Auch das höchste Fest im Kirchenjahr, Ostern, wurde digital begangen. Welchen Einfluss hat dieser kirchliche Digitalisierungsschub auf die zukünftige religiöse Praxis? Eine Bestandsaufnahme eines Theologen.
Inmitten der Coronavirus-Krise trifft das verordnete »social distancing« auch die Gottesdienste und Zusammenkünfte religiöser Glaubensgemeinschaften. Schlagartig vervielfältigen und dynamisieren sich religiöse Online-Praktiken in einer bis dato kaum erwartbaren Weise – und dies quer durch alle Religionen hindurch und offenbar fast so exponentiell wie das Virus selbst.
Brennpunktartig zeigen sich diese Dynamiken einer »Digital Religion« im Bereich der christlichen Kirchen in der vorösterlichen Zeit des Jahres 2020: Da entstehen zum einen eher klassisch anmutende Angebote einer »religion online«: Pfarrerinnen und Pfarrer stellen ihre Festtagspredigten ins Netz oder als Podcast zur Verfügung. Eine etwas elaboriertere Praxis besteht darin, Karfreitags- und Ostergottesdienste – »im vollen Ornat« von Pfarrperson, Organist und entsprechend ausgestattetem Kirchenraum – live zu streamen, und dies natürlich unter physischer Abwesenheit der Gemeindemitglieder.
Kirchlicher Digitalisierungsschub
Selbst wenn manches noch etwas unbeholfen wirkt, ist bereits ein kirchlicher Digitalisierungsschub zu konstatieren, der so bis vor wenigen Monaten schlichtweg undenkbar war. In vielen solcher Online-Praktiken zeigt sich bisher allerdings eine eher klassische Nutzung technologischer Möglichkeiten: Die religiösen Kommunikationsinhalte sind erst einmal mehr oder weniger identisch mit dem, was Kirche und ihre Repräsentantinnen und Repräsentanten schon seit jeher zu sagen hatten. Und der Verkündigungsraum bleibt – auch virtuell betrachtet – seltsam leer.
Demgegenüber sind für die aktuelle Erforschung »digitaler Religion« jene kreativen Praktiken weit interessanter, durch die ganz neue gemeinschaftsstiftende Formen erzeugt werden. Mittels einer Vielzahl von partizipativen Angeboten, beispielsweise Live-Kanäle, Chatforen, Hackathons und religiösen Influencerinnen und Influencern wird versucht, dem digitalen Medium selbst religiöse Qualität einzuhauchen. In Echtzeit werden gemeinsame Gebetszeiten vereinbart, vorösterliche Gedanken ausgetauscht und seelsorgerliche Gespräche abgehalten.
Eine erste Einschätzung solcher digitaler Schöpfungs- und Verwandlungsdynamiken religiöser Praxis ergibt: Der audiovisuelle Charakter gibt dem digital-religiösen Medium im wahrsten Sinn des Wortes ein Erscheinungsbild, das über dessen technische Funktion weit hinausgeht. Durch die partizipative Netzwerk-Praxis entstehen neue identitätsstiftende Kommunikationsräume. In diesen bestimmt die religiöse Nutzung den Charakter des jeweiligen digitalen Mediums und trägt zu dessen kreativer Weiterentwicklung bei – zu denken ist hier etwa an die in jüngster Zeit vermehrt angebotenen Gebets-Apps, deren Funktionen zugleich immer umfassender und auch interaktiver werden – so etwa die sogenannte »Rosenkranz-App«, die bewusst die aktive Vernetzung in und mit der globalen Gebetsgemeinde ermöglichen will. Nicht das klassische Mitgliedschaftsverhältnis ist der entscheidende Identitätsmarker, sondern die eigenständige Mitgestaltung wesentlicher religiöser und theologischer Lebensdeutungen. Dass solche neuen religiösen Kommunikationsräume inmitten der gegenwärtigen Corona-Pandemie für das Individuum höchst existenzielle Bedeutung entfalten, ist eindrücklich und faszinierend.
Frage nach Deutungsmacht
Dass damit ganz neue Herausforderungen für die »klassischen« Religionsinterpreten entstehen, eröffnet ein weiteres spannendes interdisziplinäres Forschungsfeld: Denn, wenn sich hier auf so selbstbewusste Weise theologische Produktivität »from the bottom« zeigt, drängt sich auch die Frage nach der Deutungskompetenz und damit der Lehrautorität »in Sachen Religion« auf. Kirchen und Religionsgemeinschaften sind jedenfalls dazu herausgefordert, diese »digital religious shapers« überhaupt erst einmal wahr- und ernst zu nehmen.
Ideen für das Online-Abendmahl
Und auch die bewährte Ritualpraxis könnte digital neue Aggregatzustände annehmen. Um die Dynamik dieses »religious shaping of technology« für die gegenwärtige Feiertagszeit weiterzuspinnen: Es dürfte nur noch eine Frage der Zeit sein, bis das karfreitägliche Abendmahl, die Osternachtfeier und die Erinnerung an die Auferstehung ganz neue virtuelle Liturgie-Formate generiert. Jedenfalls ist das Netz bereits voller Ideen zur Möglichkeit und Sachgemäßheit von Online-Abendmahlen. Dass dabei nicht zuletzt die alten theologischen Debatten um die Frage der »realen« Präsenz Christi erneut aufgenommen werden, ist von besonderer Eindrücklichkeit.
Es zeigt sich aber auch: Gerade in diesen Zeiten des gruppenbezogenen Kontaktverbots ist eine ganz bestimmte Dimension religiöser digitaler Praxis sozusagen auf vorösterliches Eis gelegt: Tatsächlich treibt viele die Sorge um, dass das individuelle Mitfeiern vor dem hauseigenen Laptop nur bedingt gemeinschaftsstiftende Wirkung hat – ganz abgesehen davon, dass die digitale Praxis natürlich auch diejenigen auszuschließen droht, für die dieses Medium fremd ist.
Forschungen zur Thematik sind bisher davon ausgegangen, dass die Relevanz und Nachhaltigkeit einer Online-Praxis immer auch von realen Begegnungen abhängig ist, da nur so wirklich eine Beziehungs- und Vertrauensebene geschaffen wird. Da dies nun aus genannten Gründen aktuell nicht möglich ist, reagieren religiöse Social-Media-Angebote darauf, indem zum Beispiel virtuelle Gebetgemeinschaften – wie etwa »Twaudes« (Wortschöpfung aus Twitter und Laudes) oder »Twomplet« (Wortschöpfung aus Twitter und Complet) – eingerichtet werden. Ähnlich wie die klassischen Hauskreise verbinden sie nun eben mehrere tausend Menschen zur digitalen Spiritualitätspraxis über das Netz.
Veränderte Praxis
Ob sich durch eine solche neue Begegnungskultur das religiöse Gemeinschaftsgefühl auf Dauer digital stabilisieren oder gar befeuern lassen wird, ist weiter zu erforschen. Aber sollte eine solches Gefühl von »believing and belonging« auf digitalen Wegen möglich werden – und vieles deutet bereits jetzt darauf hin – wird dies auch über die gegenwärtigen Zeiten hinaus das Erscheinungsbild der Religionen und ihrer gemeinschaftlichen Praxis mit Sicherheit erheblich verändern.
Und nicht zuletzt: Die unmögliche Gleichzeitigkeit von virtueller und realer Raumsphäre hat möglicherweise sogar mehr mit der Osterzeit zu tun, als sich auf den ersten Blick zeigt. Denn theologisch gesprochen, lebt die Karfreitags- und Osterverkündigung von einem hybriden Charakter von Leid, Kreuzestod und Trauer, der existenziell-personalen Begegnung am Ostermorgen einerseits – und vom geheimnisvoll Unverfügbaren und dem einstweilen »auf Hoffnung hin« Verkündigten andererseits. Warum sollten nicht gerade digitale Formen diese spannungsvolle Dynamik zeitgemäß zur Sprache bringen können?
Inwiefern stellt die Digitalisierung neue Instrumente bereit, auf denen alte Melodien (z. B. die Frohe Botschaft) spielbar sind, die insbesondere von „Digital Natives“ gehört werden können? Gibt es Glaubensinhalte (z. B. Taufe), die sich prinzipiell der Digitalisierung entziehen?
Es ist erstaunlich, wie schnell und erfolgreich die Digitalisierung in sogar solch recht schwerfälligen Einrichtungen wie der Kirche voranschreitet, sobald der digitale Weg die einzige Möglichkeit bleibt. Dasselbe sieht man ja momentan auch bei den zahlreichen Schulen, egal wie fern sie einem Online-Lehrangebot vor dieser Krise waren.
Ich sehe darin eine riesige Chance. Es ist wichtig, nach dieser schwierigen Phase nicht in alte Muster zurückzufallen, sondern daraus zu lernen.
Die bei jungen Menschen oft als verstaubt und altbacken wahrgenommene Kirche entdeckt so vielleicht ihre Rolle neu in einer eher atheistischen Gesellschaft – als Anregung zum Nachdenken, als Anstoß zu gesellschaftlicher und ethischer Selbstfindung, oder einfach als Zuhörer bei Problemen.