… ist die öffentliche Meinung eine Macht ohne Verantwortlichkeit und daher […] besonders gefährlich.«
Karl Popper
Popper, Karl R.: Vermutungen und Widerlegungen. Das Wachstum der wissenschaftlichen Erkenntnis. Teilband II: Widerlegungen. Tübingen: J. C. B. Mohr, 1997. S. 508.
Ich stimme dem obigen Zitat zu, finde aber auch, dass in manchen Aspekten die Anonymität wichtig ist. Ein Beispiel, bei dem ich es wichtig finde seine öffentliche Meinung anonym kund zutun, sind Themen, die hoch emotional sind wie u. a. Schwangerschaftsabbruch, Vergewaltigung, häusliche Gewalt usw.. Viele Betroffene brauchen sehr lange, um dazu zu stehen, was ihnen passiert ist. Wenn diese Themen in der Öffentlichkeit diskutiert werden, finde ich es wichtig, dass man sich anonym dazu äußern kann, ohne Angst zu haben, dass jeder weiß, wer man ist. Es gibt immer Gegner zu bestimmten Themen, die dann teilweise versuchen, eine regelrechte Hetzjagd zu veranstalten. Im Sinne von Schutz finde ich eine anonyme Meinung sehr wichtig.
Die Anonymität in der Öffentlichkeit finde ich dann grenzwertig, wenn sich Personen, die besonders in der Öffentlichkeit stehen, wie Politiker:innen, Musiker:innen, usw., zu bestimmten Themen äußern, sich dann aber hinter einem Pseudonym verstecken. Somit können diese sich frei und wild äußern ohne jegliche Konsequenzen. Siehe Beispiel Frau Huss.
Dennoch brauchen öffentliche Diskussionen Verantwortung und keine Anonymität, den Kommunikation lebt ja von der persönlichen Verantwortung.
Es ist wahr das Anonymität die Meinung in der Öffentlichkeit beeinflusst. Anonymität senkt die Schwelle der Meinungsäußerung enorm und damit werden auch gefährliche Meinungen schneller in die Welt gesetzt. Eine andere Frage ist nun: Ist eine gefährliche Meinung oder Äußerung von einer/m unbekannten AbsenderIn immer noch gefährlich?
Gerade jetzt in der Corona-Krise kann man beobachten, wie sich gefährliche Meinungen und Aussagen schnell und weit verbreiten. Aber selbst die krudesten Aussagen haben eine/n AbsenderIn die sich als Experten darstellen. Argumente mit einer fragwürdigen Quelle sind immer noch stichhaltiger als Argumente ohne eine Quelle.
Deshalb denke ich das anonyme Meinungsäußerung gefährlich sein kann aber meist nicht von Dauer ist.
Formen der öffentliche Meinung definiert Karl Popper in dem Werk „Vermutungen und Widerlegungen. Das Wachstum der wissenschaftlichen Erkenntnis“ aus dem das oben stehende Zitat stammt so: im Wesentlichen gibt zwei Formen der öffentlichen Meinung, eine die institutionell verwurzelt, die andere nicht (Popper, 541)[1].
Institutionen, die die öffentliche Meinung bilden sind unter anderem: Medien, wie Zeitungen, Radio, Fernseher, aber auch Parteien, Universitäten, Think Tanks und kulturelle Institutionen wie Theater und Kino (ebd.). (Zur Zeit der ersten Veröffentlichung, 1963, spielte das Internet noch keine Rolle, es passt aber in die Reihe der Medien). Die nichtinstitutionellen Formen der öffentlichen Meinung finden überall dort statt wo Menschen sich öffentlich treffen und ihre Meinung äußern, sei es in der Bahn, im Café oder am Stammtisch (ebd.).
Die öffentliche Meinung besteht also in Bezug auf die nichtinstitutionelle Form aus der Gesamtheit öffentlicher Meinungsäußerungen Einzelner. Es handelt sich um eine Art Mosaikbild aus vielen verschiedenen Meinungen, das durch die schiere Masse and Meinungen heterogen sein muss. Und durch die vielen Urheber, die sich mündlich äußern in der Gesamtheit anonym. Diese Form der öffentlichen Meinung ist mit Vorsicht zu genießen, denn der informelle Austausch von Meinungen ist selten von reinen Fakten geleitet, sondern verlagert sich auf „gefühlte Wahrheiten“, Emotionen und Spekulationen. Aber sie ist nicht besonders mächtig, jedenfalls solange sie sich nicht beispielsweise als Protestbewegung institutionalisiert.
Mächtiger scheint die institutionalisierte öffentliche Meinung zu sein. Mit Fokus auf Medien kann gesagt werden, dass sie die öffentliche Meinung stark prägen können, da sie entscheiden welche Themen sie veröffentlichen und wie sie diese gewichten. Die Online-Medien haben zur Beschleunigung der news-cycles beigetragen und durch die Kommentarfunktion vieler Beiträge neue öffentliche Plätze geschaffen auf denen öffentlich Meinungen geäußert werden können. Hinzu kommt die Möglichkeit auf Foren, Blogs und sozialen Medien seine Meinung öffentlich zu äußern. Hier gilt es zu unterscheiden: die Absender von Meldungen und Meinung in Medien wie Zeitung, Fernsehen, Radio sei es off- oder online sind nicht anonym. Die Autoren werden genannt und tragen so einen Teil der Verantwortung für ihre öffentlich gemachte Meinung. In der Gesamtheit der öffentlichen Meinung bleiben sie aber dennoch namenlos, da diese nicht an die Äußerungen Einzelner geknüpft ist, sondern ein Stimmungsbild ist.
Kommentatoren, social media Nutzer und Foren- und Blog-Autoren können weitgehend anonym bleiben, Klarnamen werden selten benutzt. Das führt, wie Ines Filipp, Eva Hammerschmidt und Jill Huss schon geäußert haben, zu Kommentaren, die zum Teil extreme und hasserfüllte Standpunkte unter dem Mantel der Anonymität vertreten, bis hin zu teils zerstörerischen shitstorms.
Im Januar 2020 forderte der Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble eine Klarnamenpflicht in den sozialen Netzwerken (Tagesschau, 2020)[2] um online mehr Transparenz zu schaffen und besser gegen Rechtsverstöße vorgehen zu können. Der Vorschlag stieß aber auf wenig Gegenliebe, weder in der Politik noch im Netz; kritisiert wurde vor allem, dass „(…) die Anonymität im Internet zur grundgesetzlichen Meinungsfreiheit schlicht dazu gehört“ (ebd.).
Die Anonymität als wichtiger gewachsener Teil der Netz-Kultur steht also bisher nicht zur Diskussion und ist in vielen Bereichen meist unproblematisch.
Die Gefahr der anonymen öffentlichen Meinung, der „Macht ohne Verantwortlichkeit“ liegt möglicherweise in diesem Widerspruch: Wer Macht hat trägt üblicherweise Verantwortung für das oder jene über die er Macht hat. Seien es Politiker, die im Sinne der Republik handeln müssen, eine Konzern-Chefin, die Verantwortung für ihre Angestellten trägt, ebenso für die Geschäftspraktiken ihres Unternehmens, oder ein Arzt, dessen Handeln über Leben und Tod entscheiden kann. Sie alle sind im Idealfall direkt mit den Folgen ihres Tuns verbunden und handeln entsprechend verantwortungsbewusst.
Jemand, der durch Meinungsäußerung einen Teil zur öffentlichen Meinung beiträgt, sei es institutionalisiert oder nicht, ist meist nicht direkt mit den Folgen der öffentlichen Meinung verknüpft und fühlt sich deshalb nicht verantwortlich für das Mosaiksteinchen welches er dazu beiträgt.
Dazu kommt die Möglichkeit der Manipulation der öffentlichen Meinung durch Interessenverbände, Lobbyisten, Populisten etc. Durch ausdauernde Wiederholung von vermeintlichen Fakten wird versucht die öffentliche Meinung in die jeweils gewünschte Richtung zu lenken. Es ist wichtig diese Manipulationen zu erkennen und dadurch wirkungslos zu machen.
Zu der Verantwortung, die jede*r als Absender von Meinung hat, kommt also noch die Verantwortung als Empfänger von öffentlicher Meinung dazu, die Fakten zu prüfen und entsprechend ihres Wertes einzuordnen.

[1] Popper, Karl R.: Vermutungen und Widerlegungen. Das Wachstum der wissenschaftlichen Erkenntnis. Teilband II: Widerlegungen. Tübingen: J. C. B. Mohr, 1997. S. 541.
[2] Marx, Iris: Webseite der ARD Tagesschau, https://www.tagesschau.de/inland/schaeuble-klarnamenpflicht-soziale-netzwerke-101.html, 13.01.2020, abgerufen am 30.12.2020)
Im heutigem Zeitalter verstärkt sich das sogar. Wir leben in einer „Cancelling“ Kultur, das bedeutet, dass öffentliche Personen innerhalb eines kurzen Zeitraumes aufgrund früherer oder aktueller kritischer Aussagen enorm an Beliebtheit verlieren können. Das ist öfters mal gefährlich, denn auf Social Media schaukelt sich der Hass enorm hoch („Shitstorm“) und die wahren Quellen verschwinden in einem Sturm aus Wut und Rage. Oft hat der Betroffene nicht einmal mehr die Möglichkeit sich zu entschuldigen oder sich zu rechtfertigen; er wird schlicht und einfach abgestempelt und seine Kanäle boykottiert. Besonders jetzt ist es notwendig, einen Überblick behalten zu können an diesem Überfluss an Meinungen und Neuigkeiten.
Treffend formuliert Karl Popper dieses gefährliche Phänomen. Äußert ein Mensch seine Meinung hinter dem Vorhang der Anonymität, fühlt er sich durch diesen geschützt. Er entzieht sich wie Karl Popper darstellt jeglicher Verantwortlichkeit. Im Netz ist diese Tatsache oft zu beobachten. Da sich der Mensch hier hinter zahlreichen Masken verstecken kann, werden oft Meinungen kundgetan, die extreme Züge in sich tragen. Ich nehme an, dass man sich außerdem weniger überlegt äußert, wenn Meinungen und Kommentare nicht auf einen zurückzuführen sind. Sein Gesicht zu zeigen und für etwas zu stehen macht einen auch immer angreifbar, die Person muss bereit sein, mit anderen in den Diskurs zu treten und eventuell von seiner Meinung abzulassen. Äußert man seine Meinung anonym, fällt diese Komponente weg, wichtige Auseinandersetzungen können kaum stattfinden.
Ich stimme Eva Hammerschmidt hier zu.
Ein gutes, aktuelles Beispiel hierfür ist, denke ich, der Rücktritt Haupt-Schreibers für Fox News, Star Moderator Tucker Carlson, Blake Neff.
Über Jahre hinweg postete Neff unter einem Pseudonym auf Online-Foren rassistische und sexistische Kommentare übelster Art. Er ging sogar soweit, private Informationen einer Frau über Jahre hinweg zu posten und andere dazu einzuladen, in ihre Privatsphäre einzufallen und sie zu verspotten.
Letzte Woche Freitag trat er zurück, nachdem diese Informationen publik wurden, und hat bisher noch nicht auf multiple Aufrufe, sich zu dem Thema zu äußern, gemeldet.
Ein perfektes Beispiel, wie die Anonymität online ein solch hohes Sicherheitsgefühl vermittelt, dass man selbstbewusst übelste Aussagen veröffentlicht. Ist ja egal, es weiß ja niemand, wer man ist. Doch das Internet ist dann oft doch nicht so anonym, wie der Otto Normalverbraucher es denkt. Es sagt viel aus, dass nun, da Blake Neffs Pseudonym bekannt ist, er Aussage und Stellungnahme verweigert.
Das verstecken hinter der Online-Anonymität zeigt auch, dass man sich wohl doch bewusst ist, dass die eigenen Aussagen möglicherweise problematisch sind.