Wer schon einmal Medikamente zu sich genommen hat – und wer hat dies nicht getan? –, wird den Satz kennen, »zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker«, und so wird man wissen, dass zu einer Haupt- manch eine Nebenwirkung gehören kann. Allgemein kann man sagen, dass Errungenschaften eine Schattenseite mit sich bringen, konkret das Automobil den Ausstoß an Treibhausgasen und allgemein die Ohnmacht der Menschen im Anblick der Umweltzerstörungen, die anfallen, seit sie mit dem Willen zur Macht nach dem Wissen streben, dass ihnen dazu verhelfen soll.
Doch wo Gefahr wächst, wächst das Rettende auch, wie es in einem Gedicht von Friedrich Hölderlin heißt, und die amerikanische Historikerin Jennet Conant hat nun gezeigt, dass der Dichter sogar in schwierigen Situationen recht hat und sich das Rettende erst zeigen kann, wenn die Gefahr vorüber ist. Jennet Conant hat ein Buch mit dem Titel »The Great Secret« verfasst, das mit einem Angriff deutscher Truppen im Dezember 1943 auf die italienische Stadt Bari beginnt, bei dem Senfgas zum Einsatz kam, viele Schiffe zerstört wurden und über 1000 Soldaten und Zivilisten ihr Leben verloren. Ein amerikanischer Arzt namens Stewart Alexander kümmerte sich damals als Colonel um die Verwundeten, wobei ihm auffiel, dass einige Menschen erst Tage nach dem Bombenangriff Symptome zeigten. Seine Untersuchungen führten zu dem Ergebnis, dass sie nicht direkt von dem Giftgas der Angreifer betroffen waren, sondern dass im Gegenteil eigene Kampfstoffe ihre pathologische Wirkung zeigten, die von den Alliierten geheim gehalten und auf einem Schiff versteckt worden waren, das bei dem Luftangriff einen Treffer abbekommen hatte. Einer von den dort verborgenen Chemikalien hieß Stickstoffsenf, und eine genauere Untersuchung zeigte, dass die Spätschäden durch Kontakt mit dieser trotz ihres einfachen Namens komplizierten Substanz dadurch zustande kamen, dass sich die Zahl der weißen Blutzellen in den Leidenden verringerte.
Als der Krieg vorbei war, erinnerte sich Dr. C. P. Dusty, der zuvor als militärischer Vorgesetzter von Colonel Alexander gedient hatte und jetzt als Arzt in einem Krebsforschungsinstitut arbeitete, an die Beobachtungen aus Bari, und ihm kam der Gedanke, Blutkrebs mit dem Stickstoffsenf zu behandeln. Dusty wusste, dass Neoplasien und Leukämie mit einer erhöhten Zahl von weißen Blutzellen einhergingen, und warum nicht versuchen, sie durch Einsatz des ehemals versteckten und geheimen Stoffes zu verringern? Gesagt, getan – und so ist der Menschheit ein Mittel zugefallen, das als Chemotherapeutikum zur Bekämpfung von Krebserkrankungen eingesetzt werden kann. Vom Krieg in die Klinik, vom Tod zum Leben.
Wenn ich diesen Text lese, muss ich an die Redensart »Es gibt zwei Seiten einer Medaille« denken. Und ich befürchte, das ist überall so. Chemotherapie sind wichtig und das Wissen, wie diese entstanden sind, lässt einen etwas nachdenklich stimmen. Dennoch finde ich überwiegt hier das positive Gefühl meinerseits. Wie Frau Friedl bereits schon gesagt hat, ist die große Frage, ob es zu der Entdeckung jemals gekommen wäre, wenn es nicht als Waffe für einen Krieg hätte eingesetzt werden sollen? Es braucht immer etwas Negatives, um etwas daraus zu lernen oder positive Schlüsse daraus zu ziehen, ob es zuvor korrekt war oder nicht, das sei mal so dahin gestellt. Dennoch sollte es immer Wege und Möglichkeiten geben, das kleinste Übel aus etwas zu ziehen. In dem Fall des Stickstoffsenfs hat es “glücklicherweise“ diejenigen getroffen, die damit anderen schaden wollten.
Die Fähigkeit, aus der Not eine Tugend zu machen, gibt doch Hoffnung.
Womöglich gibt es eine Lösung für aktuelle Schwierigkeiten.
In diesem Text wird die Ohnmacht der Menschen im Anblick der Umweltzerstörungen angesprochen. So keimt in mir die Frage auf: Gibt es Grenzen des Machbaren? Gibt es wirkliche Grenzen oder wurde die richtige Lösung nur noch nicht gefunden?
Was unterscheidet das lösbare, das wandelbare Problem von dem bisher ungelösten Problem?
Es ist schön zu lesen und auch wichtig, dass an Stoffen wie dem hier genannten Stickstoffsenf geforscht wird und sie auch Jahre oder Jahrzehnte später noch für andere Zwecke wieder entdeckt werden.
Dass dies häufig innerhalb militärischer Forschung geschieht, ist ein zu diskutierender Aspekt. Würde es Stoffe wie den Stickstoffsenf überhaupt geben, wenn das Militär – wo bekanntermaßen das Geld fließt – daraus nicht irgendwann einmal eine Waffe hätte machen wollen? Oder auch: Braucht es Krieg und Militär für chemischen oder pharmazeutischen Fortschritt?
Es ist spannend, dass durch die zufällige Verletzung der Soldaten durch Stickstoffsenf eine Theorie zur Leukämie Therapie eröffnet wurde. Jedoch ist es auch sehr traurig, wie sich in der zufälligen Entdeckung Chancen für die Menschheit bieten. Dadurch würde ja impliziert wie viel mehr in der militärischen Forschung schlummert und wie viel mehr Wert die Regierenden der Welt auf Militärmacht, damit Krieg und damit Wirtschaft und Kapital legen und wie wenig im Gegensatz dazu für die Bevölkerung investiert wird, die ihnen diese Macht gibt. Man könnte argumentieren, dass der kriegerische Sieg für die Bevölkerung auch von Vorteil sein wird, aber was wäre, wenn es keine Grenzen mehr gäbe und damit einher kein kriegerisches Handeln mehr nötig ist. Die Forschung wäre vielleicht reicher, die Ergebnisse würden veröffentlicht und auch die Wirtschaft wäre freier und florierender.
Wenn es keine Grenzen mehr gibt, entstehen genau zwei Alternativen:
1. Anarchie – die als weltweites Prinzip nicht durchgesetzt werden kann. Da kein Mensch dasselbe wie der nächste will, kann das nur in einem diktatorischen Befehl enden und verliert sich selbst aus den Augen.
2. Weltdiktatur – Das Bedürfnis nach klarer Organisation, nach einer Alltagsstruktur an der wir uns klammern können, steht einem grenzenlosen Alltag vollständig gegenüber. Ich kenne keinen Staat, der keine Regierung hat, zunächst gleichgültig welche Art diese Regierung ist. Wenn es keine Grenzen gibt, dann – und ich rede nicht vom peinlichen Willen seine Macht zu erhalten – fällt die damit einhergehende Ordnung, Identifikation, räumliche Erlaubnis auf eigenständige Definierung durch Handlung, vollkommen weg.
Man muss bedenken, dass Menschen, allen voran im Kollektiv aber natürlich auch zum Teil individuell, Grenzen brauchen um eine Koexistenz überhaupt zu tollerieren. Mir geht es dabei nicht einmal nur um Bewegungen wie die Pegida oder Verschwörungstheoretiker, die dann von Umvolkung und dergleichen sprechen. Oder die behaupten, dass das Abendland vom Morgenland dominiert wird, auf so ein Geschwätz muss ich nicht ansprechen. Aber die Grenzen ermöglichen die negative Freiheit, sich in einer Weise zu positionieren, wie es ohne sie nicht möglich ist.
Ich kann nach Amerika auswandern, wenn ich der Meinung bin, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied ist, auch wenn er eigentlich kein Geld hat, sich ein gebrochenes Bein richten zu lassen und deswegen gar nicht schmieden kann….. Ich kann in China einwandern und damit sogleich eine völlig andere Welt von Werten, Zwängen und Freiheiten betreten. Gleiches gilt für Afrika. Ja, jeder Kontinent und ausdifferenziert jedes Land hat seine eigene Mentalität und Organisationsstruktur. Fielen die Grenzen weg, müsste man sich überall und ständig positionieren und das mündet in Krieg. Wir müssten nämlich alle gemeinsam existieren, anstatt den anderen in seinem Raum sein zu lassen.
Dabei haben wir freilich jetzt schon Probleme dieser Natur und früher genauso. Ist das wirklich in Ordnung Nazi-Deutschland machen zu lassen, weil es eben ein souveräner Staat ist, mit dem man koexistieren kann? Traurigerweise wurde lange nicht eingegriffen. Ähnlich ist es heute mit den Uigurenlagern in China. Selbst die Propaganda dahinter ist ähnlich. Eigentlich will man eingreifen. Aber solche Dinge sind jetzt getrennt voneinander zu beurteilen und irgendwann greift man ein oder nicht. – Gäbe es keine Grenzen währen solche Schwierigkeiten um ein vielfaches potenziert und es würde ständig in Krieg enden.
Wir und die Anderen ist das Konstrukt, an dem wir uns gegenseitig respektieren und verachten aber eben auch in Ruhe lassen können. Gibt es keine Grenzen ist niemand der Andere. Oder eben jeder. Um solche Kriege zu verhindern würde sich zwangsweise eine Diktatur bilden, die versucht die Welt zusammen zu halten. Ich bin sehr pessimistisch was das angeht. Ein Extrem bildet sich dann maximal heraus und jeder muss damit leben. Welches wird es sein? Ganz gleich wie die Antwort aussieht – der Großteil der Welt wird sich nicht damit identifizieren können und es würde nirgendwo hin mehr eine Fluchtmöglichkeit geben, weil es kein „Anderes“ mehr gibt.
In so eine grausame Welt will ich mich nicht hinein denken. Schnell weg hier.