Im kalten Krieg, unter dem Eindruck des Mauerbaus entstand in den 1960er Jahren, initiiert von den Sozialdemokraten Egon Bahr und Willy Brandt, das Konzept »Wandel durch Annäherung«, das eine neue Ostpolitik im Umgang mit der DDR auf den Weg brachte, aber auch ein Sicherheitskonzept für Europa generell darstellen sollte und darüber hinaus Anregungen für die Lösung internationaler Konflikte anbot. Das Konzept machte Egon Bahr 1963 zum Gegenstand einer Rede in der evangelischen Akademie Tutzing. (Nachzulesen unter https://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0091_bah)
»Annäherung« wurde im Zuge der Zeit häufig reduziert interpretiert: Aus »Wandel durch Annäherung« wurde in der Sicht und der Politik des ökonomie-getriebenen Westens »Handel durch Wandel«. Auch diese reduzierte Idee war in gewisser Weise eine nicht allein ökonomisch, sondern auch moralisch motivierte Idee – in den Ostblock-Staaten und generell in autokratischen, diktatorischen und tyrannischen Regimen Wandel durch Handel zu ermöglichen. Mit dem Export und im Gegenzug Import von Waren, so hoffte man, würden sich auch die eigenen Werte en passant mitexportieren lassen und mittel- oder langfristig für einen Wandel hin zur Demokratie sorgen. Diese Idee erwies sich in Teilen als erfolgreich, in Teilen als erfolglos.
»Wandel durch Handel« – diese Idee kann nur dann erfolgreich sein, wenn ein gewisses Maß an gutem Willen bei allen Beteiligten vorhanden ist, wenn zudem eine Hemmung gegeben ist, Interessenkonflikte durch Gewalt und Krieg »lösen« zu wollen, und wenn bei den Gegenübern eine Offenheit dafür da ist, ihre Gesellschaft hin zu einer demokratischen und rechtsstaatlichen Gesellschaft zu entwickeln. Wer diesen Minimalkonsens teilt, ist gleichwohl noch kein Demokrat und hält noch nicht westliche Werte hoch.
Der russische Präsident Wladimir Wladimirowitsch Putin hat sich schon lange von diesem Minimalkonsens verabschiedet, falls er ihm denn je angehängt haben sollte – wir waren wohl alle zu blauäugig und haben die klaren Zeichen für die Aufkündigung dieses Minimalkonsens durch Putin ausgeblendet. Er hat bereits vor dem massiven Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 mehrfach gegen das Völkerrecht, gegen die Charta der Vereinten Nationen und die Menschenrechte verstoßen, nicht nur in der Donbas-Region in der Ukraine, nicht nur auf der Krim und mit ihrer Annektion im Jahre 2014, sondern auch mit staatsterroristischen Akten in England (2018 in Salisbury auf Sergei Wiktorowitsch Skripal mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok) und Deutschland (2019 in Berlin wurde Selimchan Changoschwili von einem Agenten des russischen Geheimdienstes FSB erschossen), für die er mit hoher Wahrscheinlichkeit die Verantwortung trägt, zudem der bekannte Fall des russischen Politikers Alexei Anatoljewitsch Nawalny, der 2020 zum Opfer eines Anschlages mit Nervengift wurde und inzwischen inhaftiert ist. Putin macht schon lange Oppositionelle mundtot – wohl auch im Wortsinn, er lässt sie ermorden. Dass er ein lupenreiner Autokrat, ein lupenreiner Diktator ist, hätten wir schon lange sehen und wissen können. (Dass ein früherer, durchaus verdienstvoller deutscher Bundeskanzler diesen Diktator als »lupenreinen Demokraten« bezeichnete und ihm hofiert, belegt einmal mehr, wie sehr Menschen sich in ihren Irrtümern und Fehlurteilen verstricken können und einzurichten wissen.)
Autokraten verachten die Demokratie und haben Angst vor ihr; Autokraten missachten Parlamente und machen sie zu Marionetten ihrer Propaganda: Autokraten dulden keine Kritik und keine Opposition und stecken Kritiker und Oppositionelle in Lager oder lassen sie töten; Autokraten haben Angst vor dem Machtverlust und davor, nach einem Machtverlust für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen zu werden, weshalb sie Verfassungen so ändern oder einrichten, dass sie auf Lebzeiten an der Macht bleiben. All dies ist bei Wladimir Putin der Fall. Viele dieser Kriterien treffen auch auf Chinas Staatspräsidenten Xi Jinping zu. Aber auch im Westen und unter NATO-Mitgliedern gab und gibt es Staatsoberhäupter, die autokratischen Anwandlungen anheimfallen, der frühere amerikanische Präsident Donald Trump, der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán, der türkische Präsident Recep Erdogan seien als Beispiele genannt.
Der Philosoph Karl Popper – zur Lektüre seines Werkes »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde« sei gerade jetzt geraten – hat ein einfaches Kriterium angegeben, mit dem man einen demokratischen von einem nicht-demokratischen Staat unterscheiden kann: In einer Demokratie können die Bürger die Herrschenden ohne Blutvergießen loswerden. (vgl. Popper, Karl R. Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band 1. Der Zauber Platons. München: UTB, 1975(4). S. 259 f.) Das geht bei Wladimir Putin nicht und auch nicht bei Xi Jinping und vielen anderen Diktatoren, Autokraten, Tyrannen. Hitler konnte man nicht abwählen und nicht »wegstreicheln«. Die Geschichte lehrt uns: Diktatoren, Autokraten, Tyrannen haben auf kurz oder lang immer die schlimmsten Verbrechen begangen und die Hölle auf Erden hervorgebracht. Das wird in unseren westlichen Demokratien in Sonntagsreden kritisiert, aber es hindert uns nicht daran, Geschäfte mit Diktaturen zu machen. Das ist die Kehrseite der Idee vom Wandel durch Handel: Man blendete den moralischen Preis aus, weil man sich vormachte, moralisch zu handeln und durch ökonomische Beziehungen eine Veränderung zugunsten demokratischer Werte in diesen Ländern zu fördern. Diese Hoffnung scheint selten aufzugehen, das Gegenteil durchaus: Durch die ökonomischen Beziehungen stabilisiert man die Autokraten leider nur zu oft – China ist dafür ein gutes Beispiel. Wir haben die kommunistische Diktatur so reich gemacht, dass sie uns inzwischen aufkaufen kann.
Wir machen halt gern Geschäfte – und verraten aus ökonomischen Gründen und wegen des Energiehungers unserer Volkswirtschaften die eigenen Werte. Die aktuelle, schlimme Krise können wir zum Anlass einer Selbstkritik nehmen. Dabei sollten wir uns eingestehen: Mittel- und langfristig ist es ein Fehler, die eigenen Werte zu verraten, denn das führt zu einer Bedrohung der eigenen Werte in unmittelbarer Nachbarschaft oder zu deren Abschaffung, wie nun in der Ukraine. Und darüber hinaus – das sei denen gesagt, denen das Geschäftemachen wichtiger ist als die eigenen Werte – unterläuft das auch die Möglichkeit, dauerhaft Geschäfte zu machen. Wer also eine kapitalistische Ökonomie in einem demokratischen Rechtsstaat pflegen möchte, der muss sich eingestehen, dass das Geschäftemachen mit Autokraten und Diktatoren dazu führen kann, die eigenen Werte nicht mehr leben und Geschäfte dauerhaft nicht mehr machen zu können – weil die Autokraten einen bedrohen, weil sie unsere Abhängigkeit von ihren Rohstoffen ausnutzen, weil sie das Geld, das sie bei uns verdienen, dazu nutzen, in unsere ökonomischen Strukturen und Besitzverhältnisse einzudringen und so Abhängigkeiten auszubauen.
Putin träumt von einer neuen Weltordnung – doch sie ist nicht neu, er will zu dem Zustand zurück, der vor der »größten geopolitischen Katastrophe« des 20. Jahrhunderts herrschte, wie er den Zusammenbruch der Sowjetunion nennt. Er will also überall dort russischen Einfluss und Macht ausüben, wo früher die Sowjetunion war. Aber vielleicht möchte er noch mehr – Diktatoren sind hungrig. Wie wäre es mit dem Gebiet der ehemaligen DDR, das ja mal zum Ostblock gehörte? Mit seinem Anspruch, überall das Russentum zu schützen, könnte er auch in Stadtteile von, sagen wir, Pforzheim einmarschieren, wo viele Russlanddeutsche leben.
Wenn durch Putins Überfall auf die Ukraine, wie er es sich vorstellt, eine neue alte Weltordnung geschaffen werden soll, dann ließe sich das zum Anlass nehmen, tatsächlich eine neue Weltordnung zu schaffen. Mein Vorschlag ist, die moralisch motivierte Idee vom Wandel durch Handel zu ersetzen durch die ebenso moralisch motivierte Idee vom Handel nach Wandel. Wenn sich die westlichen Staaten und ihre Freunde – die USA, Kanada, die EU und die mit ihnen verflochtenen europäischen Demokratien (wie Norwegen und die Schweiz), Australien, Neuseeland, Japan und weitere Demokratien – zu einem demokratischen Werte- und Wirtschaftsverbund zusammenschließen, ist dieses Gefüge der größte Bund und Markt auf unserem Globus. Wer mit diesem Bund Handel betreiben möchte, muss nachweisen, dass er demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien folgt. Mit denen, die das nicht nachweisen können, werden strikt keine Geschäfte gemacht. Demokratie- und Rechtsstaatlichkeit sind die Voraussetzungen, in diesen Bund aufgenommen zu werden und ihm anzugehören. Die Mitglieder verpflichten sich, nur Geschäfte innerhalb dieses Bundes zu tätigen. Staaten, die in dem Bund aufgenommen werden möchten, aber noch nicht alle Kriterien erfüllen, wird eine Aufnahme in Aussicht gestellt – nach einem Wandel. Ihnen kann für den Wandel Unterstützung zukommen.
Ja, das würde den Geschäftemachern in der westlichen Welt Märkte verschließen und ihre Profite senken und uns vor Schwierigkeiten bei der Energieversorgung stellen – und uns gleichzeitig einen weiteren Anstoss dafür geben, uns endlich von den fossilen Energieträgern zu verabschieden.– Der Gewinn wäre, die eigenen politischen, rechtlichen und moralischen Werte nicht mehr verraten zu müssen, nur um dem Kapital zu erlauben, ohne Werteorientierung Profite einzuheimsen. Ja, die Ökonomie müsste sich einem Primat der Werte beugen. Wem dieser Preis zu hoch erschiene, der soll sich überlegen, ob er – um gute Geschäfte machen zu können – eine »feindliche Übernahme« seiner Unternehmen durch eine Diktatur akzeptieren mag. Wer mit Autokraten Geschäfte macht, nimmt in Kauf, die eigenen Werte zu verkaufen und auf Dauer vereinnahmt zu werden. Dies gilt im übrigen auch für Unternehmen hierzulande, die gern Unternehmenswerte in entsprechenden Papieren festhalten – ohne darin auszuschließen, mit Autokraten und Geschäftspartnern in Diktaturen zu kungeln. Ein weiterer Punkt: Wer mit Autokratien Geschäfte macht, kann sich mit dem autokratischen Virus anzustecken – manch ein Bürger der westlichen Demokratien, der deren Werte nicht ausreichend verinnerlicht hat, findet Gefallen an »starken Männern«.
Diese ach so »starken« Männer, diese Autokraten leben fortwährend in Angst vor dem Machtverlust und davor, zur Rechenschaft gezogen zu werden. Ein Leben in Angst kann zu schweren Verblendungen, Fehlinterpretationen, Wahrnehmungsverzerrungen der Wirklichkeit führen. Ein Gefühl der Bedrohung kann zu einer »Vorne-Verteidigung« führen, der Autokrat will den Schäden und Gefahren trotzen, die nur in der eigenen Vorstellung existieren. Dieser Wahn weckt Aggressionen. Wer mit Autokratien Geschäfte macht, mildert nicht zwingend diesen Wahn – er kann diesen Wahn sogar noch befördern. Und damit nährt er den Boden dafür, dass demokratische Werte und auch das Geschäftemachen ad absurdum geführt werden.
Weitere Einwände können gegen meinen Vorschlag zum Handel nach Wandel erhoben werden, keine Frage. Beispiele:
Unsere Abhängigkeit von Energie und Rohstoffen ist zu groß, wir müssen deshalb Geschäfte mit Autokraten machen.
Antwort: Die demokratischen Länder gehören zu den findigsten Problemlösern, sie sollten diese Herausforderung, sich unabhängig zu machen, lieber annehmen, so lange sie es noch können. Ja, dafür wird womöglich ein Preis zu zahlen sein, z. B. wird das Wachstum geringer ausfallen. Wenn wir als Teil unseres Wohlstandes die Treue zu unseren Werten ansehen wollen, werden wir diesen Preis hinzunehmen wissen.
Es lässt sich doch gar nicht so einfach definieren, ob ein Land demokratisch ist.
Antwort: Doch – in Demokratien können die Bürger die Herrschenden ohne Blutvergießen loswerden. Und in Demokratien werden das Völkerrecht und die Menschenrechte hochgehalten, und in ihnen werden Oppositionelle nicht unterdrückt, verhaftet, gefoltert oder getötet.
Den Vorschlag braucht man erst gar nicht in Erwägung zu ziehen, er ist ja nur eine Utopie und bar jeder Möglichkeit, Wirklichkeit zu werden.
Die Demokratie war lange eine Utopie und wurde doch verwirklicht. Dass sie heute in Frage gestellt und angegriffen wird, sollte uns Anlass genug sein, sie zu schützen. Wenn man den demokratischen Werte- und Wirtschaftsverbund nicht haben mag – geschenkt. Aber hielten sich die demokratischen Staaten und auch ihre Wirtschaft an das Prinzip »Handel nach Wandel«, würden sie also ausschließlich mit demokratischen Rechtsstaaten Geschäfte machen, dann könnte das mittel- und langfristig die Attraktivität demokratischer und rechtsstaatlicher Werte in vielen Staaten erhöhen – sie müssten nur eigennützig denken, eigennützig im Sinne von: Wir wollen nach unseren Werten leben, und diese Werte stehen über rein ökonomischen Erwägungen …
[Diese Gedanken wurden am 24. Februar 2022 festgehalten, unter dem Eindruck der völkerrechtswidrigen russischen Invasion in die Ukraine. Eine leicht gekürzte Version erschien auf FAZ.net im Mai 2022 unter:
https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/ukraine-krieg-prinzip-wandel-durch-handel-gescheitert-17999762.html?printPagedArticle=true#void.]