Wenn die Silbersaite zerrissen ist

Es ist schwierig, sich und anderen ein Bild von der Gemütslage oder Gestimmtheit zu geben, in der sich Werner Heisenberg gegen Ende des Jahres 1942 befunden hat, als der bereits fünffache Familienvater erleben musste, wie seine Heimat von Verbrechern ruiniert wurde und die ganze Welt in Trümmer zu zerfallen schien. Die Nationen befanden sich mitten in den an Aggressivität zunehmenden Turbulenzen des Zweiten Weltkriegs mit einem damals höchst ungewissen Ausgang, und im Sommer 1941 musste Heisenberg nach dem leider unglücklich verlaufenden Treffen mit Niels Bohr in Kopenhagen den Versuch als gescheitert ansehen, sich im Gespräch unter Wissenschaftlern über die Atomforschung zu einigen, um auf dieser Ebene die Menschen daran zu hindern, den Versuch zu unternehmen, einmal »die Macht zu besitzen, die Erde vollständig zu zerstören« und »durch eigene Schuld« einen jüngsten Tag »heraufzubeschwören«, wie Heisenberg damals befürchten musste und im Oktober 1941 geschrieben hat. (Zitiert in der Einleitung, die Helmut Rechenberg für die Taschenbuchausgabe der »Ordnung der Wirklichkeit« von 1989 geschrieben hat (S.17).)


»Die dem Genie beigegebene Melancholie«

Hier wird vorgeschlagen, dass sich in diesen schweren Stunden der Kriegsjahre bei Heisenberg das zu erkennen gibt, was Arthur Schopenhauer einmal als »die dem Genie beigegebene Melancholie« bezeichnet hat, die in den Augen des Philosophen darauf beruht, »dass der Wille zum Leben, von je hellerem Intellekt er sich beleuchtet findet, desto deutlicher das Elend seines Zustandes wahrnimmt« (Zitiert nach: Friedrich, Volker: Melancholie als Haltung. Berlin 1991. S. 108.). Die gedrückte Haltung der Melancholie stellt in Sicht des Religionswissenschaftlers Romano Guardini ein Leiden an der Welt, am Sein, an der Unmöglichkeit eines humanen Daseins und an der Schuldhaftigkeit der Existenz dar. (Zitiert nach: Friedrich, a. a. O., S. 75.) In den Tagen der Romantik war bei dieser Betrübnis von einem Weltschmerz die Rede, und es scheint, dass Heisenberg 1942 von solch einer defätistischen Gemütsschwere betroffen war. Die Melancholie und ihr Grübelzwang setzen nach Auskunft der Medizin bei Menschen ein, die unsägliche Trauer empfinden, während ihnen zur gleichen Zeit immer noch viele Hoffnungen bleiben, die sie trotz aller depressiven Gestimmtheit dazu bringen, ihren zornigen Blick nach vorne zu richten und in die Weite schweifen zu lassen, wie es die mit einem Flügelpaar ausgestattete Frauengestalt auf dem 1514 entstandenen berühmten Kupferstich von Albrecht Dürer vormacht, der unter dem Namen Melencolia I in die Kunstgeschichte Eingang gefunden hat und von zahlreichen Gelehrten gedeutet worden ist, von denen einige Dürer selbst in der melancholischen Gestalt vermuten. (Zum Beispiel speziell in dem Buch »Im Zwielicht« von Rainer Hoffmann (Wien 2014) und allgemein in dem Band »Saturn und Melancholie« von Raymond Klibansky, Erwin Panofsky und Fritz Saxl, Frankfurt am Main 1990.) Und im Zustand dieser schwarzgalligen Betrübnis, die oft mit Todessehnsucht einhergeht, kann man sich Heisenberg vorstellen, als er sich in den Kriegsjahren – vermutlich in dem 1939 erworbenen Sommerhaus der Familie in Urfeld am Walchensee – daran macht, sein wissenschaftlich so erfolgreiches Leben, das er »für die Aufgabe bestimmt [hatte], einzelnen Zusammenhängen der Natur nachzugehen«, wie die »Ordnung der Wirklichkeit« einsetzt, in den essayistischen Blick zu nehmen und seine Gedanken dazu in einem mit der Hand geschriebenen umfangreichen Manuskript zu Papier zu bringen, das man vielleicht als eine Art Testament ansehen kann.


Die fehlende Philologie 

So verdienstvoll es ist, Heisenbergs 1942 anfangs nur privat verteilte und lange Zeit öffentlich nicht zugängliche Schrift zum ersten Mal 1984 in Druck zu geben und öffentlich zugänglich zu machen, als der erste Band in der »Abteilung C« der »Gesammelten Werke« von Werner Heisenberg in München erscheinen konnte, so offensichtlich tritt sowohl bei der ersten Edition als auch bei der 1989 erfolgten eigenständigen Publikation als Taschenbuch in der Serie Piper ein Mangel zutage, den man auf das Fehlen einer Philologie für die Naturwissenschaften zurückführen kann. Philologie meint den sprach- und literaturwissenschaftlichen Umgang mit Texten, wie er etwa gepflegt wird, wenn die Tagebücher von Thomas Mann mit unzähligen Anmerkungen ausgestattet und herausgegeben werden oder klassische Texte der Philosophie mit ausführlichen Erläuterungen wieder in die Buchhandlungen kommen. Als Beispiel sei auf die 1806 verfasste »Einleitung zur Phänomenologie des Geistes« von G. W. F. Hegel verwiesen, die 1988 im Reclam Verlag mit einem Kommentar erschienen ist, der sich auf rund 180 Seiten mit fast jedem Wort der nur etwas mehr als acht (!) Seiten umfassenden Schrift von Hegel beschäftigt. 

Unter Naturwissenschaftlern scheint man sorgloser mit den Manuskripten der Großen ihrer Zunft umzugehen, was gleich mit Beispielen aus Heisenbergs Text belegt werden soll, allerdings nicht, ohne auf den ärgerlichen Hinweis zu verzichten, dass allgemeinverständliche Schriften von historischen Figuren der Naturforschung wie Max Planck und Niels Bohr hierzulande nicht nur nicht kommentiert vorliegen, sondern eher sogar versteckt werden. Sie sind auf jeden Fall viel schwieriger zu beschaffen und in Buchhandlungen weniger verfügbar als selbst kleinere Nebenarbeiten von Philosophen wie Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche, und dieser Sachverhalt kann nur als Bildungs- und Kulturskandal angesehen werden, für den sich feuilletonistische Eliten schämen sollten.


Der Ton der Silbersaite 

Was die unzureichende Philologie bei Heisenbergs »Ordnung der Wirklichkeit« angeht, so fallen die fehlenden Erläuterungen bei der Lektüre des Textes spätestens dann auf, wenn kurz nach dem Einlassen auf »Die verschiedenen Bereiche der Wirklichkeit« im Text »der Ton der Silbersaite« angesprochen wird, »von der Gottfried Keller gesungen hat« und die »von keiner anderen Saite erklingen« kann, wie betont wird. So formuliert es Heisenberg, ohne dass Leserinnen und Leser mehr erfahren und näher auf das musikalische Bild und seine Herkunft eingegangen wird. Die Silbersaite spielt eine beachtliche Rolle in Heisenbergs Denken und seiner melancholischen Schrift, denn sie taucht etwa 100 Seiten später erneut auf, als es ihm darum geht, »Tore zu schwer zugänglichen Bereichen der Wirklichkeit« zu öffnen. Dies ist eine Aufgabe, die der Physiker als »Sache der Dichter« ansieht und ihn zu einem Satz verleitet, in dem eine Blume auftritt, die in Heisenbergs Worten »als Verkörperung der in sich selbst ruhenden, vollendeten Schönheit« angesehen werden kann. Gemeint ist die Rose, und ihr Anblick »kann die Silbersaite … zum Tönen bringen«, wie Heisenberg betont, wobei deren tiefer Klang zusätzlich das erfahren lässt, »um dessentwillen das Leben für uns wichtig ist.« Die Silbersaite, »von der Gottfried Keller gesungen hat«, wird ein drittes Mal kurz vor dem Ende der »Ordnung der Wirklichkeit« angesprochen, nachdem Heisenberg den im Dritten Reich lebensgefährlichen Satz geschrieben hat, »dass die politische Macht stets durch ein Verbrechen begründet worden ist«. Er hofft dabei zum einen, dass man in dem polternden Lärm der politischen und kriegerischen Unruhen nicht die leise Melodie einer einzelnen Geige überhört, und er wünscht 1942 zum anderen innig und eindringlich, dass sich »jetzt die [Menschen] verbünden, die noch die weiße Rose kennen, oder die den Klang der Silbersaite vernehmen können«. 

»Die weiße Rose«, so lautete der Name einer seit dem Sommer 1942 vor allem in München aktiven Widerstandsgruppe gegen die Diktatur des Nationalsozialismus, was eine Ausgabe des Heisenbergschen Essays aus dieser Zeit für eine heutige Leserschaft wahrscheinlich ebenso zu kommentieren hat wie das Besondere am Klang der Silbersaite aus dem 19. Jahrhundert, da sie von einem Dichter angesprochen und aufgerufen stammt, der in seiner Zeit wie die Mitglieder der Weißen Rose in Heisenbergs Tagen auf Umsturz aus war, wobei sich der Widerstand in Gottfried Kellers Fall gegen den Klerus richtete (und ebenfalls scheiterte). 

Die Silbersaite übernimmt ihre erinnerungsträchtige Aufgabe konkret bei Gottfried Keller (1819—1890) in dem 1845 entstandenen Gedicht »Jugendgedenken«, dessen erste Strophe so lautet:

Ich will spiegeln mich in jenen Tagen,
Die wie Lindenwipfelwehn entflohn,
Wo die Silbersaite, angeschlagen,
Klar, doch bebend gab den ersten Ton,
Der mein Leben lang,
Erst heut noch, widerklang,
Ob die Saite längst zerrissen schon.

Als der »ungezogene Lyriker«, wie Keller sich selbst bezeichnete, der mit dem Klang der Silbersaite die Unschuld, Naivität und Selbstverständlichkeit des kindlichen Spiels hörbar machen möchte, nahm er an sogenannten Freischarenzügen in der Schweiz teil, die aber vergeblich blieben. Kellers Biograph Adolf Muschg (*1943) hält »Jugendgedenken« für das schönste Gedicht des Schriftstellers, dessen Erzählungen einen bürgerlichen Realismus vertreten, wie man in aller Kürze sagen kann. (Muschg, Adolf: Gottfried Keller. München 1994.) Den »ersten Ton« seiner Silbersaite hat Heisenberg im selben Alter wie Keller gehört, nämlich in den 1920er Jahren, und wie der Dichter musste der Physiker im Laufe seines weiteren Lebens erleben, wie die Quelle des schönen Klangs in den Jahren nach 1933 zerrissen wurde und zum Ende hin kein »Frühstern guten Strebens« mehr »heiter leuchtete«, wie es in der sechsten und letzten Strophe des Gedichts von Gottfried Keller heißt, was Heisenberg für seine Jahre im Dritten Reich genauso empfunden haben mag.


Das spannende Spiel

Wer sich an seine Jugend erinnert, wird sicher an die vielen Spiele denken, die einen mit Freundinnen und Freunden zusammenbrachten oder mit denen man sich im Kreis der Familie vergnügen konnte. Heisenberg spricht beim Blick auf die Zeit, in der er den Klang der Silbersaite noch vernehmen konnte, gleich zweimal vom Spiel seiner frühen Beschäftigung mit der Naturwissenschaft, das es einmal als »unendlich spannend« und ein zweites Mal als »kunstvoll geführt« charakterisiert. Dazu lässt sich anmerken, dass in den späten 1930er Jahren das berühmte und bis heute aufgelegte Buch des holländischen Kulturhistorikers Johan Huizinga (1872—1945) mit dem Titel »Homo ludens« erschienen war, in dem es um den »Ursprung der Kultur im Spiel« geht, und es ist anzunehmen, dass Heisenberg davon Kenntnis hatte. Huizinga knüpft an Friedrich Schiller (1759—1805) an, der in seinen ab 1793 verfassten »Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen« darlegt, dass es das Spiel ist, das die Ganzheitlichkeit der menschlichen Fähigkeiten hervorbringt. Als der junge Heisenberg die Physik kennenlernte und es vermochte, Wesentliches zu ihr beizutragen, war seine Wissenschaft genau das, ein unendlich spannendes Spiel, bei dem es allerdings am jetzigen Ende (1942) tatsächlich um das Ganze ging, »das wir Welt oder Leben nennen« und das jetzt bedroht zu sein schien.


Die starre, stumme Welt

Während sein »Jugendgedenken« von einer Welt handelt, die lebendig zu Heisenberg gesprochen und sich ihm auf glücklichste Weise offenbart hat, kommt es ihm jetzt so vor, als ob »Menschen und Dinge« »stumm« bleiben und »starr« erscheinen. Diese Wortkombination »starr und stumm« findet sich in dem 1899 geschriebenen Gedicht »Ich fürchte mich so« von Rainer Maria Rilke (1875—1926), das folgenden Wortlaut hat und in dem die Dinge auch für den Schriftsteller einmal gesungen haben:


Ich fürchte mich so

Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.
Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.
Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um.

Es lohnt sich, etwas bei Rilke zu verbleiben, auch wenn keine direkte Verbindung zu Heisenberg bekannt ist und er häufiger die Verse anderer zeitgenössischer Dichter zitiert – etwa die von Stefan George. Aber für die Literaturwissenschaft gilt Rilkes Poesie als ein Triumph über das Unsagbare. In vielen seiner Verse vermochte er auszudrücken, was unaussprechbar schien, und so konnte er der deutschen Lyrik Bereiche erschließen, die unzugänglich schienen und von deren Existenz niemand wusste, wie zu lesen ist. Das Unsagbare, das Unaussprechbare, das Unzugängliche – all das scheint meilenweit von dem entfernt zu sein, was ein Naturwissenschaftler traditioneller Prägung vor Augen hat, der sein Geschäft doch in der Überzeugung betreibt, dass er nicht nur herausfinden kann, wie die Natur funktioniert und die Welt beschaffen ist, sondern dass er auch immer in aller Klarheit sagen kann, wie sie aussieht und wie sie dies tut. Die Wahrheit ist für ihn aussprechbar, und warum kann sie nicht in allen Bereichen der Natur eingesehen werden? Dies war jedenfalls die Ansicht vieler Wissenschaftler, wie sie am Ende des 19. Jahrhunderts vehement vertreten wurde, als zum Beispiel die Physik die Form fand, die heute das Attribut »klassisch« bekommen hat, als die Chemie eine ganze Industrie ermöglichte und die Bakteriologie einen ersten rationalen Zugang zu einigen Krankheiten offenlegte.

Doch in der Mitte von Rilkes Leben vollzog und erlebte die Wissenschaft nicht zuletzt dank Heisenberg eine radikale Umwertung ihrer Werte, und zwar sowohl in theoretischer als auch in praktischer (sprich: ethischer)  Hinsicht. Sie entdeckte, dass es auch für sie etwas gibt, das unsagbar bleibt (Diesen Tatbestand haben viele Physiker selbst erst spät eingestanden. So ist zum Beispiel erst 1989 ein Band erschienen, der im Titel zwischen Speakable and Unspeakable in Quantum Mechanics  unterscheidet; der Autor ist John S. Bell (Cambridge University Press, 1989).), und dass sie von Bereichen betroffen und beeinflusst wird, von deren Existenz sie nichts gewusst hatte und wahrscheinlich auch nichts wissen wird. Gemeint sind damit konkret zum Beispiel die Sphären des Unbewussten, die natürlich schon vorher bekannt und beschrieben waren – etwa von den Philosophen und Poeten der Romantik –, die aber damit noch nicht zum Einzugsgebiet der empirischen Wissenschaften gehörten und von den Vertretern dieser Fakultäten noch entdeckt werden mussten. Und gemeint sind allgemein all die anderen Erscheinungen, die sich auf der Nachtseite der Wissenschaft – das heißt, nicht im Licht des Bewusstseins – abspielen und über die Wolfgang Pauli nachgedacht hat, wie Heisenberg sehr wohl wusste. (Fischer, Ernst Peter: Die aufschimmernde Nachtseite der Wissenschaft. Lengwil: Libelle Verlag, 1996.)


Über die Grenze

Wenn das Unaussprechliche zur Sprache kommt – wenn diese paradoxe Formulierung erlaubt ist –, dauert es gewöhnlich nicht lange, bis der berühmte letzte Satz aus dem 1921 erschienenen »Tractatus logico-philosophicus« des österreichischen Philosophen Ludwig Wittgenstein (1889—1951) zitiert wird, in dem es heißt: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.« Ihn greift Heisenberg auf, wobei sein Vertrauen in die Sprache größer als das von Wittgenstein ist. Denn Heisenberg ist zum einen der Ansicht, »Worüber man nicht reden kann, darüber muss man sich verständigen, darüber muss man einen Dialog führen, und es ist die Aufgabe des Wissenschaftlers, damit zu beginnen, um den Weg zu der Welt zu bereiten, die zu finden er in der Lage und die zu kennen sein Privileg ist«, wie er in seinem Essay geschrieben hat. Deshalb praktiziert er zum zweiten am Ende seiner »Ordnung der Wirklichkeit« eine Haltung, die man mit den Worten charakterisieren könnte, »Worüber man nicht sprechen kann, davon muss man erzählen, zum Beispiel wie in einem Märchen«, was er ganz am Ende unternimmt und wie noch genauer ausgeführt wird. Was die Grenzen der Worte angeht, auf die Wittgenstein anspielt, so kennt Heisenberg als glänzender und souveräner Musiker den von dieser Kunstform bereitgestellten Weg, sie zu überschreiten und sich in Tönen auszudrücken. Heisenberg unternimmt es selbst mit den Takten, die er handschriftlich notiert, auf S. 166 der Piper Ausgabe von 1989 zu finden sind und weiter unten näher besprochen werden. Die Noten stammen aus einer Klaviersonate von Ludwig van Beethoven (1770—1827), dem Musikkenner bescheinigen, in seinen Kompositionen nicht nur gerne die Grenzen der Sprache gestreift, sondern auch umgekehrt die Musik in Worte überführt zu haben, etwa im Schlusschor der neunten Symphonie. Heisenberg hat diese Möglichkeit der Wechselspiels sicher gespürt, wenn er Beethovens Musik gespielt oder ihr zugehört hat, etwa dem Violinkonzert, dessen zugleich symmetrisches und volkstümliches Seitenthema er in der »Ordnung der Wirklichkeit« ausdrücklich erwähnt, oder der von dem jugendlichen Tonsetzer geschriebenen Serenade für Flöte, Bratsche und Geige in D-Dur, die Heisenberg am Ende seiner Autobiographie erklingen lässt, um sich und uns für die Zukunft zu öffnen. Mit und dank dieser Musik gewinnt Heisenberg immer wieder wachsendes Vertrauen in eine zentrale Ordnung und die innere Kraft, auch die schlimmen Jahre im kulturlosen Dritten Reich in der einem Genius angemessenen Haltung der Melancholie durchzustehen.

Bevor Heisenberg auf Wittgensteins Schlusssatz anspielt – die heutigen Vertreter der Physik ärgern sich vor allem über den ersten Satz des »Tractatus logico-philosophicus«, der lautet, »Die Welt ist alles, was der Fall ist«, und sie würden stattdessen vorschlagen, »Die Welt ist oder wird alles, was der Fall sein könnte« –, bevor also Heisenberg persönlich bekennt, »über die letzten Dinge kann man nicht sprechen«, drückt er eine ungeheure Hoffnung aus, die so etwas wie Sehnsucht ausstrahlt, indem er schreibt, »Die Fähigkeit des Menschen, zu verstehen, ist unbegrenzt«. Schon eine Seite zuvor hatte er diese ihm offenbar wichtige Ansicht geäußert, wobei er hier genauer ausführt, was für ihn »verstehen« heißt, nämlich »sich in der Wirklichkeit zurechtfinden«. Er erinnert damit an die eigentlichen Aufgaben, die Menschen wie ihm gestellt sind und darin bestehen, dass »die Frage, was denn eigentlich die Wirklichkeit sei, [immer wieder] von neuem geprüft und beantwortet werden« muss. Diess allgemeinen Überzeugungen verdanken sich sicher auch dem konkreten Erlebnis der Grenzenlosigkeit, das Heisenberg in der Nacht auf Helgoland erfahren konnte, als er den Zugang zu den Atomen und dabei zu einer neuen Schicht der Wirklichkeit finden und seinen Mitmenschen zeigen konnte. 

Hier wird die Ansicht vertreten, dass Grenzen für Menschen eine besondere Bedeutung haben und es zum Beispiel möglich  und sinnvoll ist, die große Frage »Was ist der Mensch?« mit diesem Begriff zu beantworten. Dies zeigt sich unter anderem, wenn man die zitierte Aufgabe in die drei kleineren Fragen aufteilt, wie es Immanuel Kant vorgeschlagen hat. Um zu wissen, »Was ist der Mensch?«, sollte man wissen, »Was kann ich wissen?«, »Was soll ich tun?« und »Was darf ich hoffen?«. Und hier kann man mit dem Konzept der Grenze antworten, mit dem sich sagen lässt: Menschen können ihre Grenzen kennen, sie sollen versuchen, sie zu überschreiten, und sie dürfen hoffen, dass ihnen dies im Laufe ihrer Geschichte gelingt. Menschen werden keine Grenze akzeptieren, weshalb Heisenbergs tiefe Überzeugung »Die Fähigkeit des Menschen, zu verstehen, ist unbegrenzt« der Conditio Humana wunderbar angemessen ist.