»Fatum« – Schicksal – so nennt der amerikanische Historiker Kyle Harper sein Buch mit dem Untertitel »Das Klima und der Untergang des römischen Reiches«, wobei die deutsche Version merkwürdigerweise den Hinweis auf die Krankheiten – »diseases« – ausspart, die im Original neben dem Klima stehen und eine ungeheure Rolle in der Geschichte spielen, wie gleich geschildert wird.
Das römische Reich dehnte sich im vierten Jahrhundert nach Christi Geburt von Spanien im Westen bis zum Nahen Osten aus, und seine berühmten großen Städte hießen Rom, Karthago, Konstantinopel, Alexandria und Antiochia. Natürlich gab es damals nicht die Kommunikations- und Reisemöglichkeiten wie heute, aber trotzdem hatten die Römer ein vernetztes Riesenreich errichtet, dessen höchst unterschiedliche Teile miteinander verbunden waren und in denen sich zumindest die herrschende Klasse, die Imperatoren, so sicher fühlten, dass sie bald meinten, sogar die Natur beherrschen zu können. Dies war ihnen auch insofern gelungen, dass in dem Imperium Romanum niemals eine Hungersnot auftrat, während sich die Bevölkerung stark vermehrte, die man sich unter biologischen Gesichtspunkten als ein von Mikroorganismen durchsetztes Ökosystem vorstellen sollte. Natürlich boten römische Ingenieure ihre ganze Kunst auf, um die wachsenden Städte und ihre Bevölkerung mit Toiletten, Kanalisation und fließendem Wasser zu versehen, doch wimmelte es in den Straßen von Ratten und Fliegen, und eine Menge Kleingetier sauste auf den Gassen und Höfen umher.
Im römischen Reich treffen die Geschichte der Menschen und die der Natur aufeinander, und auch wenn die Historiker bislang den Eindruck vermittelt haben, der Untergang des Imperium Romanum habe etwas mit staatlichen Institutionen, politischen Strukturen und dekadenten Eliten zu tun, so muss diese Sicht grundlegend korrigiert werden. Das Ende des römischen Reiches ist vor allen Dingen durch ein großes Sterben von Menschen zustande gekommen. Als nämlich im sechsten Jahrhundert in Kaiser Justinians Reich eine Pestepidemie ausbrach, raffte die Seuche die Hälfte der Bevölkerung hin, und bei den Überleben-den reichte die Immunität nicht aus, um weitere Ausbrüche des Schwarzen Todes zu verhindern, die bis zum achten Jahrhundert dem römischen Reich den Garaus machten.
»It’s the biology, stupid«, könnte man Bill Clinton paraphrasieren. Es waren Ratten, Bakterien und Flöhe, die das Imperium in die Knie gezwungen haben, und es war das Klima, das ihnen dabei zu Hilfe gekommen ist. Im frühen sechsten Jahrhundert gab es nämlich eine Serie von Vulkanausbrüchen, in deren Folge die Sommertemperatur in Europa um mehr als zwei Grad Celsius sank, weil offenbar die Sonne achtzehn Monate lang die Staub- und Wolkendecke nicht durchdringen konnte. In Geschichtsbüchern ist manchmal von der spätantiken kleinen Eiszeit die Rede, ohne dass hinzugefügt wird, dass damit genau die Durchschnittstemperaturen entlang der landwirtschaftlich genutzten Küsten des römischen Reiches herrschten, die dem Pestbakterium besonders zuträglich sind und dem Zyklus seiner Vermehrung und Verbreitung optimale Bedingungen geschaffen haben.
Als die Menschen ohne Unterlass starben, meldete sich verstärkt der christliche Glaube an ein frühes Ende zurück, und man meinte und verkündete in eschatologischer Gewissheit, dass die letzte Stunde der Menschheit geschlagen habe. In säkularen Zeiten hat diese christliche Vorstellung an Kraft verloren, was aber nicht zugleich bedeutet, dass auch die Bedrohung durch die Mikroben an Kraft verloren hat. Im Gegenteil! Durch den immensen Anstieg der Weltbevölkerung und dank der immer dichter zusammengedrängt in Großstädten mit wachsenden Slums hausenden Menschen haben sich die Ausbreitungsmöglichkeiten der Viren und Bakterien nur vermehrt, und vielleicht sollte man unter der derzeit als Anthropozän bezeichneten Epoche der Erdgeschichte den Abschnitt verstehen, in der die Regeln für das Zusammenspiel von Mensch und Mikroben neu formuliert werden müssen. Sowohl die einzelnen Mitglieder der Spezies Homo sapiens selbst als auch der von ihnen bewohnte Planet steckt voller Kleinstlebewesen, die alle um ihr Dasein ringen und ihre Existenz verteidigen. Gerade weil Menschen in der Mitte zwischen einem Mikro- und einem Makrokosmos stecken, lässt sich ihre Geschichte nicht mehr von der Entwicklung der Natur trennen. Die Welt ist ein Ganzes, aus dem nichts und niemand heraustreten kann. Sie wird auch dann bleiben, wenn sich ein Teil von ihr ablöst und verschwindet. Hoffentlich kann man die dazugehörige Geschichte noch jemandem erzählen.
Übrigens – die Geschichte der Menschheit ist bekanntlich nicht mit dem Untergang des römischen Reiches zu ihrem Ende gekommen. Aus den Ruinen ist vielmehr neues Leben erblüht, und das Neue betrifft vor allem die Religion. Als die Christen des Imperiums ihre Aufmerksamkeit auf das nahe geglaubte und erwartete Ende richteten, machte sich nämlich auf der arabischen Halbinsel der künftige Prophet Mohammed auf, um den Menschen den Koran zu bringen, in dem der eine Gott auch vor der letzten Stunde gewarnt hat. Allerdings erlaubte er seinen Anhängern, seine Offenbarung zuvor noch mit dem Schwert zu verbreiten. So ist es geschehen.
Harper, Kyle: Fatum. Das Klima und der Untergang des Römischen Reiches. München: C. H. Beck 2020.
Einfluss zu haben bedeutet nicht Kontrolle zu haben.
Auf klimatische und mikrobische Einflüsse können wir nur reagieren. Niemand hat einen vollständigen Überblick darüber, was die Konsequenz aus welcher Handlung ist, schon gar nicht bevor irgendetwas geschehen ist.
Die Welt ist ein großes Ganzes, alles ist miteinander verknüpft. Was können wir also aus unserem Einfluss gewinnen, wenn wir die Verknüpfungen nicht vollendet betrachten können?
Aktuell wird die Klimakrise hauptsächlich mit Finanzmitteln „bekämpft“. Schulden der Natur gegenüber sollen ausgeglichen werden – damit man neue Schulden auf sich nehmen kann.
Selbst wenn sich alle Nationen einig werden, jedwede Belastung der Umwelt umgehend zu stoppen, so würden hunderte Faktoren und Konsequenzen erst danach offenbar. Wir wären dann dem einen Problem (vielleicht) Herr geworden, hätten dafür aber ganz neue und gleichfalls grundlegende Probleme.
Je länger ich darüber nachdenke, desto überzeugter bin ich davon, dass der Begriff „Anthropozän“ gestrichen werden sollte. Worauf haben wir überhaupt Einfluss?