… als die Berührung durch Unbekanntes. Man will sehen, was nach einem greift, man will es erkennen oder zumindest einreihen können.«
Elias Canetti
Canetti, Elias: Masse und Macht. Frankfurt am Main: Fischer, 1992. S. 9.
Ein Quarantäne-Blog in Krisenzeiten
Herausgegeben von Volker Friedrich
… als die Berührung durch Unbekanntes. Man will sehen, was nach einem greift, man will es erkennen oder zumindest einreihen können.«
Elias Canetti
Canetti, Elias: Masse und Macht. Frankfurt am Main: Fischer, 1992. S. 9.
„Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes.“
Da erschien direkt vor meinem inneren Auge: Flammarions Holzschnitt von 1888. Er zeigt, wie der Mensch seinen Kopf über den Rand der Erde – welche zu dieser Zeit noch als eine Scheibe betrachtet wird – streckt und durch den Himmel hinaus in die Sphären schaut. Es trägt den Titel „Wanderer am Weltenrand“. Das erzeugt in mir ein weiteres Bild: der Mensch umgeben von einer Blase, die er sein Leben nennt. In ihr Alles scheinbar wahr. Doch wir wissen, die Erde ist eben doch keine Scheibe. Eines steht fest: Wenn wir uns dem Unbekannten stellen, wird es unser Weltbild verändern, in welche Richtung jedoch ist ungewiss.
Ein sehr spannendes Zitat, wie ich finde, und passt hervorragend in die heutige Zeit rein. Zum Beispiel in diese Zeit der Pandemie, aber auch insgesamt in diese Zeit der Digitalisierung.
Was passiert wenn der Mensch nicht begreifen kann was ihn berührt, es gar nicht kommen sieht, es einfach nicht in seinem Verstand Platz findet aber er weiß dass es da ist? Dann fürchtet er sich und will diese Angst verdrängen. Entweder durch irgendetwas, dass ihm plausibel erscheint, oder einfach nur indem er das Gefühl ignoriert.
Das weiterführende Zitat: „Es ist die Masse allein, in der der Mensch von seiner Berührungsfurcht erlöst werden kann“ erklärt, denke ich, auch einiges. Die Macht, die die Masse hat. Warum vielleicht auch Massenphänomene relativ einfach entstehen können. Ist der Mensch doch so viel Tier, dass er die Sicherheit des Rudels bedarf um sich in Sicherheit zu wiegen?
Die Frage, die sich Eva Hammerschmidt stellt, finde ich auch sehr spannend: wie verhält sich die Masse in den sozialen Medien? Ist das, dass so einfach „Gruppenzwang“ genannt wird, im Grunde genommen nicht auch eine Demonstration von Massenstärke?
Ich habe seit jeher immer gedacht von der Magie, die von der Masse ausgeht, gefeit zu sein, und doch merke ich heute auch, immer wieder, „dazu gehören zu wollen“. Eine böse Anziehungskraft, wie ich finde, mit süßen Versprechen. Aber was passiert wenn alle gleich sind? Wenn jeder sein eigenes „ich“ aufgibt, nur um ein winziger Teil des gesamten zu sein? Sind wir immer noch frei in unseren Entscheidungen? Oder haben wir endgültig aufgehört eigenständig zu reagieren?
Beim Lesen dieses Zitates habe ich immer die gleiche Szene vor meinem inneren Auge. Ein Behandlungszimmer. Ein Patient jammert und beschreibt seine Schmerzen. Der Arzt kann ihm daraufhin zwar den Grund für seine Schmerzen nennen, hat jedoch kein Mittel dagegen. Der Patient geht anschließend wieder nach Hause. Seine Schmerzen sind ab diesem Zeitpunkt nicht mehr so schwerwiegend wie davor.
Dieses Phänomen begegnet einem häufiger. Hat man Schmerzen ohne ihren Ursprung zu kennen, kann man sich nur darauf konzentrieren. Man weiß nicht, woher sie kommen, welche Folgen sie haben und wie lang sie andauern werden. Diese Angst vor dem Unbekannten schwebt fortan wie eine dunkle Wolke über einem und lässt einem nicht mehr los. Erfährt man jedoch den Grund für die unbekannten Schmerzen, können sie leichter angenommen werden. Auch wenn sie danach nicht verschwinden, werden sie nicht mehr als allumfassend wahrgenommen. Man weiß, was mit einem los ist.
Das Unbekannte hat seine Macht verloren, und die Angst ist ein kleines Stückchen kleiner geworden. Denn das Wichtigste ist es für uns, etwas genau bestimmen zu können. Kennen wir den Ursprung, können wir es katalogisieren, analysieren und uns damit abfinden.
Um hier weiter bei dem medizinischen Aspekt zu bleiben, fallen mir da direkt Placebos ein. Es gibt viele Menschen, die Schwören darauf, aber ebenso gibt es auch diese, die das alles für Humbug halten. Dennoch kann man ängstliche Patient:innen hier auch mal ein bisschen in die Irre führen. Wenn man Ihnen sagt, das ist ein neuwertiges Mittel, das hilft und sie nehmen es und bilden sich das auch nur ein, erzielt das auch etwas, auch wenn es nur ein Placebo ist.
Eine weitere Situation, die mir hier dann noch einfällt, ist der Beginn eines neuen Lebensabschnitts. Es gibt Menschen, denen fällt es leicht, in einem neuen Umfeld Kontakt zu knüpfen, den Anschluss zu finden, sich wohlzufühlen und vor allem sich darauf einzulassen. Dann gibt es wiederum die, die sich aus ihrem gewohnten Umfeld nicht wegbewegen wollen. Die kaum raus kommen, meist eventuell schon schlechte Erfahrungen gemacht haben und deshalb ja nichts Neues ausprobieren wollen.
Klar kann das Unbekannte erschreckend sein, ab und an ist es das eventuell auch, aber wenn wir letztlich wissen, was das Unbekannte ist, wie es sich anfühlt und wir wissen, dass es nichts schlimmes ist, ist es doch nur halb so schlimm.
»Wer nicht wagt, der nicht gewinnt«, sage ich da nur.
Ein aufrüttelndes Zitat. Was passiert, wenn wir diese Angst hinter uns lassen? Wo würden wir landen, in welche Gebiete vordringen? Könnten wir uns lösen von bestimmten Strukturen oder gar unabhängiger werden?
In Canettis Werk Masse und Macht heißt es ferner: „Es ist die Masse allein, in der der Mensch von seiner Berührungsfurcht erlöst werden kann.“
Können das in der Gegenwart auch andere Phänomene hervorrufen? Wie verhält sich die Masse in den sozialen Medien, kann man hier Massenphänomene erkennen?