»Von der Tiefe des Lebens« hat Philipp Thomas sein neuestes Buch betitelt und damit »ein Wörterbuch der Melancholie« verfasst. Der Philosoph hat uns eine Leseprobe zur Verfügung gestellt, in der er zeigt, wie Melancholie gesellschaftlich als Seismograph dient.
Totalisierung des Kommerzes
Stellen wir uns vor, wir besuchen nach einem anstrengenden Arbeitstag mit der Hoffnung auf Erfrischung und Entspannung ein Kino. Falls wir im Anschluss an den Film in demselben Kinocenter und mithilfe unserer Eintrittskarte zu vergünstigtem Preis in der Filiale einer Systemgastronomie noch Essen gehen und falls wir dort Merchandising-Produkte unseres Films entdecken sowie Werbung für ihn in der Kundenzeitung des Restaurants, dann verstehen wir, dass die künstlerischen Mittel des Films, dass seine Geschichte und die Arbeit der Darstellerinnen und Darsteller gar nicht der Logik der Kunst selbst folgen, sondern Teil eines kommerziellen Gesamt-Verwertungszusammenhangs sind. Kunst ist hier nicht länger das Andere zum Ganzen der Wirtschaft und Gesellschaft, sondern Teil von dieser. Dies kann geradezu die melancholische Spitze unseres Erlebnisses ausmachen: die Einsicht in den Verlust eines Anderen zum Ganzen, hier der Kunst, die Einsicht in den Verlust einer Gegenwelt, welche einer alternativen Logik folgen würde, z. B. den formal-ästheti-schen Kriterien, etwa einer bestimmten Bildersprache, oder inhaltlich-diskursiven Kriterien, etwa bestimmten kulturellen Erzähltraditionen im Sinne alternativer Sichtweisen auf unsere Welt. Der Kommerz ist total geworden, indem er die Kunst vereinnahmt, mit seinen Gesetzen kolonialisiert und damit als sie selbst abgeschafft hat. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno haben diese Entwicklung schon Mitte des 20. Jahrhunderts als Kulturindustrie beschrieben. (Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1944); Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften.Bd. 3. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981.) In den letzten Jahrzehnten hat sich diese Entwicklung noch weiter verschärft, indem immer wieder Gegen- oder Protestkulturen vom System einer globalisierten Wirtschaft vereinnahmt und in Verwertungszusammenhänge eingefügt wurden. Wie ein Seismograph spürt die Melancholie diese zerstörerische Tendenz zur Totalisierung. In der Melancholie klagen wir diese Totalisierung des Kommerzes an, weil hier jedes Andere zum Ganzen seines kritischen Potenzials beraubt und daher vernichtet wird, jede mögliche Gegenwelt und Gegenkultur und jedes utopische Denken und Handeln.
Gezwungen, »jemand zu sein«
Zu den Gesetzen der modernen Wirtschaft und Gesellschaft gehört auch der Imperativ, »jemand zu sein«, das heißt eine Identität zu haben und identifizierbar zu sein. Unter den Bedingungen totaler gegenseitiger Konkurrenz und angesichts der Notwendigkeit, maximale Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen, müssen wir für alle ständig wiedererkennbar sein, die sich für unsere Leistungen und Potenziale interessieren sollen, sei es für unsere Arbeitskraft, sei es für unsere wissenschaftlichen oder künstlerischen Ideen. Es verbietet sich jede Unsicherheit, Uneindeutigkeit, Unentschiedenheit, jede Ambiguität. Selbst wenn es zu unserer existenziellen und intellektuellen Redlichkeit und Wahrhaftigkeit gehörte, unsere Mehrdeutigkeit und Komplexität zu sehen und einzuräumen und davon auszugehen, dass wir uns selbst letztlich nicht restlos kennen, uns weder selbst hervorgebracht haben noch über uns ganz verfügen, sind wir gezwungen, eine Identität zu konstruieren, zu behaupten und zu zeigen. Nichtidentität ist in der kompetitiven Gegenwartsgesellschaft nicht lediglich von Nachteil, insofern man nicht identifizierbar ist und nicht gesehen wird, sondern Nichtidentität wird nicht geduldet. Autoritäre Staaten dulden keine Abweichung und kein Beiseitestehen ihrer Bürgerinnen und Bürger. Sie bedienen sich identifizierender Ideologien, verwenden also auch weltanschaulich ein totalisierendes big picture, das die Bürgerinnen und Bürger sich zu eigen machen müssen. Am besten geschieht dies positiv im Sinne der totalitären Ideologie, notfalls aber auch durch Zugehörigkeit zu einer Gruppe politischer Gegner, welche dann ebenfalls innerhalb des geltenden big pictures verortet werden kann und dadurch eine Identität hat. Nichtidentifizierbare Individuen, die gewissermaßen nur sie selbst sein möchten in all ihrer Uneindeutigkeit und Ambiguität, werden nicht geduldet. So beschreibt es Giorgio Agamben:
Dass »Singularitäten eine Gemeinschaft bilden, ohne eine Identität einzufordern, […] das ist es, was der Staat keinesfalls dulden kann« (Giorgio Agamben: Die kommende Gemeinschaft, Berlin: Merve 2003, S. 79.). Diese Menschen können nicht anerkannt werden, »weil sie keine Identität haben, der sie Ausdruck verleihen könnten« (ebd.). »Die beliebige Singularität, die sich die Zugehörigkeit als solche, das In-der-Sprache-Sein selber aneignen will und im Gegenzug auf jede Identität, jede Bedingung von Zugehörigkeit verzichtet, ist der gefährlichste Feind des Staates.« (a. a. O., S. 80.)
Was für totalitäre Staaten gilt, lässt sich auch von den allgemeinen Gesetzen unserer Wirtschaft und Gesellschaft sagen. Es besteht ein Zwang, identifiziert werden zu können, für etwas zu stehen, erkennbar und wiedererkennbar zu sein. Firmen müssen einen Markenkern haben und wer in der Wissenschaft oder der Kunst etwas werden will, muss Themen oder Positionen besetzen, um identifiziert werden zu können: Dies ist einer Situation geschuldet, in der alle miteinander um Aufmerksamkeit, Anerkennung und Erfolg konkurrieren.
Wie stellen wir uns zu diesen allgemeinen Bedingungen, wenn wir melancholisch sind? Hier ist es gerade der Aspekt der Uneindeutigkeit und der Nichtidentität, welchen die Melancholie verteidigen muss, weil er ihr als unverzichtbar erscheint […]. In der Melancholie durchschauen wir gleichermaßen die Wahrheitsgewissheiten als Ideologien wie auch die Identitäten als Konstrukte. Wir machen nicht halt auf der Ebene der Eindeutigkeiten, sondern erst, wenn sich immer mehr von der Komplexität der Dinge zeigt, auch von unserer eigenen Komplexität. Zur Melancholie gehört ein Bewusstsein des Nichtwissens, gehört die Einsicht, uns weder selbst hervorbringen noch selbst definieren zu können, die Einsicht in Nichtidentität. Eher erscheint es uns in der Melancholie so, dass wir uns sozusagen widerfahren oder geschehen, dass unsere Identität sich konstelliert und wieder auflöst, dass sie im Fluss ist und wir uns als immer wieder neue Personen vorfinden. Sind wir in der Melancholie, dann fühlen wir uns kaum in der Lage zu sagen, wofür wir stehen und womit wir identifizierbar sind. Denn jene Voraussetzung für diese Selbstdefinition fehlt uns, welche typisch für ein totalisierendes Denken ist, sei es das Denken eines Staates oder der Wirtschaft oder der Gesellschaft: die Selbstdefinition als Einordnung in ein big picture, in ein Bild des Ganzen, das seinerseits nicht weiter begründbar ist, an das wir glauben. In der Melancholie fehlt dieser Glaube und damit die spezifische Stütze, die uns daraus erwächst, uns verortend »jemand zu sein« und eine Identität zu haben. Wir können eine Identität nicht behaupten, weil uns dies in der Melancholie als Lüge gelten würde, als Rückfall hinter die Einsicht in Mehrdeutigkeit, Ambiguität und Nichtidentität. Und wir können auch deshalb keine Identität behaupten, weil wir den sozialen Identitätszwang als unmenschlich verurteilen. Wiederum politisch unbescheiden fordern wir in der Melancholie, wir selbst sein zu dürfen, ohne uns verstehen, konstruieren und begründen zu müssen. In diesem Sinne weist der Schriftsteller Wilhelm Genazino darauf hin, dass »der Melancholiker die repräsentative Figur des 21. Jahrhunderts hat werden können« (Genazino, Wilhelm: Die Flucht in die Ohnmacht. Dankrede zum Kleist-Preis. In: ders.: Idyllen in der Halbnatur. München: Hanser 2012, S. 129—139, hier S. 139.). Denn, so Genazino, es ist jener Mensch, der darunter leidet, nicht einfach nur leben zu dürfen, sondern immer ein bestimmter Mensch sein zu müssen und hier laufend gefordert zu sein.
Thomas, Philipp: Von der Tiefe des Lebens. Ein Wörterbuch der Melancholie. Zug: Die Graue Edition 2020, S. 43—47. https://graue-edition.de/buecher/176/von-der-tiefe-des-lebens
Es ist ein schwieriger Prozess, sich trotz oder gerade durch die Melancholie als Seismographen in der identitätssuchenden Gesellschaft nicht zu verlieren.
Ihr Zitat über die Anerkennung der Freiheit der Identität, statt der Wiedererkennung von Identischem lässt mich nachdenken.
Bezogen auf den Arbeitsmarkt und die Suche nach einer Arbeitsstelle im künstlerischen Bereich, finde ich es schwierig immer an ihrem Zitat festhalten zu können. Mir kommt es vor, als würde ein Duell der Identiäten eröffnet werden. Der Vergleich von Bewerber*innen durch eine höhere Instanz steigert den Druck, sich selbst als melancholische Nichtidentität und gleichzeitig konkurrenzfähige Identität der Gesellschaft zu zeigen. Was ich sagen möchte, es ist schwer auf dem heutigen Arbeitsmarkt selbstbewusst hinter dem eigenen Nichtwissen zu stehen und sich nicht für eine Entscheidungsinstanz zu verbiegen, die vom Kommerz beeinflusst ist aber über die persönliche Zukunft entscheidet.
In der westlichen Welt wird Individualismus großgeschrieben. Verbunden wird es hauptsächlich mit Freiheit – nicht nur in der Entscheidung. Individualismus und Kapitalismus ergänzen sich überhaupt nicht und gleichzeitig perfekt. Mir kommt es so vor: Kapitalismus lässt häufig den wahren Individualismus nicht zu. Denn, jeder möchte dem Bild entsprechen, das verkauft wird. Wir verbiegen unseren Charakter, um ihn auf das Bild anzupassen, bis jeder nun doch denselben hat. Gleichzeitig preisen wir unseren Individualismus. Wir sagen, dass wir die Dinge konsumieren, die zu uns passen. Dabei verändern wir uns ständig, dass wir eher zu den Produkten passen. Das ist wohl Marketing.
Für diese Zusammenhänge scheint mir die Werbekampagne ‚Think different‘ der Firma Apple von 1997 ein gutes Beispiel.
https://www.youtube.com/watch?v=5sMBhDv4sik
Der eigentliche Individualismus, also ein eigener Existenzentwurf, der nicht dem Bild entsprechen möchte, das verkauft wird und der nicht den Charakter verbiegen möchte – wie Sie treffend schreiben – auch dieser eigentliche Individualismus wurde damals in der Werbekampagne ‚Think different‘ vereinnahmt. Bilder von Picasso, Albert Einstein, Mahatma Gandhi, Martin Luther King oder John Lennon u.a. wurden mit dem Imperativ ‚Think different‘ und dem Apple-Logo kombiniert. Die Marke Apple wurde als Verlängerung der Counter Culture der 60er Jahre inszeniert, noch lange hatte die Marke das Image einer Rebellin.
Horkheimer/Adorno (siehe mein Blogbeitrag) hatten kritisiert, wie sich die Kunst dem Kommerz angleicht – etwa durch die totale Ausrichtung am Publikumsgeschmack. Doch es gab trotzdem immer eine Gegenkultur, die sich nicht um Verkaufszahlen kümmerte, den Versuch eines ‚wahren Individualismus‘, wie Sie schreiben. Nun, in der Apple-Kampagne von 1997, wurden auch Künstler wie Picasso oder Lennon und ebenso Freiheitskämpfer wie Gandhi oder Martin Luther King vereinnahmt. Gerade ihre Unabhängigkeit vom Kommerz und vom Mainstream – diente nun einem Markenimage und wurde kommerzialisiert .
Ich habe diese Vereinnahmung der Kunst und die Eliminierung des ‚Anderen‘ (Kunst als das Andere zum totalen Kommerz) beschrieben in einem Text in einem Kunstkatalog zu einer Ausstellung:
https://publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/handle/10900/56575
Dieser Text geht auf einen Vortrag im Rahmen der Ausstellung zurück. Im Vortrag brachte ich das Beispiel der Apple-Kampagne und spielte auch den Clip vor (s.o.). Mehrere Apple-BesitzerInnen protestierten gegen meine in ihren Augen ungerechte ‚Entlarvung‘ dieser Vereinnahmung des eigentlichen Individualismus (Kunst) durch einen Pseudo-Individualismus (‚Think different‘) – Apple sei wirklich anders.
Die Kampagne der Werbeagentur von 1997 war extrem erfolgreich.
Ich schreibe diese Zeilen auf einem MacBook und bin ein Freund der Marke. Allerdings nicht wegen, sondern trotz der Kampagne, – welche mich melancholisch macht.
Melancholie als Seismograph bietet keine Lösung, außer der Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit. Wahrhaftigkeit ist jederzeit und überall möglich, privat wie auch politisch, davon bin ich fest überzeugt.
Herr PD Doktor Philipp Thomas,
Vielen Dank für Ihre Antwort. Ich bin beeindruckt von der Werbekampagne von Apple – und gleichzeitig ein bisschen schockiert, um ganz ehrlich sein zu wollen. Danke für Ihre Anregungen und ihren Text, ich freue mich über die Möglichkeit, die Kampagne aus ihrer kritischen Sicht betrachten zu dürfen. Zu ihrem Satz „Wahrhaftigkeit ist jederzeit und überall möglich, privat wie auch politisch“: Auch eine kleine Leseempfehlung von mir. Das Buch heißt: „The subtle art of not giving a fuck – a counterintuitive approach to living a good life“ von Mark Manson. Falls Sie einmal Lust bekommen, ein lustiges und (wie Sie merken, etwas vulgäres) Buch zu lesen, kann ich das nur ans Herz legen. Vielleicht würden Sie nicht allem zustimmen oder für gut befinden, was in dem Buch steht, aber was für einen besseren Weg zur Erkenntnis seiner eigenen Wahrhaftigkeit gibt es denn sonst?
Freundliche Grüße,
Ines Filipp
Sehr geehrte Frau Filipp,
vielen Dank für Ihren Kommentar und Ihren guten Buchtipp. Ich habe mir das Buch heute bestellt und bin sehr gespannt darauf.
Die Apple-Werbekampagne schockiert mich nachhaltig. Man stelle sich vor, dass sich Martin Luther King und auch seine Angehörigen nicht dagegen wehren konnten, dass ein Bild von ihm von Apple zu Werbezwecken (mit Apple-Logo) einfach veröffentlicht wurde und mehr noch, dass suggeriert wurde, Martin Luther Kings ‚Sache‘, seine Message habe irgend etwas zu tun mit dem Wunsch der Fa. Apple, ihre Produkte zu verkaufen. So als sei sein Kampf gegen Rassismus analog zu Apples Kampf gegen IBM (damals) und Microsoft (heute).
Es ist ja völlig legitim, dass Firmen ihre Produkte bewerben und verkaufen wollen. Ich finde Kampagnen gut, die witzig sind und mit Sympathie werben.
Andererseits braucht jede Kultur (und auch jede/r einzelne) auch Freiräume, die nicht vereinnahmt werden von der Competitiveness.
Ich denke, wir brauchen Werbung. Z.B. auch für allerlei vernünftiges Verhalten, das unterbleibt, wenn man nicht dafür wirbt, z.B. den Müll richtig wegzuwerfen, jetzt: Maske zu tragen usw. usf. Und auch Restaurants, Firmen usw. müssen natürlich werben. Werbung ist ein riesiges Stück Kultur. Gute Werbung macht die Welt ästhetischer, bunter, vielleicht besser, oder?
Viele Grüße von Philipp Thomas
Zitat von Ines Filipp <wordpress@philosophie-un
Am Ende der Leseprobe angekommen bin ich nun auch etwas melancholisch gestimmt, so treffend beschreibt Philipp Thomas die Tendenz zum Besonderen innerhalb unserer Gesellschaft. In meinem Berufsfeld als werdende Kommunikationsdesignerin spüre ich diesen Druck. Was wird mit uns als Gesellschaft passieren, wenn bald nur noch darauf geachtet wird, wer sich über alle Maße absetzt?
Diesen Druck gibt es auch in der Wissenschaft, es geht um Wiedererkennbarkeit, Identifizierbarkeit, sogar um den Markenkern.
Andererseits muss man auch sehen, dass all dies Zeichen für den ‚freien Markt‘ ist. In einer autoritären Gesellschaft, in der etwa eine Partei das Sagen hat, ist alles anders, vielleicht versucht man, möglichst nicht aufzufallen. Aber auch dieser Gedanke kann melancholisch machen …
Bleibt vielleicht als Aufforderung: Unbedingt sich selbst zu akzeptieren als nicht-identisch, d. h. als uneindeutig und stets suchend. Sowie: Im Privaten und in der Öffentlichkeit mittlerer Reichweite dieses Recht sowohl für sich einzufordern als auch es selbstverständlich anderen zu gewähren. Anerkennung heißt nicht Wiedererkennen eines Identischen (Markenkern), sondern Anerkennung der Freiheit, da zu sein, ohne sich verstehen, konstruieren und begründen zu müssen.
Tolle Anregungen, vielen Dank für Ihre Antwort. Vor allem der letze Satz wird mir noch lange im Gedächtnis bleiben.