… des einzelnen nur eine: das ist er selbst. Und keiner will vom andern recht glauben, daß auch der ein Schicksal habe, mit Innenleben, Bandwurm, Liebe und dem ganzen Komfort. Na ja, er hat es, aber so schön wie meins …«
Kurt Tucholsky
Tucholsky, Kurt: Schnipsel. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1980. S. 21.
Die Einsicht: „[…] Naja, er hat es […]“ ist doch schon mal ein guter Anfang, vielleicht sogar die Basis für Empathie mit den Mitmenschen, einer wichtigen Grundlage für den toleranten Umgang miteinander.
Und nähme man tatsächlich an, dass das eigene Schicksal das schönste sei, wäre das doch wunderbar: Kein neidisches Schielen auf den möglicherweise grüneren Rasen des Nachbarn, sondern, um bei dem Bild zu bleiben, entspanntes Picknicken auf der eigenen sattgrünen Wiese.
Sich selbst als Hauptperson des eigenen Lebens zu betiteln, ist wohl nicht unzutreffend, wo es doch unmöglich ist, die eigene „Bühne“ auch nur für eine Kaffeepause zu verlassen. Nimmt man den „Einblick in ein Innenleben“ zum Maßstab, würde man Tucholsky unweigerlich zustimmen, für sich selbst und den eigenen Bandwurm noch am meisten Empathie aufzubringen. (Wie schön, dass wir auch im „Du“ immer ein wenig das „Ich“ erkennen.) Ohne „Nebenfiguren“ auf unseren Bühnen bliebe von dem Selbst vermutlich unvorstellbar wenig übrig. Mit anderen „Nebenfiguren“ wäre das Selbst im Zweifel ein erheblich anderes. Das bestreitet sicherlich nicht Tucholskys Sicht des Selbst als Hauptperson, verschiebt womöglich aber den Blickwinkel: Gibt es in meinem Leben weitere Hauptpersonen?
Diesen Gedanken finde ich sehr interessant.
Führt man den Gedanken von der eigenen „Bühne des Lebens“ weiter, so tauchen zwar viele Nebenpersonen auf, jedoch sehen wir nur die Nebenpersonen häufig wieder, die sich uns als Hauptperson weiterentwickeln und wohlfühlen lassen. Im wahren Leben würde man solche u.a. auch als Familie oder Freunde bezeichnen. Nun greife ich gerne Frau Lills Anmerkung: „Wie schön, dass wir auch im ‚Du‘ immer ein wenig das ‚Ich’ erkennen“, auf; denn wir umgeben uns gerne mit Spiegeln unserer Seele und nicht selten trägt jede der Nebenpersonen eine oder mehrere Charaktereigenschaften oder Arten in sich, die wir selbst vertreten, schätzen oder geringstenfalls bewundern. So möchte ich Tucholskys Sicht und Frau Lills Schlussfrage noch ergänzen um zwei weitere Fragen: Wird eine Hauptperson nicht erst durch Nebenpersonen zur eigentlichen Hauptperson? Kann es überhaupt eine Hierachie von Haupt- und Nebenpersonen geben, wenn auf der „Bühne“ nur ein Individuum zu finden ist?
„… aber so schön wie meins …“ oder auch: aber so schrecklich wie meins. Es erweckt oftmals den Anschein, als würde sich das heutige Individuum in der Gesellschaft vielmehr damit profilieren, wie viel härter er oder sie es als all die Anderen hätte. Unverstanden von der Masse sucht es nach Aufmerksamkeit und Erlösung der eigenen Qual. Es wird lamentiert über die eigene Einzigartigkeit und dieses harte Schicksal, oder es wird sich darauf konzentriert, wie sich die Schicksale anderer ereignen. Welche Wege gehen die anderen, und im unendlichen Egoismus stellt sich dann vielleicht die Frage, welche Rolle der Einzelne im Leben eines Anderen einnimmt, wie einer vom Anderen lernen kann und (hoffentlich) wie sie letztendlich auch aufeinander achten könnten, um weniger egoistisch zu sein.