… nicht einmal die Gewissheit der Ungewissheit. Und so glaube ich, dass alles Denken … nun ja, Mutmaßung ist.«
Jorge Luis Borges
Borges, Jorge Luis: Lesen ist Denken mit fremdem Gehirn. Gespräche mit Osvaldo Ferrari. Zürich: Kampa Verlag, 2018. S. 227.
In der Ausgabe der Neuen Zürcher Zeitung von heute (27.04.) findet sich ein Artikel mit der Schlagzeile: „Wenn Experten streiten, weckt das Zweifel“. Er endet mit einem Fazit, das wir gut in den Stand unserer Debatte einbauen können:
„Dass Forscher sich streiten und Studien widerrufen werden, gehört zur Wissenschaft. Es ist sogar ein Symptom dafür, dass die internen Verfahren der Qualitätssicherung funktionieren. Aber selbst wenn sich ein Konsens eingestellt hat, gilt: Wissenschaftliche Ergebnisse sind immer mit einem Vorbehalt versehen. Absolute Gewissheit lässt sich selbst mit den besten Methoden und Verfahren nicht erzielen. Das ist nichts Neues – aber gerade in Zeiten der Pandemie sollten wir uns diese Tatsache bewusst vor Augen führen. Das bewahrt uns vor überrissenen Erwartungen an die Wissenschaft.“
Dabei würde ich als zentrale These folgendes festhalten und der Eintragung ins Langzeitgedächtnis empfehlen: „Absolute Gewissheit lässt sich selbst mit den besten Methoden und Verfahren nicht erzielen.“
Volker Friedrich schrieb: Im Kern eint diese Denktradition die Vermutung, dass unser Wissen und unsere Wahrheiten Vermutung, Mutmaßung bleiben, dass wir also nie sicher sein können, im Besitz einer bleibenden oder absoluten Wahrheit zu sein.
Lieber Volker Friedrich, dear others,
hier kann ich zustimmen, solange man „Wahrheit“ versteht als die „Übereinstimmung von Aussage und Sachverhalt“ (z.B. die Aussage von E.P. Fischer ist wahr, dass Viren weder tot noch lebendig sind).
Wenn man aber Wahrheit
a) als „innere Stimmigkeit“ (Widerspruchslosigkeit einer Theorie)
b) als „intersubjektive Anerkennung“ der Scientific Community oder
c) als „Art von Irrtum, ohne die ein Leben nicht leben kann“ versteht (Nietzsche)
müssten wir prüfen, ob wir damit zu denselben oder zu anderen Ergebnissen kommen.
Konsequenz: die Thesen von Borges, Sokrates und Ringelnatz bekommen einen anderen Gehalt, je nachdem welches Konzept der Wahrheit vorausgesetzt wird. Ich favorisiere dabei den pragmatischen Wahrheitsbegriff von Nietzsche, zu dem er wörtlich sagt: „Wahrheit ist die Art von Irrtum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte. Der Wert für das Leben entscheidet zuletzt.“ (Nachlass April 1885)
Und das träfe dann auch für Ihre obige These zu, oder nicht? Wir stimmen ihr zu, weil wir damit als Philosophierende am besten leben (und denken) können. Aber Ingenieure könnten damit nicht leben. Ihre Bauwerke dürfen sich nicht auf Mutmaßungen gründen, sondern ihre „(Stand-)Sicherheit“ muss nachgewiesen werden und garantiert werden. – Was nun?
Herzliche Grüße, Michael Wörz
Danke, lieber Michael Wörz, für den anregenden und kritischen Beitrag. Ein großes Fass machen wir da auf und ich antworte viel zu lang:
Keine Frage, die nach der Wahrheit ist ein zentraler Baustein einer (umfassenderen) philosophischen Theorie. Die Traditionslinie, die ich sehr verkürzt angedeutet habe, bemüht nicht nur den Wahrheitsbegriff, den wir z. B. bei Alfred Tarski auf den Punkt gebracht finden, nämlich dass Wahrheit die Übereinstimmung der Tatsachen mit der Aussage eines Satzes ist. Cusanus vertritt definitiv einen anderen Wahrheitsbegriff als Popper, trotzdem eint sie, in einer Tradition der Kritik zu stehen. Zu der Tradition würde ich im übrigen auch Nietzsche zählen, den ich als eine Art »aufgeklärten Radikalaufklärer« lese, der – mit den Mitteln der Vernunft – die Grenzen unserer Vernunft auslotet (und in einer rhetorischen und sophistischen Tradition der Kritik steht).
Aber das ist eine Lesart, insofern eine hermeneutische Frage. Das gilt auch für die Interpretation der Zitate von Borges, Sokrates und Ringelnatz: Je nach Lesart kommen wir zu unterschiedlichen Deutungen. Die »Lesart« wäre abhängig von den getroffenen »Voreinstellungen« – je nach dem, wie ich meine Brille einfärbe, nimmt die Welt eine bestimmte Farbe an. Schaue ich durch die Brille »Welcher Wahrheitsbegriff wird benutzt« komme ich zu einer bestimmten Einfärbung der Welt und somit der Deutung im Detail. Ich könnte auch durch die Brille schauen »Steht ein Denker in der Traditionslinie der Kritik, der Mutmaßung, des konjekturalen Denkens«? Dann bekomme ich darauf eine Antwort, nicht aber zwingend auch eine Antwort auf die Frage nach der Wahrheit.
Ich bin kein Ingenieur, kann mir aber gut vorstellen, dass methodische (Selbst-)Kritik seiner Arbeit zuträglich ist, schließlich arbeitet er doch mit »Entwürfen«: Stimmen die darin gesetzten Annahmen? Auch in diesem Fall? Halten sie einer kritischen Prüfung stand? Gibt es andere probate Lösungswege? Derlei kritische Fragen lassen sich auf der Basis des Wahrheitsbegriffes der »Ingenieur-Wahrheit« (Tarski und Co) gut stellen. Aber dieselben kritischen Fragen können wir bei der Überprüfung der »inneren Stimmigkeit«, der Widerspruchslosigkeit einer Theorie stellen. Und wir können sie stellen, wenn wir uns in einer »Scientific (oder einer anderen) Community« über eine »intersubjektive Anerkennung« einer Theorie oder Vermutung verständigen oder darüber, ob wir, wie bei Nietzsche, eine Art von Irrtum akzeptieren, ohne die ein Leben nicht leben kann (und den Nietzsche wohl auch nicht als »bleibende« oder »absolute« Wahrheit interpretiert hätte).
Wir diskutieren nun eine äußerst komplexe Frage, und mir geht es darin um eine kleine, aber bedeutsame Differenz: Kritik als Methode, die in einer philosophischen Traditionslinie besonders hochgehalten und als Wert vertreten wird, ist nicht direkt abhängig von dem Wahrheitsbegriff, den wir bevorzugen, sie kann (in ihrer großen Vielfalt) auch dann angewandt werden, wenn unterschiedliche Wahrheitsbegriffe im Raum stehen. Womöglich ist eben auch die Annahme pragmatisch, dass wir uns immer irren können und nie sicher sein können, im Besitz einer »bleibenden« oder »absoluten« Wahrheit zu sein.
Und bevor er noch weiter ausholt und irrt und dieses Format sprengt, dankt nochmals für die anregende Kritik –
Volker Friedrich
Dieses Zitat von Borges ist aus meiner Sicht höchster Ausdruck der Skepsis, der sogar die Skepsis des Sokrates – „Ich weiß, das ich nichts weiß“ – überbietet. Er weiß ja immerhin, dass er nichts weiß – und eben deshalb Fragen stellt. Wenn man das Thema „Skepsis“ vertiefen will, könnte man diesen beiden Zitaten noch ein Drittes an die Seite stellen: „Sicher ist, dass nichts sicher ist. Selbst das nicht.“ (Joachim Ringelnatz) – Hm, ist das jetzt ein sprachartistischer Taschenspielertrick eines Humoristen oder ist er unserem Erkennen der Welt und uns selbst angemessen? Wer von den dreien (Borges, Sokrates oder Ringelnatz) trifft es am ehesten?
Welcher der drei Autoren den Pokal bei der Skeptiker-Olympiade bekäme, hinge wohl von den Kampfrichtern ab, es dürfte jedenfalls ein knappes Rennen werden. Borges nimmt den Begriff der Mutmaßung (lat. coniectura) auf, steht so sprachlich direkt in der Tradition des »konjekturalen Denkens«, von Sokrates über Nikolaus von Cues (Cusanus) bis hin zu Karl Popper, eine kritische Tradition, die mich in Philosophie und Rhetorik besonders anspricht. Im Kern eint diese Denktradition die Vermutung, dass unser Wissen und unsere Wahrheiten Vermutung, Mutmaßung bleiben, dass wir also nie sicher sein können, im Besitz einer bleibenden oder absoluten Wahrheit zu sein. Der Verzicht darauf, absolute Wahrheiten zu behaupten, entlastet uns und ist eine Grundlage für Demokratie.