfen, um so der Wahrheit näher zu kommen (ohne je sicher sein zu können, im Besitz der Wahrheit zu sein).

Seine philosophischen Ideen hat er in seinen Hauptwerken entfaltet – und sie alle entwickeln Aspekte des Optimismus. Als erstes – zeitlich und grundlegend für alle folgenden Werke – ist die »Logik der Forschung« zu nennen. (Popper, Karl R.: Logik der Forschung. Tübingen: Mohr Siebeck, 1984(8).) Das Buch legte eine neue Grundlage für Forschung und ihre Methoden. Nicht das Streben nach Beweisen und das Sammeln von Belegen für eine Idee (Verifikation) sei Ausweis von Wissenschaft, sondern Kritisierbarkeit, also die Angabe von Kriterien, die eine Idee widerlegen könnten (Falsifikation). Forschung schreite per Versuch und Irrtum (trial and error) voran. Hier schon klang ein Grundgedanke des Popperschen Optimismus an: Wir können unsere Theorien verbessern und uns der Wahrheit immer weiter ­annähern.

Im Exil in Neuseeland schrieb Popper »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde« (Popper, Karl R.: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band 1. Der Zauber Platons. Band 2. Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen. München: UTB, 1980(6).). Dieses ideengeschichtliche und politische Werk erschien auf Englisch 1944 und 1950 auf Deutsch – in der Übersetzung des späteren Popper-Kritikers Paul K. Feyerabend. Die beiden Bände erforschen die geistesgeschichtlichen Wurzeln von Totalitarismus, um ein Verständnis der großen Katastrophen der Gegenwart zu entwickeln. (Die beiden Bände klagen Hitler und Stalin an, ohne ihre Namen zu nennen.) Der Begriff »offene Gesellschaft« wird erst durch diese Bände geprägt und beschreibe eine »Gesellschaftsordnung, die die kritischen Fähigkeiten des Menschen in Freiheit setzt« (a. a. O., Bd. 1, S. 21.). Der Optimismus in Poppers politischer Theorie kann so zusammengefasst werden: Wir können Totalitarismus überwinden und durch freie, demokratische, offene Gesellschaften ersetzen, die sich per Kritik und durch eine Politik der Reformschritte (»piecemeal social ­engineering«) weiterentwickeln.

Im ebenfalls 1944 verfassten Band »Das Elend des Historizismus« (Popper, Karl R.: Das Elend des Historizismus. Tübingen: Mohr Siebeck, 1987(3).) widerlegt Karl Popper die Vorstellung, Geschichte verlaufe nach vorhersagbaren Gesetzmäßigkeiten oder habe ein vorhersagbares, zwangsläufiges Ziel. Daraus lässt sich wiederum ein weiteres Argument für Optimismus herleiten: Da Geschichte sich nicht zwangsläufig entwickelt, ist die Zukunft somit offen, wir können sie gestalten.

In dem gemeinsam mit dem Hirnforscher und Medizin-Nobelpreisträger John Eccles 1977 vorgelegten Buch »Das Ich und sein Gehirn« (Popper, Karl R., and John C. Eccles. Das Ich und sein Gehirn. München: Piper, 1982(2).) stellt Popper seine »Drei-Welten-Theorie« dar: Die Welt 1 umfasst das Materielle, die Welt 2 psychische Zustände und subjektive Empfindungen, die Welt 3 die Hervorbringungen des ­menschlichen Geistes. Die drei Welten sind real und treten miteinander in Wechselwirkungen. Daraus entstehen für die Betrachtung des Optimismus Konsequenzen: Die Hervorbringungen des menschlichen Geistes (die zur Welt 3 gehören) können, vermittelt durch uns (die wir die Welt 2 hervorbringen), auf die Welt 1 Einfluss nehmen. Somit können Ideen die Welt ändern. Und das ist wahrlich ein Grund, optimistisch zu sein.

Gleichwohl können kritische Fragen auch an Poppers ­Optimismus gerichtet werden, zum Beispiel:
· Gibt es moralische Pflichten? Wenn ja: Wie ließen sie sich ethisch begründen?
· Ist die Zukunft wirklich ­offen? Was ist mit den Entwicklungen, deren Verlauf wir zumindest im Grundsatz relativ genau vorhersagen lassen?
· Könnte zu großer Optimismus uns kritikunfähig machen?
· Hat ein realistischer Optimismus eine Pessimismus-Verpflichtung, wie der Philosoph Walter Ch. Zimmerli es zum Ausdruck bringt, wenn er vom »Vorrang der schlechten ­Prognose« spricht?

So ließe sich zwar in einem gewissen Maß Poppers Optimismus hinterfragen, das Kernproblem wird davon aber nicht aufgehoben: Wenn wir uns nicht der Einschätzung hingegeben wollen, die Aussichten für die Demokratie seien nicht rosig, gar so schlecht, dass sich eh nichts ändern lasse – dann müssen wir die Zukunft gestalten.