In einer Pandemie können Mediziner in Entscheidungssituationen kommen, die an die Konflikte klassischer Tragödien erinnern. Der Medizinethiker und Chefarzt Prof. Dr. Dr. Thomas Bschleipfer hat bereits im März gemeinsam mit seinen Kollegen des Klinischen Ethikkomitees am Klinikum Weiden ein Papier erarbeitet, das aus philosophisch-ethischer Basis Handlungsempfehlungen zusammenträgt. Diese Empfehlungen kamen den offiziellen Richtlinien zuvor, eine Veröffentlichung wurde deshalb seinerzeit zurückgestellt. Thomas Bschleipfer promovierte in Philosophie und verfasste die erste Ethik einer deutschen Krisen- und Einsatzmedizin.
Sein Papier stellen wir im Folgenden zur Diskussion. Es enthält zu Beginn die Zusammenfassungen der Handlungsempfehlungen. Daraufhin werden im Rahmen von Hintergrundinformationen allgemeine ärztliche und humanitäre Prinzipien angeführt, die für medizinethische Diskurse leitend sind. Hierauf wird eine Begründung der zugrundeliegenden, medizinethischen Überlegungen im Detail dargelegt. Abschließend wird ein »Algorithmus« entwickelt, also Regeln aufgestellt, mit deren Hilfe klinische Entscheidungsträger in konkreten Situationen zur Entscheidungsfindung gelangen können.
1 Zusammenfassung der Handlungsempfehlungen
• Ressourcen sind nach besten Möglichkeiten zu mehren: Hierzu gehört die maximale Zurverfügungstellung von Beatmungsplätzen, aber auch von Personal. Unerfahrenes Personal muss mit erfahrenem Personal durchmischt werden, um die Effektivität zu steigern. Ein »Anlernen« muss situationsbedingt vor Ort direkt bei der Tätigkeit durch das erfahrene Personal erfolgen.
• Alle Ressourcen und Kapazitäten sind sofort zur Verfügung zu stellen, ein Vorhalten für bestimmte Patienten ist nicht zu rechtfertigen.
• Alle (akut oder in naher Zukunft) lebenskritischen Patienten müssen gleich behandelt werden. Hierzu gehört neben einem Corona-Patienten auch beispielsweise ein Patient mit Sepsis, einem beatmungspflichtigen Herzinfarkt oder mit einer lebensbedrohlichen Tumorerkrankung. Eine Bevorzugung von Corona-Patienten ist nicht zu rechtfertigen und würde diese Patienten systematisch besserstellen. Ebenfalls ist die systematische Benachteiligung von Patienten mit Erkrankungen, die die Prognose nicht bestimmen (z. B. dementielle Erkrankung etc.) ethisch nicht zu rechtfertigen.
• Lebenserhaltung vor Wirtschaftlichkeit.
• Im Sinne eines Solidaritätsprinzip muss es geboten sein, weniger dringlich zu behandelnde Patienten mit lebenskritischen Situationen (z. B. Tumorpatienten) in Regionen Deutschlands zu behandeln oder zu verlegen, die zum jeweiligen Zeitpunkt deutlich weniger der Corona-Krise ausgesetzt sind als vor Ort.
• Gewährleistung der Autonomie von Patienten auch in Krisensituationen: Jeder Patient muss (sofern umsetzbar) möglichst schon bei der Aufnahme nach seinem Patientenwillen hinsichtlich Therapie und Therapielimitation gefragt werden.
• Auch in Krisensituationen, in denen nicht für alle Menschen ein Überleben garantiert werden kann, muss ein Sterben in Würde als Minimalkonsens gewährleistet werden. Eine Verabschiedung für Angehörige ist (sofern machbar und medizinisch vertretbar) anzustreben.
• Nicht-wertende Prinzipien wie »first come, first served« haben vor wertenden Prinzipien (siehe Hintergrundinformation Vorrang.
• Wertende Prinzipien: alleiniges Entscheidungskriterium ist die Prognose eines Patienten, welche in engem Zusammenhang mit der Effektivität einer Ressource steht.
Alle weiteren Kriterien sind ethisch nicht zu rechtfertigen (so auch »social worth«-Kriterien).
Explizit ist eine Priorisierung von Patienten z. B. auf der Grundlage des Alters in keiner Weise zu rechtfertigen.
Zur Beurteilung der Prognose müssen alle Informationen, soweit als möglich, eingeholt und berücksichtigt werden (»all things considered«). Eine Entscheidung aus dem »Bauchgefühl« eines erfahrenen Arztes heraus ist ethisch korrekt, die Entscheidung muss und kann nicht immer auf ausschließlich objektiven Daten beruhen, muss aber nach bestem Wissen und Gewissen erfolgen.
• In Krisensituationen ist es notwendig, Entscheidungen zu treffen, die bisweilen auch falsch sein können. Die schlechteste Alternative ist es, keine Entscheidung zu treffen.
• Entscheidungen müssen so früh wie möglich gestellt werden, nach besten Möglichkeiten transparent sein, dokumentiert werden und regelmäßig reevaluiert werden. Schwierige Entscheidungen sollten kollegial, gegebenenfalls auch mit den Angehörigen getroffen werden.
• Die Prognose eines Patienten ist wiederkehrend zu beurteilen.
• Eine Beendigung der Intensivtherapie ist gegeben, wenn absehbar ein autonomes Leben nicht wieder erreichbar ist. Dies ist im Einzelfall zu überdenken, wenn a) der Aufwand »unverhältnismäßig« hoch ist oder wenn b) für einen Patienten zwar intensivmedizinisch Stabilität erreicht werden konnte, die Intensivtherapie jedoch für unbestimmte Zeit fortgeführt werden müsste.
• Vor-Denken ist besser als in der kritischen Entscheidungssituation in aller Komplexität Nach-Denken zu müssen. Wir müssen uns mit den ethischen Fragestellungen frühzeitig auseinandersetzen.
2 Hintergrundinformationen
Die Pandemie mit COVID-19 fordert von allen Menschen derzeit vieles ab, insbesondere jedoch von medizinischem Personal. Die Konfrontation mit Situationen ist denkbar bzw. in anderen Ländern bereits Realität, in denen eine Zuteilung lebenswichtiger jedoch begrenzter Ressourcen vorgenommen werden muss (Allokationsproblematik). Leidvolle, aber unvermeidliche Entscheidungen müssen getroffen werden, wem wann welche Ressource zugeteilt werden kann und soll. Obige Handlungsempfehlungen sollen eine Hilfestellung aber auch eine gewisse moralische Sicherheit für kritische Entscheidungen bieten. Derartige Empfehlungen lagen zum Zeitpunkt der Abfassung (22.3.2020) weder vom deutschen Ethikrat noch von der Bundesregierung vor und waren somit die ersten für das deutsche Gesundheitssystem.
2.1 Allgemeine ärztliche und humanitäre Prinzipien
Unserem ärztlichen Handeln liegen die klassischen ärztlichen, sogenannten »angloamerikanischen« Prinzipien zugrunde. Dieses »bioethisches Quartett« besteht aus den Prinzipien Autonomie, Gerechtigkeit, Nutzen – Heilen – Schmerzlindern (beneficere) und Nicht-Schaden (non-maleficere). Ergänzung erfahren diese vier Grundsätze durch das Prinzip der Würde und das Prinzip der Tugend. Allein auf der Grundlage dieser Prinzipien kann jedoch noch keine Zuteilung geregelt sein. Hierzu sind Allokationsprinzipien notwendig, die aufgeteilt werden können in Prinzipien ohne und mit Wertung der Bedürftigkeit.
2.2. Allokationsprinzipien
Allokationsprinzipien ohne Wertung der Bedürftigkeit regeln vornehmlich den Zugang zu Ressourcen. Hierzu gehören das sogenannte Basisprinzip krisenmedizinischer Allokation, das Prinzip der natürlichen Lotterie oder Schicksalshaftigkeit, die Prinzipien »first come, first served« oder »last in, first out«, das Prinzip der gleichmäßigen Ressourcenverteilung, das Vertragsprinzip, das Prinzip der Entscheidung aus Mitleid und Mitgefühl (ergänzt um »Bauchgefühl«) sowie das das Risiko-Nutzen-Prinzip (»risk-benefit-ratio«).
Allokationsprinzipien mit Wertung der Bedürftigkeit regeln vornehmlich die Verteilung (zumeist teilbarer) Ressourcen selbst. Bewertet wird nach Gerechtigkeitsprinzipien (z. B. iustitia distributiva), nach dem Prinzip der Nutzenmaximierung (wie es z. B. der Utilitarismus mit seinem »best for most« hält). Abwandlungen und Spezifizierungen davon wäre eine Bewertung nach einer Herrenmoral (Bevorzugung der Stärkeren), einer Sklavenmoral (»Frauen und Kinder zuerst«) oder eine systematische Bevorteilung bestimmter Personenkreise (z. B. Personen mit »Nützlichkeit für alle«, wie Ärzte und Pflegekräfte etc.). Ergänzungen finden diese Wertungen durch das Prinzip der Effektivität, das Prinzip der Praktikabilität, das Solidaritätsprinzip in Konkurrenz zum Prinzip der Notstandstheorie (»Not kennt kein Gebot«).
2.2.1 Allokationsprinzipien ohne Wertung
Betrachtet man zunächst Allokationsprinzipien ohne Wertung der Bedürftigkeit, die vornehmlich den Zugang zu den Ressourcen regeln, so haben für die Corona-Krise folgende Punkte Relevanz:
• Prinzip der Schicksalhaftigkeit
Bei mehreren, wartenden Patienten mag das Prinzip der Schicksalhaftigkeit greifen, sodass möglicherweise bedingt durch die Wartezeit die Prognose entscheidend verändert wird oder aber der Tod eintritt. Bis dahin ist selbstverständlich Best Supportive Care (BSC) angezeigt.
• Prinzip »first come, first served«
Das Prinzip »first come, first served« hat Vorrang bei sukzessive eintreffenden Patienten.
• Vertragsprinzip
Das Vertragsprinzip regelt, dass wir verpflichtet sind, als Institution Hilfeleistung anzubieten. Jegliche Ressource muss zur Verfügung gestellt werden. Ex-ante-Konsensus ist anzunehmen, dass wir unser Gesundheitssystem auch für Menschen finanziert haben, die bislang keinen Beitrag hierzu geleistet haben.
• Prinzip der Entscheidung aus Mitleid und Mitgefühl (ergänzt: Bauchgefühl)
Das Prinzip der Entscheidung aus »Bauchgefühl« mag zwar den Zugang zur Ressource primär regeln, basiert jedoch bereits auf einer Wertung der Prognose, welche von einem erfahrenen Arzt/Intensivmediziner getroffen wird. Hierdurch werden konkurrierende Patienten bereits indirekt hinsichtlich der Erfolgsaussicht der Behandlung beurteilt.
• Risiko-Nutzen-Prinzip (»risk-benefit-ratio«)
Das Risiko-Nutzen-Prinzip (»risk-benefit-ratio«) betrifft den Ausschluss von Patienten, welche ein über die Maßen hohes Risiko für die Hilfeleistenden bedeuten würden. Hilfeleistende sind nicht verpflichtet, ein übergebührendes Maß an Risiko (z. B. für eigenes Leib und Leben) einzugehen, um Patienten zu helfen.
2.2.2 Allokationsprinzipien mit Wertung
Die Verteilung der Mittel selbst (d. h. über den reinen Zugang hinaus) basiert (zumeist) auf Allokationsprinzipien mit Wertung. Diese Bewertungsverfahren bergen jedoch immer eine immanente Ungerechtigkeit (z. B. durch Unvollständigkeit des Wissens) und häufig auch eine mangelnde Praktikabilität. Im Fall der Corona-Krise scheint ein »Schrumpfutlilitarismus« (Bschleipfer, Kornwachs 2010) mit humanitärem Sockel (non-relationaler Bereich) und Surplus-Bereich (relationaler Bereich) am zutreffendsten zu sein. Die Schwierigkeit in der aktuellen Krisensituation ist, dass auch der humanitäre Sockel, welcher Leben und Würde beinhaltet, nicht mehr gesichert werden kann. Insofern bleibt angezeigt, dass, wenn das Leben eines Menschen nicht mehr gesichert werden kann, zumindest dessen Würde nach besten Möglichkeiten aufrechterhalten werden muss. Ein Utilitarismus im Sinne der rigorosen Nutzenmaximierung lässt sich auch in dieser Krisensituation nicht halten. Dieser würde auch einen Schaden, eine systematische Benachteiligung (maleficere) für einige wenige zur Steigerung des Gesamtnutzens in Kauf nehmen. Die Krise selbst betrifft jedoch weder das Überleben der Menschheit als Ganzes noch einer gesamten Gesellschaft, sondern weiterhin das Leben von Einzelpersonen. Insofern muss ein Kompromiss zwischen Individualethik und Sozialethik gefunden werden. Eine rigorose Nutzenmaximierung ist somit als Prinzip in der aktuellen Situation nicht tragbar.
Bei konkurrierenden Patienten muss gewertet werden. Aus ethischer aber auch praktikabler Sicht scheint die Prognose eines Patienten das einzig zu berücksichtigende Kriterium für eine Entscheidung zu sein. Die »Prognose« als Kriterium ist in der philosophischen Literatur nicht unumstritten. Grund ist, dass die Prognose im Einzelfall häufig nicht vorhersagbar ist, sie meist nur auf statistischen Daten beruht und oftmals erst retrospektiv beurteilbar ist. Ferner ist die Definition der »Prognose« nicht eindeutig geklärt. Dennoch muss an diesem Kriterium festgehalten werden, da keines der anderen Kriterien besser zu sein scheint. Es steht außer Frage, dass wir es mit einer handlungsimmanenten und zu akzeptierenden Ungerechtigkeit zu tun haben. Alternativen, wie beispielsweise das Alter als Kriterium, bestechen zwar durch Einfachheit und hohe Praktikabilität, werden jedoch ein deutliches Mehr an Ungerechtigkeit mit sich bringen. Das Alter gilt als (schlechter) Surrogatparameter für Vorerkrankungen und damit für die Prognose des Patienten. Nutzt man das Alter im Hinblick auf die noch bevorstehende Lebenszeit (zumindest statistisch), so begibt man sich philosophisch in eine schwierige Diskussion um zusätzliche Lebenszeit vs. zusätzliche Menschenleben. Dies, insbesondere in einer Katastrophe, in der immer noch das Individuum und nicht eine Gesamtgesellschaft bedroht ist. Das Alter mag lediglich eine Rolle dahingehend spielen, wenn hierdurch die Prognose oder aber die Effektivität von Medikamenten entscheidend beeinflusst wird.
Die Effektivität der Ressource als Kriterium steht in engem Zusammenhang mit der Prognose eines Patienten. Bei »gleichgewerteten« Patienten muss die Ressource bei jenem eingesetzt werden, bei dem sie am effektivsten ist. Über das Problem der kleinsten Differenzen soll und kann an dieser Stelle nicht diskutiert werden.
Ergänzend seien folgende Punkte angemerkt:
• Problem der Herrenmoral (Bevorzugung der Stärkeren) und der Sklavenmoral (»Frauen und Kinder zuerst«)
Ziel ist es, maximalen Nutzen sicher zu stellen oder Ungleichheiten zu nivellieren. Eine Generalisierung würde jedoch den Verzicht auf individuelle Evaluation bedeuten. Setzt man ein »best prognosis first«, so verbirgt sich tatsächlich im vorgeschlagenen Vorgehen eine gewisse Herrenmoral, welche nicht zum Ziel hat, Ungleichheiten auszugleichen, sondern tatsächlich einem oben formulierten „Schrumpfutilitarismus“ genüge zu tun.
• Problem der Bevorzugung verschiedener Menschengruppen
Die generelle Bevorzugung einzelner Menschengruppen würde zu einer (bereits präkatastrophal manipulierbaren) Zweiklassengesellschaft führen, die ethisch nicht zu rechtfertigen ist.
Unterschiedliche außermedizinische Kriterien eines Menschen (aus Vergangenheit, Gegenwart und/oder (vermuteter) Zukunft) können hier aufgeführt werden (s. Beschleipfer 2007). Beispielhaft seien Ausbildung, Spenden, Straftaten, Familienstand, Lebensziele bzw. zu erwartende Handlungen zum Nutzen oder Schaden der Gesellschaft aufgeführt. Besondere Beachtung sollte der »social worth« eines Menschen finden, der immer wieder in der Diskussion steht. Aus unterschiedlichsten Gründen, die hier in Gänze nicht aufgeführt werden können, dürfen außermedizinische Kriterien (auch ein »social worth«) für eine Entscheidung keine Berücksichtigung finden. Zur Frage steht jedoch, ob z. B. Ärzte oder Hilfspersonal bevorzugt behandelt werden dürfen. Zu rechtfertigen wäre dies (nur), wenn das entsprechende Personal noch während der aktuellen Krise wiedereinsetzbar wäre, was nach einer intensivmedizinischen Behandlung in den wenigsten Fällen zutreffen dürfte. Die Bevorzugung von medizinischem Personal lässt sich jedoch anderweitig begründen, nämlich durch eine erweiterte Akteur-Relativität. Es ist für Helfende durchaus erlaubt, nahestehende Personen zu bevorteilen. Hierunter fallen sicherlich in erster Linie Familienangehörige, aber auch enge Mitarbeiter dürfen hierzu gezählt werden.
5 Klinischer Algorithmus
Diese Regeln deklinieren jeweils bis zu drei Faktoren durch, nämlich »Situation« [S], »Patient(en) und Prognose« [P] sowie »Entscheidung« [E], und fügen eine erläuternde Bemerkung [B] hinzu.
1. Sind Beatmungsplätze vorhanden [S], werden Plätze sukzessive vergeben [E], denn alle Ressourcen müssen zur Verfügung gestellt werden, ein Vorhalten für den Fall xy ist nicht gerechtfertigt [B].
2. Sind wenige Beatmungsplätze vorhanden [S], so gilt »first come, first served« [E], die Entscheidung wird ungeachtet der Prognose gefällt [B].
3. Ist nur ein Beatmungsplatz vorhanden, um den mehrere Patienten konkurrieren (Gleichzeitigkeit)[S], dürfen bestehende Behandlungen nicht unterbrochen werden, den Vorrang hat der in Behandlung befindliche Patient [B].
4. Wird die Prognose gestellt, dass ohne Beatmung eine Überlebenschance gegeben ist [P], wird der Behandlungsplatz nicht vergeben [E].
5. Wird die Prognose gestellt, dass ohne Beatmung keine Überlebenschance gegeben ist [P], wird der Behandlungsplatz vergeben [E].
6. Wird die Prognose gestellt, dass auch mit Beatmung eine Überlebenschance nicht gegeben ist [S], wird der Behandlungsplatz nicht vergeben [E].
7. Ist ein Patient unter Beatmung [S] und es wird die Prognose gestellt, dass unter einer für begrenzte Zeit notwendigen Beatmung autonomes Leben (absehbar) wieder erreichbar ist [P], wird die Beatmung fortgeführt [E].
8. Ist ein Patient unter Beatmung [S] und es wird die Prognose gestellt, dass die Beatmung auf unbestimmte Zeit notwendig und/oder eine Autonomie (absehbar) nicht mehr erreichbar ist [P], wird die Beatmung vorzeitig beendet [E]. Der Beatmungsplatz wird erneut vergeben [B].
Für die Punkte 4 bis 7 gilt: Regelmäßige Reevaluationen und erneute, gegebenenfalls differente Entscheidungen bei Änderung der Prognose sind angezeigt [B].
Literatur
• Bschleipfer, Thomas: Ethik einer Krisenmedizin – kritische Analyse bereichsspezifischer Dilemmata: Ressourcenallokation, Instrumentalisierung und Doppelloyalität. Cottbus 2007. https://opus4.kobv.de/opus4-btu/frontdoor/index/index/docId/346.
• Bschleipfer, Thomas; Kornwachs, Klaus: Militärische Einsatzmedizin – ethische Dilemmata. Deutsches Ärzteblatt 107: A-1448-1450, 2010.
Lieber Herr Bschleipfer,
vielen Dank für diesen Einblick und die Erläuterung in Ihre Handlungsempfehlung. Ich finde es stark zu wissen, dass bereits so ein Papier im März 2020 entstanden ist. Zu einer Zeit, in der alles chaotisch und hektisch war. Es war alles neu und man wusste noch nicht genau, wie man sich darauf vorbereiten soll. Dennoch ist wichtig, zu solch einer Zeit einen kühlen Kopf zu bewahren, sodass schnell gehandelt werden kann um schlimmeres zu verändern. Solch eine Krise beweist wieder einmal, dass schnelles Handeln wichtig ist.
Mediziner:innen haben es nie leicht, egal ob es eine einzelne Person betrifft oder wie in diesem Falle die ganze Welt. Entscheidungen müssen schnell getroffen werden, da jede Sekunde zählt. Unter erschwerten Bedingungen Entscheidungen zu treffen ist dann noch eine größere Herausforderung. Deshalb braucht es solche ethischen Handlungsempfehlungen, die man zurate ziehen kann. Selbst für mich sind diese Empfehlungen vollkommen nachzuvollziehen.
Dennoch finde ich, braucht es in medizinischer Hinsicht noch mehr Absicherungen für die Mediziner:innen. Die Bevölkerung sollte noch besser aufgeklärt werden, was sie selbst schon im Voraus tun können. Hier finde ich den Punkt „Gewährleistung der Autonomie von Patienten auch in Krisensituationen: Jeder Patient muss (sofern umsetzbar) möglichst schon bei der Aufnahme nach seinem Patientenwillen hinsichtlich Therapie und Therapielimitation gefragt werden“ sehr wichtig. Bei der Aufnahme des Patienten sollte, sofern er noch ansprechbar ist, geklärt werden, wie der Verlauf der Behandlung aussehen könnte. Sollte der Patient selbst nicht mehr befragt werden können, sollte das nähere Umfeld in Betracht gezogen werden.
Gerade die junge Generation setzt sich nicht mit Patientenverfügungen und was noch dazugehört auseinander, da wir alle denken, uns betrifft es nicht und wir haben noch Zeit. Dennoch haben wir gesehen, dass es auch die jungen Menschen treffen kann und das nicht immer nur mit einem leichten Verlauf. Wir alle sollten uns mehr Gedanken darüber machen, was und wie wir im Krankheitsfall für eine Behandlung und Therapiemöglichkeit in Betracht ziehen. Dadurch entlasten wir nicht nur die Mediziner:innen sondern auch unsere Familie, denn eine Entscheidung zu treffen bezüglich des Lebens eines anderen ist nie leicht.
Liebe Grüße
Stefanie Brünner
Sehr geehrter Herr Prof. Bschleipfer,
vielen Dank für die Erläuterung Ihrer Handlungsempfehlungen. Ein sehr interessanter Einblick auf komplexe ethische Entscheidungsfindungen in Krisen- bzw. Katastrophen-Situationen. Ich habe großen Respekt vor Medizinerinnen und Medizinern, die unter solch erschwerten Umständen rational und ethisch vertretbar handeln müssen.
Die Entscheidungen, die Ärzte und Ärztinnen in Katastrophenfällen wie der aktuellen Corona-Krise fällen müssen, wiegen schwer. Sie brauchen unbedingt eine stabile ethische Grundlage, die verständlich und nachvollziehbar ist. Sei es für Betroffene (so sie noch bei Bewusstsein sind), Angehörige, aber auch für die breite Öffentlichkeit. Und nicht zuletzt für die Ärzte selbst, da mit den getroffenen Entscheidungen gelebt werden muss.
Die Empfehlungen sind auch für einen philosophischen Laien wie mich einleuchtend. Nicht-wertenden Allokationsprinzipien (Prinzip der Schicksalhaftigkeit, Prinzip »first come, first served« etc.) überzeugen, da mir bewusst ist, dass eine Bewertung von Leben (z. B. nach statistisch erwartbarer Lebensdauer) ethisch äußerst fragwürdig ist („lebenswertes“ Leben, NS-Zeit). Zudem wäre sie auch nicht von Grundgesetz gedeckt (Artikel 3(1): Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.)
Den Punkt „Gewährleistung der Autonomie von Patienten auch in Krisensituationen: Jeder Patient muss (sofern umsetzbar) möglichst schon bei der Aufnahme nach seinem Patientenwillen hinsichtlich Therapie und Therapielimitation gefragt werden“, den Sie in der Zusammenfassung aufführen, halte ich für sehr wichtig. Da er daran erinnert, dass jede und jeder Einzelne schon vorsorglich etwas dazu beitragen kann: mit einer schriftlichen Patientenverfügung. Auch wenn es möglicherweise nicht leicht fällt, da es eine Auseinandersetzung mit dem eigenen zukünftigen Leid und dem eigenen Tod bedeutet, ist es m. E. sinnvoll, wenn mit einer Patientenverfügung vorsorglich festlegt wird, welche medizinischen Maßnahmen im Krankheitsfall durchgeführt werden sollen und welche nicht. Das könnte die Entscheidungen, die im Ernstfall getroffen werden müssen erleichtern und die Beteiligten entlasten.
Freundliche Grüße
Julia Valter
Lieber Herr Bschleipfer,
die Ärzte, die bei ihrer Arbeit „an der Front stehen“ und – meist zudem sehr kurzfristig – Entscheidungen treffen müssen, sind sicher froh und dankbar über jede pragmatische, konkrete Handreichung und Entscheidungshilfe. Mit abstrakten Abwägungen und Maximen ist ihnen wenig gedient, erst recht, wenn diese überhaupt nur ex post anwendbar sind. Insofern sind Handlungsempfehlungen wie diese überaus verdienstvoll – und der Mut, solche aufzustellen, ist zu bewundern. Dennoch bleiben nach der Lektüre einige Fragen, da Grundsätzliches noch zu klären bleibt.
Das medizinische Triage-Problem ist ein Sonderfall dessen, was in der Soziologie bzw. Sozialpsychologie als „moralisches Dilemma“ gehandelt wird. Zutreffend ist die Erinnerung an die Tragödie: Wie auch immer der „Held“ sich entscheidet, er kommt nicht ohne Schuld aus der Sache heraus. Der Unterschied zur Medizin ist freilich, dass die soziologischen „Dilemmata“ meist reine Konstruktionen sind. (In der älteren Philosophie hätte man von „Casus“ geredet.) Dennoch liefern sie auch für die medizinische Tirage aufschlussreiche Ergebnisse. Derzeit haben sie Hochkonjunktur bei der Diskussion um Algorithmen für autonom fahrende Autos. Aus diesem Kontext stammt auch – nachdem es bereits früher kleinere derartige Studien gegeben hatte – eine aktuelle große internationale Vergleichs-Studie (am MIT), „The Moral Machine experiment“: Befragt wurden 2018 ca. 70.000 Teilnehmer aus 42 Nationen. Die Teilnehmer mussten neunmal eine Entscheidung treffen; somit konnte eine große Zahl von Entscheidungen analysiert werden.
(Awad, E., Dsouza, S., Kim, R. et al. The Moral Machine experiment. Nature 563, 59–64 (1.11.2018). https://doi.org/10.1038/s41586-018-0637-6 )
Eines der bekanntesten „moralischen Dilemmata“ ist das „Trolley-„ bzw. „Gleisarbeiter-Problem“: Ein Gleisarbeiter steht an einer Weiche, an der sich ein Gleis gabelt. Ein Zug nähert sich. Wenn der Arbeiter nichts tut, fährt der Zug in jene Richtung, in der eine Gruppe Kinder über das Gleis geht. Sie würden getötet werden. Der Arbeiter könnte das verhindern, indem er die Weiche umstellt; aber in der anderen Richtung geht ein alter Mann über das Gleis, der in diesem Fall getötet würde. Was soll er tun?
Bei einem anderen wurde angenommen, dass die Bremsen eines autonomen Autors versagen. Die Befragten mussten entscheiden, ob drei ältere Menschen, die bei Rot über die Straße gehen, überfahren werden sollen, oder ob das Auto gegen eine Betonwand gelenkt werden soll. Das hätte den Tod der Insassen, darunter ein Junge, zur Folge.
In verschiedenen Variationen bzw. Abänderungen wurde solche Dilemmata in der Studie benutzt. Es zeigte sich, dass die Entscheidungen in hohem Maße kulturspezifisch bzw. von kulturellen Traditionen und Mentalitäten abhängig sind. Dabei zeigten sich drei „Cluster“
Ein „westliches“ (Europa, USA), ein „östliches“ (Asien) und ein „südliches“ (Mittel- und Südamerika). Einige ausgewählte Ergebnisse:
– Eine Mehrheit würde einen einzelnen Menschen zugunsten einer Gruppe opfern; in Deutschland sagten das 82 % von sich; ähnlich in den meisten westlichen Ländern. Anders in Asien: In China z. B. nur 58 %.
– Eine Mehrheit würde eher Ältere zugunsten von Kindern opfern. Wichtige Ausnahme ist Asien, v. a. China. Dort ist die Ehrfurcht vor dem bzw. die hohe Wertschätzung des Alters entscheidend. (konfuzianische Ethik)
– Das ist n. b. nicht identisch mit der Differenz „gelebtes Leben“ vs „un-gelebtes Leben“. Dies ist eine – letztlich auf das Individuum bezogene – „Gerechtigkeits-Logik“, die eher typisch ist für die abendländisch-europäische Mentalität.
– eine Mehrheit würde Tiere zugunsten von Menschen opfern (Ausnahme: Heilige Kühe)
– Teilnehmer aus Mittel- und Südamerika retteten überdurchschnittlich häufig Frauen (und sportliche Personen). Im Orient und Indien sind dagegen Frauen „weniger wert“.
– In Ländern, in denen es große Einkommensunterschiede gibt, wurde oft der soziale Status der potentiellen Opfer bei der Entscheidung berücksichtigt.
– Kulturdifferent ist die Bereitschaft, überhaupt einzugreifen, die in Mittel- und Südamerika signifikant größer ist als in Europa und USA. Gerade in Deutschland ist die Einstellung verbreitet: Schuldig macht sich, wer handelt; wer nicht handelt, macht sich nicht schuldig. (Das Dilemma wird also so aufgelöst: Ich verhalte mich so, dass das geschieht, was auch geschähe, wenn ich gar nicht vor Ort wäre. Am geringsten ist die Bereitschaft, einzugreifen, in Orientalischen Ländern („Kismet“)
Es geht hier nicht um die Ergebnisse im Einzelnen. Über die genannten Beispiele hinaus wurde nach weiteren Oppositionen gefragt; die Ergebnisse differenziert wiederzugeben, würde hier zu weit führen. Wer soll gerettet werden: Der Kriminelle oder der Arzt bzw. ein „guter Bürger“? Der, der an seiner Lage unschuldig ist oder der, der sie selbst verursacht hat (> „Risiko-Sportarten“)? Ist für die Entscheidung relevant, ob sich die Opfer regelkonform verhalten; also: die Fußgänger, die bei „Grün“ über die Straße gehen vs. diejenigen, die bei „Rot“ laufen … Da gibt es immer wieder Differenzen zwischen liberalen Gesellschaften vs. autoritären bzw. legalistischen (> Konfuzianismus), etc. etc. Und auch die „Rotes-Kreuz“-Logik, die eigene und fremde Verwundete gleich behandelt, gilt bei weitem nicht überall. (Die soll ja nota bene auch bei der Triage nur begrenzt gelten, Stichwort: Angehörige des Arztes.)
Die Ergebnisse der „Moral-Machine“-Studie sind nur schwer zu vereinbaren mit den Regeln, die die deutsche Ethik-Kommission in ihrem Bericht „Autonomes und vernetztes Fahren“ vom Juni 2017 gegeben hat. Regel 9: „Bei unausweichlichen Unfallsituationen ist jede Qualifizierung nach persönlichen Merkmalen (Alter, Geschlecht, körperliche oder geistige Konstitution) strikt untersagt. Eine Aufrechnung von Opfern ist untersagt. “
(Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur: Ethik-Kommission „Autonomes und vernetztes Fahren“, Bericht Juni 2017.)
In gleichem Sinn auch der deutsche Ethikrat zur Corona-Krise: „Jedes menschliche Leben genießt den gleichen Schutz. Damit sind nicht nur Differenzierungen etwa aufgrund des Geschlechts oder der ethnischen Herkunft untersagt. Auch eine Klassifizierung anhand des Alters, der sozialen Rolle und ihrer angenommenen „Wertigkeit“ oder einer prognostizierten Lebensdauer muss seitens des Staates unterbleiben […] Auch persönliche ethische Überzeugungen […] können ein Handeln, das die skizzierten Grenzen des Verfassungsrechts überschritte, nicht rechtfertigen.“
(Deutscher Ethikrat: Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise. Ad-Hoc-Empfehlung; Berlin 27.03.2020 ; S. 3 f.)
Nicht, dass die Ergebnisse der „Moral Machine-Studie im Einzelnen direkt auf die Tirage übertragbar wären. Wichtig ist aber:
(1) Nahezu nichts von dem, was wir – in unserem Kulturkreis – als vermeintlich feste Grundlage für moralische Entscheidungen ansehen, kann beanspruchen, universell gültig zu sein! Auch für das Triage-Problem kann es wohl keine universell gültigen Lösungen geben, weil wir (a) nicht frei sind in unseren Entscheidungen, sondern abhängig sind von Traditionen und Mentalitäten, aus denen wir so leicht nicht heraus können und weil (b) die individuelle Entscheidung realisiert werden muss im Konsens der lokalen/regionalen Gemeinschaft, d. h. von ihr „mit-getragen“ werden muss.
(2) Ist es dann eine pragmatische Lösung, sich daran zu orientieren, was lokal/regional als moralisch „richtig“ gilt? (Aber was macht dann der in Deutschland arbeitende indische Arzt?)
(3) Die Autoren der „Moral Machine“-Studie: „Selbst wenn sich die Ethiker einig wären […] , wäre ihre Arbeit nutzlos, wenn die Bürger ihrer Lösung nicht zustimmen würden.“ Also:
Was ist, wenn das von „Experten“ für Moral (Wer oder was macht sie dazu?) als moralisch richtig Konstatierte nicht übereinstimmt mit der verbreiteten („herrschenden“) Mentalität der Bevölkerung? Kann „moralisches Handeln“ im Widerspruch zur Mentalität der breiten Bevölkerung Bestand haben? Ist „Moral“ eine Funktionale demokratischer Mehrheiten?
Bleiben Sie gesund!
( … das wäre ja auch im Sinne des Diskutierten die beste Variante!)
Erich Schön
Sehr geehrter Herr Prof. Schön,
Herzlichen Dank für Ihren ausführlichen Kommentar, der meine Ausführungen in wertvoller Weise ergänzt.
Mit meinem Slogan „Vor-Denken ist besser als Nach-Denken“, d. h. in komplexen Krisensituationen erst einmal zu beginnen, sich die Optionen und Möglichkeiten (wenn auch erst einmal nur im eigenen Kulturkreis) klarzumachen, wollte ich auf folgende Schwierigkeiten hinweisen, dass
a) in Krisensituationen die Fülle an Optionen mit all Ihren Folgen nicht erfassbar ist – zumindest weniger als in einer ruhigen Minute vor Eintreten der Katastrophe
b) die Theorie der Praxis vorangehen sollte – wenn auch diese nicht immer in Gänze umsetzbar ist
c) ein Spagat zwischen Theorie und Praktikabilität eingegangen werden muss
d) Praktikabilität am Ende häufig jegliche Theorie sticht. Dennoch beeinflusst ein Vor-Denken auch unsere spontanen (!) Entscheidungen – sei es unbewusst oder nicht, wenn man sich mit Problemfeldern und Handlungsoptionen einmal auseinandergesetzt hat – sofern dann auch eine Umsetzung direkt vor Ort möglich ist.
Eine Praxis ohne theoretische Grundlage ist fahrlässig, eine Theorie ohne Umsetzbarkeit in der Wirklichkeit nutzlos.
Insofern finde ich Ihren Beitrag hervorragend und erweiternd, da er auch die interkulturellen Aspekte aufgreift.
Ihre Anmerkungen gerade über das Trolleyproblem hinaus, werde ich dankend in meiner weiteren Arbeit aufnehmen, die sich derzeit mit dem autonomen Operieren beschäftigt.
Herzlichen Dank also direkt von der Front für all ihre guten Gedanken
und beste Grüße aus Weiden,
Ihr
Thomas Bschleipfer
Lieber Herr Bschleipfer, dear unknown others,
vielen Dank für Ihre Ausführungen zu der Frage, welchen Patienten man medizinische Versorgung unter Knappheitsbedingungen, d. h. wenn diese Versorgung nicht für alle ausreicht, zukommen lässt. Nehmen wir als Fallbeispiel die Frage: Wer von zwei „lebenskritischen Corona-Patienten“ soll den einen noch zur Verfügung stehenden Beatmungsplatz erhalten?
Zunächst leuchtet mir ein, dass diese Frage nicht „beantwortet“ werden kann (im Sinne der Anwendung eines verlässlichen und allgemein akzeptierten Algorithmus), sondern „entschieden“ werden muss. Zudem leuchtet mir unmittelbar ein, dass eine solche Entscheidung, selbst wenn sie „fehlerhaft“ wäre, besser ist als keine Entscheidung, die beiden Patienten die Hilfe verwehrt. Auch Ihr Grundsatz „Alleiniges Entscheidungskriterium ist die Prognose eines Patienten“ funktioniert solange, solange die Diagnosen und Prognosen (z.B. milder/schwerer Verlauf) hinreichend unterscheidbar sind. Was aber, wenn wir den Fall haben haben, das das nicht mehr hinreichend unterschieden werden kann?
Sie konzedieren nun selbst mit der „Wahrhaftigkeit, sich selbst und anderen nichts vorzumachen“ (Nietzsche): „Bei konkurrierenden Patienten muss gewertet werden. (…) Es steht außer Frage, dass wir es mit einer handlungsimmanenten und zu akzeptierenden Ungerechtigkeit zu tun haben.“ Mit diesem nachvollziehbaren Eingeständnis kommt ihr Versuch, Ihren Kolleginnen und Kollegen eine „moralische Sicherheit für kritische Entscheidungen“ auch für einen solchen Fall zu ermöglichen, an eine Grenze.
Sehe ich es richtig, dass in diesem Falle (prognosegleicher konkurrierender Patienten) hier Entscheidungen erzwungen werden, die nicht mehr „gerechtfertigt“ werden können, sondern von dem entscheidenden Arzt (oder Team) gefällt und „akzeptiert“ werden müssen – und zwar im Sinne des Ertragens einer „handlungsimmanenten und zu akzeptierenden Ungerechtigkeit“?
Damit wäre man an einer Stelle angekommen, an der die Medizinethik in zwei Richtungen weiter denken könnte und die ich als Fragen an Sie formulieren würde:
a) lassen sich doch noch Kriterien entwickeln, die auch für diesen Fall rechtfertigbare Entscheidungen ermöglichen? und
b) was kann Ihre MedizinEthik anbieten für Ärzte (und Angehörige), damit sie (überspitzt formuliert) diese unvermeidliche Schuld auf sich nehmen und mit ihr weiterleben können? Sehen Sie hier Möglichkeiten, die Kategorie der Schuld zu vermeiden?
Herzliche Grüße, Michael Wörz
PS Diese Fragerichtung wurde u. a. angeregt von dem Film „Sophies Entscheidung“.
Sehr geehrter Herr Prof. Wörz,
vielen herzlichen Dank für Ihren anregenden Kommentar und die aufgeworfenen Fragen.
Zunächst stellen Sie die Frage, wie mit (zwei) konkurrierenden Patienten entweder gleicher Prognose oder nicht festzustellender Prognose bei nur einem Behandlungsplatz verfahren werden sollte.
Ich hatte in meiner Arbeit zwei Allokationsprinzipien unterschieden, wertende und nicht wertende.
Es ergeben sich nun zwei Möglichkeiten, wie verfahren werden kann: als erste Möglichkeit, man bleibt bei wertenden Verfahren und würde andere Kriterien als die Prognose heranziehen (auch Ihr Gedanke). Dies halte ich jedoch für ethisch nicht zu rechtfertigen, wenn dies auch in der Praxis durchaus anders gehandhabt werden mag (bekanntermaßen Familienvater von vier Kindern vs. alleinstehender alter Mann). Ethik und Moral können in meinen Augen gerade in derartigen Krisensituationen durchaus differieren – vielleicht müssen sie es auch, um einerseits unsere Theorien zu hinterfragen, andererseits aber auch den begangenen Weg noch einmal kritisch zu beleuchten. Als zweite Möglichkeit bietet sich an, erneut auf nicht wertende Verfahren zurückzukommen, was ich favorisieren würde. Tatsächlich würden dann Allokationsprinzipien wie z.B. das Losprinzip greifen, um ein gerechtes Verteilungsverfahren (iustitia distributiva) anzustreben. Wie sehr uns dies widerstreben mag, sei dahingestellt, ethisch scheint es jedoch ein gangbarer / ggf. sogar „richtigerer“ Weg zu sein. Die „Rechtfertigung“ (s. Ihr Kommentar) liegt dann nicht in der Entscheidung für oder wider einem Patienten sondern für oder wider eines Allokationsverfahrens, hier z.B. Losverfahren. Diese Entscheidung ist sehr wohl zu rechtfertigen und nicht nur zu akzeptieren. Das „Schicksal“ entscheidet und der Mensch zieht sich (an vorderster Front) zurück. Eine solche Gangart ist jedoch in der Krise m.E. nur gerechtfertigt, wenn man sich in einem Ex-ante-Konsensus prinzipiell auf ein solches Vorgehen einigt / geeinigt hätte oder dieses als gesellschaftsimmanent postuliert (werden kann). Es müsste jedem bereits präkatastrophal klar sein, dass „wenn man (als Mensch) nicht entscheiden kann, das Schicksal entscheidet“.
Als weiterer Punkt sei die „Schuldfrage“ angesprochen: machen wir uns schuldig, wenn wir helfen? Wir machen uns eher schuldig, wenn wir Optionen nicht nutzen oder uns vor Entscheidungen scheuen und damit keine Entscheidung treffen. Haben wir eine Verpflichtung zur Hilfeleistung? Sicherlich, jedoch nicht über das Maß des Möglichen hinaus (Ultra posse nemo obligatur). Wir begeben uns als Ärzte in Krisen oftmals in Situationen, die von uns nicht in aller Gänze gelöst werden können. Hier ist es sicherlich unsere Aufgabe, Leid zu mildern, was heißt, dass nicht alles Leid durch unsere Hand behoben werden kann. Nun kann man argumentieren, dass die Entscheidung selbst Ursache der Schuld ist. Dem möchte ich jedoch widersprechen. Zur Entscheidung sind wir verpflichtet (Hilfeleistungspflicht/Vertragsprinzip). Nicht zu entscheiden, wäre tatsächlich mit Schuld assoziiert. Insofern können wir nur das uns zur Verfügung stehende Mögliche leisten und vollziehen. Eine Schuld würde jedoch nur im eigenen Kopf entstehen (Schuldgefühl vs. Schuldigkeit), wenn man sich nicht bewusst macht, dass man bereits an seinen Grenzen alle Optionen verwirklicht hat. Eine Schuld kann selbstverständlich auch von außen herangetragen werden, dann aber aus einer einseitigen Perspektive, der meist der ethische Hintergrund oder aber die „Vogelperspektive“ für das Ganze der Katastrophe fehlt (subjektiver Blickwinkel / persönlicher Bezug). An dieser Stelle können wir zum oben Gesagten zurückkommen. Eine Entscheidung „an vorderster Front“ und somit für oder wider einen Patienten wird eher mit Schuld assoziiert als die bewusste Entscheidung zugunsten der Schicksalhaftigkeit , somit für Allokationsprinzipien ohne Wertung. Die amerikanischen Streitkräfte haben dies für ihre militärischen Krisensituationen m. E. klug gelöst: während unsere deutsche Militärmedizin eine Behandlung vor Ort anstrebt, favorisieren die Amerikaner das Prinzip „load and go“. Hierdurch wird in das Behandlungsverfahren eine „Komponente Schicksalhaftigkeit“ eingebaut, die vielen möglicherweise gar nicht bewusst ist. Denn, wer den Weg nicht zum nächsten Behandlungszentrum schafft, kann und braucht auch dort nicht (mehr) behandelt zu werden. Das Schicksal hat bereits auf dem Weg zum Behandlungszentrum entschieden. Ehrlicherweise liegt die Entscheidung aber in der Akzeptanz eines Verfahrens, welches den Transport vor die Behandlung stellt. Schuldbewusstsein dürfte sich bei nur wenigen einstellen, da ja den Vorgaben und Verfahrensrichtlinien entsprochen wird.
Lieber Herr Prof. Wörz, nochmals herzlichen Dank für Ihren konstruktiven Beitrag und die sicherlich noch vielen unbeantworteten Fragen … wovon es ehrlich gesagt noch zahlreiche gibt.
Ihr
Thomas Bschleipfer