In der Corona Krise wird viel darüber lamentiert, dass Menschen keinen direkten Kontakt haben dürfen und auf Abstand von anderen achten müssen, die sie in Supermärkten, auf Spielplätzen oder in den Straßen treffen, und es ist gut, wenn sich alle darum bemühen und die behördlichen Regeln einzuhalten versuchen. Leider ist die einfachste Möglichkeit, Menschen aus dem Weg zu gehen, derzeit versperrt. Gemeint ist das Reisen, das solange unterbleiben muss, solange keine Hotels geöffnet sind und auch die Gastronomie erst wieder auf die Beine kommen muss. Reisen gehört zu den großen Vergnügungen von Menschen, wie jeder von sich selbst weiß und sich historisch durch den Hinweis belegen lässt, dass mit dem Aufkommen der Eisenbahnen »Europa in einen Zustand der permanenten Bewegung« geraten war, wie etwa die schottische Zeitung »Edinburgh Review« um 1860 feststellte, als erstmals nicht nur alle europäischen Hauptstädte, sondern auch kleinere Orte mit der Eisenbahn erreicht werden konnten und das Publikum sofort in Scharen anrollte. Als eine Folge kamen nicht nur Touristen in Massen, worüber sich selbst Theodor Fontane beklagte – »Die ganze Welt verreist heutzutage«. Es entstand zudem die Tourismus-Industrie, die zu Mengen von Menschen führten, die vor sogenannte Sehenswürdigkeiten geschleppt wurden und dort in ihre Reiseführer starrten, so wie sie sich heute in ihre iPhones versenken.
Fontane kam dieses Verhalten »idiotisch« vor, vor allem wenn Touristen »doing Europe« auf ihrem Programm stehen hatten und nur abhakten, was ihre Broschüren aufführten. Doch dieser Blick auf die menschliche Kultur kann und muss ergänzt werden durch den Hinweis, dass in den Jahren der ersten Massenreisen die ersten Pioniere einer neuen Wissenschaft auftauchten, die sie bald Anthropologie nannten und die nicht bloß davon handelte, was ein Mensch ist, sondern davon, wie jeder der besondere Mensch wird, der er oder sie ist. Die ersten Anthropologen reisten wie Europäer durch die Welt und besuchten fremde Völker zum Beispiel in Polynesien, um mit ihren Feldforschungen die alte philosophische Überzeugung von einem unveränderlichen Typ, der sich in einem Menschen zu erkennen gibt, zu überwinden und das Gegenteil zu zeigen, nämlich dass die Mitglieder der Art Homo sapiens über eine fließende und anpassungsfähige Kultur verfügen und sich ihr Leben lang bilden können. Deshalb haben sie mit dem Reisen begonnen, sobald die technischen Möglichkeiten vorlagen, und sie tun dies bis heute. Der Mensch kann dabei das Ziel haben, zu sich selbst zu kommen. Aber offenbar kommt er da nicht an. Das ist nicht schlimm. Im Gegenteil. Es ist des Menschen Glück.
Sehr geehrter Herr Ernst Peter Fischer,
ich habe ihre Analyse mit Genuss gelesen und musste schmunzeln. Schmunzeln über mich selbst, wie ich mich darin wieder fand, in „doing Europe“ und in der „Feldforschung“. Ehrlich gestanden habe ich eine Zeit lang versucht „doing Europe“ zu machen, scheiterte aber immer wieder durch körperliche Erschöpfung mit folgender Resignation. Die ganzen Eindrücke einer Reise prasselten auf mich ein, ich saugte alles auf. Am Ende eine mit Erlebnissen überladene Person zu müde, die typische „to do“ Liste in XY Stadt abzuhaken. Ein paar Jahre später, um viele Erfahrungen reicher, sehe ich das als eine positive Wendung der Dinge. „To do“ Berichte findet man mannigfach zum Nachlesen online. Subjektiv empfundene Eindrücke des Momentes nicht.
Hallo Herr Ernst Peter Fischer,
ich bin, typischerweise für meine Generation, schon sehr viel gereist. Nach dem Abitur habe ich, wie so viele auch, eine Zeit in Australien verbracht, dann Neuseeland, dann Thailand. In den folgenden Jahren kamen immer exotischere Orte dazu, darunter auch die Färöer Inseln. Nach einer Weile habe ich eine drückende Frage endlich beantworten können: Macht mir Reisen Spaß? Die Antwort: Nein. Reisen an sich ist nichts für mich. Ich mag den Flughafen nicht. Ich mag keinen Bahnhof, ich mag kein langes Sitzen und ich möchte auch nicht eine wunderschöne Aussicht genießen – ohne jemandem neben mir. Ich möchte nicht an dem Wettkampf teilnehmen, auf Social Media einzigartig zu wirken. Es wirkt auf andere beeindruckend, wenn ich aufzähle, wo ich schon war. Aber das zählt auch nicht, weil die Erinnerungen an manche Reisen, wenn es hochkommt, nur mittelmäßig waren.
Es gibt unglaublich schöne Momente in meinem Leben – auch wenn ich Reisen oder im Urlaub bin. Aber die sind nicht abhängig davon, wo ich sie verbracht habe, sondern mit wem. Es macht keinen Spaß, auf einem Berg zu stehen und die Aussicht zu genießen, wenn ich diesen Moment nicht mit jemandem teilen kann. Ich möchte meine Zeit nicht verschwenden zu entscheiden, wo ich während dieser sein möchte, sondern mit wem ich diese verbringe. Wenn ich zurückdenke, war tatsächlich der alljährliche gemeinsame Familienurlaub in Dänemark die schönste Zeit im Ausland. Und ich bin mir sicher, dass es nicht an Dänemark liegt, sondern an meiner Familie.
Sehr geehrter Herr Ernst Peter Fischer,
ihre Analyse ist treffend, erst gestern packte mich der Wunsch, wieder verreisen zu wollen. Richtiges Fernweh kam in mir auf. Ich sehe es ähnlich wie Fontane als wenig gewinnbringend, wenn man Reiseziele nur abstreicht wie Punkte auf einer To-Do Liste. Tatsächlich fällt es in unserer digitalen Zeit manchmal schwer, bewusst im Moment zu Leben und so auch das Reisen bewusst zu erleben. Die Eigenschaft, sich ein Leben lang bilden zu können, ist in diesem Zusammenhang eine tolle Möglichkeit über das Reisen den eigenen Horizont zu erweitern, fremde Kulturen kennenzulernen und in andere Welten einzutauchen, um als rücksichtsvollerer und toleranterer Mensch in die eigene Kultur zurückzukehren.