Schule, Bildung, Arbeitswelt – nach Corona

Wie wird die Welt »nach Corona« aussehen? Werden wir – nachdem die Politik der Wirtschaft mit einem »Wumms« auf die Beine geholfen hat – wieder zur alten Normalität zurückkehren? Oder wird alles ganz anders ein? Was wird sich ändern? 

Zu den Erfahrungen der Corona-Krise gehört, dass vieles, was z. B. bei »Fridays for Future«, bei Klima- und Umweltschutz etc. lange gefordert, aber immer als »unmöglich« zurückgewiesen wurde, nun ganz schnell realisiert werden konnte. Die Forderung, auf Inlandsflüge zu verzichten, wurde als weltfremd abgetan; jetzt stehen die Flugzeuge ganz auf dem Boden – und die Welt dreht sich immer noch! Grund könnte die potentielle persönliche Betroffenheit sein: Bei Corona könnte ich selbst nächste Woche auf der Intensivstation liegen; aber was interessiert mich der Regenwald am Amazonas. Der Erklärungswert geht darüber hinaus: Entscheidend sind letzten Endes nicht die Beschlüsse der Politiker, sondern, ob die Menschen bereit sind, diesen Beschlüssen zu entsprechen. Wir selbst müssen ein Bewusstsein für die Risiken unserer Lebensweise ausbilden. Mentalitäten kann man nicht bewusst (= aus Einsicht in die Notwendigkeit) ändern, aber Corona könnte mit langfristigen Gewohnheiten (»Händeschütteln«, Mund-Nase-Schutz, »Faire la bise« u. v. a.) auch Mentalitäten umwandeln. Ob das so weit gehen wird, dass es zu spürbaren Veränderungen unserer Lebensweise kommt? Ob wir z. B. unser Reise- und Freizeitverhalten (Ischgl!) verändern werden, das ja mit ursächlich war für die Verbreitung? Nach einem Stau auf der Autobahn fahren alle besonders rasant, um, oft unbewusst, die verlorene Zeit aufzuholen, mit dem Ergebnis besonders vieler Unfälle. Nach Ende des Lockdown, so ist zu befürchten, werden viele glauben, die Gefahr sei ja vorbei, und sich, quasi kompensatorisch, unvernünftiger verhalten denn je. Andererseits könnte die Erfahrung der Pandemie aber auch stärkere soziale Kontrolle in Bezug auf das Risikoverhalten bewirken. Wo endet »zwischenmenschliche Achtsamkeit«, wo beginnt »Blockwart-Verhalten«? 

Im Folgenden bleibt der Bereich der Wirtschaft ausgespart. Zwar gilt auch hier, dass Corona viele ohnehin gegebene Entwicklungen sprunghaft beschleunigt. Aber es ist oft noch nicht zu entscheiden, welche Entwicklungen tatsächlich in Corona ihren Grund haben. (Beispiel Autoindustrie: Der Wandel war ohnehin überfällig.) Zweitens würde eine umfassende Darstellung den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Und last but not least sehe ich mich auf Grund eigener beruflicher Erfahrung als Didaktiker und Ausbilder von Lehrern für die Grundschule und die Sekundarstufe 1 an Hauptschulen sowie Sonderpädagogen an der Universität zu Köln »zuständig« für diesen Bereich. Das heißt auch: Wo im Folgenden nicht anderes gesagt wird oder ein Vergleich gezogen wird, denke man im Zweifelsfall weniger ans Gymnasium als an die Hauptschule. 

Nicht einfach wieder zur Vor-Corona-Situation zurückkehren wird man beim Digital learning bzw. Homeschooling. Auf die einmal aktivierten ideellen und materiellen Ressourcen, erworbenen Kompetenzen und erarbeiteten Materialien, Formate und Konzepte wird man nicht einfach wieder verzichten. Was sich bewährt hat, wird niemand nur für einmaligen Gebrauch gemacht haben wollen. So ist leicht zu vermuten, dass die Zukunft der Schule eine Kombination sein wird von Formen mit physischer Präsenz und virtuell-digitalen. (s. Barbara Gillmann, Larissa Holzki, Melanie Raid: Corona-Bildungslücke: Deutschland muss in Schulsystem investieren / Zukunft durch Bildung: Diese Schulen sind Vorbilder für Deutschland. Handelsblatt, 19.6.2020: https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/corona-defizite-zukunft-durch-bildung-diese-schulen-sind-vorbilder-fuer-deutschland/25924190.html)

Auf die konkreten didaktischen Entwicklungen kann hier nicht eingegangen werden; die Fülle digital-didaktischer »tools«, die engagierte Lehrer und die in der Lehrer-Ausbildung Tätigen entwickeln oder schon entwickelt haben, ist beeindruckend, um nicht zu sagen überwältigend. Ich verweise nur (auch aus eigen-biographischen Gründen) beispielhaft auf die Aktivitäten des »Zentrums für LehrerInnenbildung« (ZfL) an der Universität zu Köln. (s. https://zfl.uni-koeln.de; dort  z. B.:
• Das Schulnetzwerk im ZfL: Zukunft verbindet – Für die Schule von morgen.
• Digitaler Unterricht und neue Lernsettings sind über Nacht zur Regel geworden. Der #TeachingTuesday liefert Ihnen wichtige Impulse zur Gestaltung Ihres digitalen Unterrichts – vom Einsatz von Open Educational Resources über Good-Practice-Beispielen aus der Schule bis hin zum Thema Digitale Ethik.
• Die Corona-Maßnahmen verändern den Arbeitsalltag: Home Office wird zum Regelfall, digitale Führung ist wichtiger denn je. Beim #WorkingWednesday sprechen wir mit Experten über die veränderte Arbeitswelt und die Herausforderungen und Chancen, die diese Zeit mit sich bringt.)

Die Schüler 

Entgegen landläufigen Meinungen ist es weniger die Hardware, die Probleme bereitet und deshalb in den Medien in spektakulären Berichten behandelt wird – wobei dieser Aspekt selbstverständlich bei benachteiligten Schülern ganz erheblich ist. Das technische »häusliche Lernumfeld, das im Kontext des Homeschoolings deutlich an Bedeutung gewonnen hat, ist in den meisten Fällen gut. 90 Prozent der Zwölfjährigen hatten im Jahr 2018 einen eigenen Schreibtisch und 89,6 Prozent Zugang zu einem Laptop oder PC. Allerdings stellt sich die Lage bei den Kindern aus bildungsfernen Familien, Familien im Arbeitslosengeld-2-Bezug und Familien mit Migrationshintergrund in beiden Fällen ungünstiger dar.« (Institut der deutschen Wirtschaft: IDW-Report 15/2020: Häusliches Umfeld in der Krise: Ein Teil der Kinder braucht mehr Unterstützung. Köln, 20.4.2020: https://www.iwkoeln.de/studien/iw-reports/beitrag/wido-geis-thoene-ein-teil-der-kinder-braucht-mehr-unterstuetzung.html)

Problematischer ist das soziale häusliche Umfeld der Schüler. Es ist extrem verschieden in sozialer Differenzierung wie auch im Vergleich Deutschland, Österreich und Schweiz, wie gut die Schüler erreicht werden und mitarbeiten, wie groß ihr Lernengagement oder wie groß die Unterstützung durch die Eltern ist etc. In Deutschland sind es nur 50 Prozent , die keine der digitalen Präsenzzeiten versäumen. (Wie ist es da eigentlich mit der Durchsetzung der Schulpflicht?) Nur 34 Prozent der Lehrer berichten in Deutschland, dass die Kinder und Jugendlichen zuhause regelmäßig an ihren Aufgaben arbeiten, etc. (Das Deutsche Schulbarometer Spezial – Robert-Bosch-Stiftung 2020/04: https://deutsches-schulportal.de/unterricht/das-deutsche-schulbarometer-spezial-corona-krise/) In Österreich und der Schweiz sind die Werte höher … 

Betrachtet man den gleichen Sachverhalt aus der Perspektive der Schüler, zeigen sich ganz andere Ergebnisse: Über 2000 Schülerinnen und Schüler, die im Schnitt 17 Jahre alt waren und überwiegend das Gymnasium besuchten, wurden befragt, welche Lernmethode sie für die effektivste halten. 42 Prozent sagten, mit Videos und Erklärclips im Internet lernten sie am besten. Nur für 27 Prozent war der Klassen-Unterricht die beste Wahl. Die Welt der Jugendlichen ist bereits weit »digitaler« als die Realität der Schule. Und offensichtlich gibt es eine soziale Differenz bzw. eine Differenz zwischen den Schulformen. Im Ergebnis ist das manifest als Differenz zwischen den Schülern, die etwas lernen wollen (und in diesem Alter auch bereits gelernt haben, wie man selbstständig lernt) und denen, die nur ihrer Schulpflicht genügen. (Engels, Barbara; Schüler, Ruth Maria: Bildung digital? Wie Jugendliche lernen und Schulen lehren. IW-Trends 2/2020 ; Institut der deutschen Wirtschaft. Juni 2020: https://www.iwkoeln.de/studien/iw-trends/beitrag/barbara-engels-ruth-maria-schueler-wie-jugendliche-lernen-und-schulen-lehren-470699.html)

Die Schere öffnet sich

Wenn im Bereich Hauptschule eine erhebliche Zahl der Lehrer berichtet, dass sie zu einem bestimmten Teil der Schüler gar keinen Kontakt mehr haben, während am Gymnasium die Schüler auch die neuen Möglichkeiten nutzen und während von Privatschulen berichtet wird, dass der Unterricht vollumfänglich weitergeht, nur eben jetzt digital und dabei noch effektiver als vorher analog, dann zeigt das: Eine, wenn nicht die zentrale Folge von Corona wird sein, dass sich die (ja auch schon von PISA und IGLU festgestellten, im Vergleich zu anderen Ländern ohnehin besonders großen) sozialen Chancen-UN-Gleichheiten im Bildungssystem noch weiter verstärken. 

Die Eltern 

Es sind die Eltern, die hier Einfluss nehmen müssten. Freilich sind dazu nicht alle Eltern in der Lage (und das ist der Hauptgrund für die Chancen-UN-Gleichheiten). Die Gründe dafür reichen von materiellen Defiziten (fehlende Endgeräte, beengte Wohnverhältnisse etc.) über fehlende Sprachkenntnisse und das niedrige Bildungsniveau der Eltern bis zu grundsätzlich negativen Einstellungen zu Bildung. (Man vergleiche die extrem unterschiedlichen Bildungsanstrengungen asiatischer und orientalischer Migranten.)

Aber auch in anderer Hinsicht zeigen sich Corona-Folgen. Lehrer berichten von Eltern-Gesprächen ganz neuer Qualität, da diesen Eltern im Homeschooling erfahrbar wurde, dass die schulischen Probleme ihres Kindes nicht auf die früher unterstellten Ungerechtigkeiten oder Unfähigkeiten der LehrerIn zurückgehen, sondern tatsächlich Probleme ihres vielleicht doch nicht hochbegabten Kindes sind! Und Lehrer goutieren die durch die Erfahrungen des Homeschooling bei den Eltern erzeugte neue Wertschätzung der Lehrer-Tätigkeit. Den Eltern ist klar geworden, dass »Unterrichten« nicht etwas ist, was sowieso jeder kann, sondern ein Beruf, den man lernen muss. Die Diffamierungen des Lehrerberufs (»Lehrer haben vormittags recht und nachmittags frei«), oder auch den Satz des früheren SPD-Vorsitzenden und Kanzlers Schröder, Lehrer seien »faule Säcke«, hört man inzwischen seltener …

Bereits jetzt kontrovers diskutiert wird ein Aspekt, der besonders dort brisant wird, wo Homeschooling und Homeoffice zusammen treffen: Einmal mehr sind es die Frauen, die wieder in eine Rolle gedrängt werden, die sie überwunden geglaubt hatten. 

Die Lehrer 

Die Probleme der Lehrer gründen zunächst in der unzureichenden technischen Ausstattung der Schulen, die zur Nutzung privater Hardware zwingt. Nach einer GEW-Umfrage nutzen 90 Prozent der Lehrkräfte im Unterricht ein privates Notebook. (Klein, Susanne: Öffentlicher Dienst am Privat-PC. Süddeutsche Zeitung, 4.6.2020.) Das kann auf die Dauer keine Lösung sein, denn die Situation ist bereits arbeitsrechtlich paradox: Wenn Lehrer in Ermangelung schuleigener Ressourcen Dienste wie WhatsApp, Zoom, Microsoft-Teams oder ihre privaten E-Mail-Konten nutzen, drohen ihnen (Beispiel: Thüringen) Bußgelder bis zu 1000 Euro. Aber die Schulen haben nicht die Mittel, ihnen dienstlich Hard- und (legal) Software zur Verfügung zu stellen. Datenschutz-Katastrophen sind programmiert, da auf den mit »Zoom« etc. »öffentlich« operierenden Computern auch Prüfungsaufgaben, Notenlisten und Begutachtungen gespeichert sind. Und da sie meist bessere Computerkenntnisse haben als die Lehrer, sollten die Schüler keine allzu großen Schwierigkeiten haben … (!) Denn das ist der zweite, gravierendere Grund für Probleme: die unzureichende digitale Qualifikation. Dass, per E-Mail Arbeitsblätter zu verschicken, noch keine »digitale Lehre« ist, hat sich inzwischen herumgesprochen. Das ist weitgehend (aber nicht nur!) eine Generationenfrage, die »digital natives« haben da zunehmend weniger Probleme. Technisch können die Lehrer zudem vielfach darauf vertrauen, dass ältere Schüler ihnen erklären werden, »wieʼs geht«. Auf jeden Fall erzwingt Corona einen »Sprung vorwärts« in einer sonst eher langsamen Entwicklung. Der Didaktiker sieht die Vorteile: digital teaching / learning kann (!) mehr Differenzierung und Individualisierung ermöglichen als Präsenz-Unterricht im Klassenzimmer und so den unterschiedlichen Lernständen, Lerntempi und Lernweisen der Schüler besser entsprechen. Oder anders: Die seit Jahren geforderte (und als in der Realität nicht möglich angesehene) individuelle Förderung der Kinder ist digital leichter möglich. (Hettesheimer, Merle: Wie wir morgen leben. Smarte Mobilität, digitale Bildung und nachhaltige Wirtschaft;  Risopp, Isabelle: Wege zum digitalen Unterricht. Was wir heute schon tun können. Beide in: Zentrum für LehrerInnenbildung an der Universität zu Köln (Hg.): Das Ende der Kreidezeit. Bildung auf dem Weg in die Zukunft. Themenheft # future 19. Köln, Juni 2020: https://zfl.uni-koeln.de/sites/zfl/Publikationen/ZfL-Broschueren/themenheft-future19.pdf)

Die öffentliche Diskussion blendet derlei gern aus: Lehrerinnen berichten geradezu erlöst, wie befreiend es ist, im »Unterricht« der Hauptschule nicht von der Disziplinierung pubertärer Dauer-Störer absorbiert zu sein oder sich von 14-, 15-jährigen Jung-Machos, die sich »von einer Frau nichts sagen lassen«, als »Schweinefleischfresserin« oder als »F…«  bezeichnen zu lassen: »Ich f… deine Mutter!« Komplementär schätzen auch Schülerinnen und Schüler den Wegfall von Schulhof-Mobbing. 

Hier zeichnen sich disparate Veränderungen, sogar Verwerfungen im Charakter des Systems Schule ab. Im Ergebnis wird es zu einer Diskussion führen, welche der Aufgaben, die Politik und Gesellschaft über Jahrzehnte dem System Schule aufgebürdet haben – immer mehr und immer noch etwas Neues, bis zur kompletten »Entlastung« der Eltern, als hätten sie gar keine Kinder – tatsächlich genuine Aufgaben der Schule sind und welche nicht. Oder anders: Wenn man die Hauptfunktion der Schule nicht darin sieht, »Bildung und Erziehung« zu vermitteln, sondern darin, die Eltern von der Anwesenheit ihrer Kinder zu befreien, dann sollte man das auch so sagen – und dem Rechnung tragen.

Hochschule 

Was an den Schulen geht, sollte doch aufgrund der höheren »Reife« der Studierenden erst recht kein Problem sein. Aber andererseits könnte sich das Problem hier noch deutlicher ausformen. Der Deutsche Hochschulverband hat dieser Tage Unterschriften gesammelt für einen Aufruf zur Beibehaltung der Präsenzlehre an Hochschulen bzw. die schrittweise Rückkehr zu Präsenzformaten: »Was die Schulen zu leisten in der Lage sind, sollte auch Universitäten möglich sein: Die Integration von Elementen der Präsenzlehre, etwa in kleineren Gruppen in größeren zeitlichen Abständen, je nach Bedarf, je nach lokalen Gegebenheiten.« (s. https://www.praesenzlehre.com/) (Wohlgemerkt: Integration von Elementen der Präsenzlehre in die digitale Lehre – nicht umgekehrt!) 

Über 2500 Hochschullehrer haben sich bereits beteiligt; die Argumente sind nachvollziehbar. Doch die Aktion zeigt die Befürchtungen, dass die Kultusministerien, die Kosteneinsparungen im Auge, den Anteil der Präsenzlehre zurückdrängen wollen. Allerdings haben auch schon »vor Corona« mancherorts die Ministerien – oft gegen den Widerstand der Hochschullehrer – versucht, die Präsenzlehre an der Universität (hier im Sinne der Anwesenheitspflicht bei Lehrveranstaltungen) zurückzudrängen. Eher unerwartet gibt es auch bei der digitalen Lehre im Hochschulbereich einen Aspekt, den man eigentlich (nur) bei den Videokonferenzen von Unternehmen erwartet. In einem letztlich komplementären Vorgang beobachtet man bei digitalen Lehrformaten (z. B. »Zoom«), dass die Studierenden oft ihre Kamera abschalten, weil sie den Lehrenden keinen Einblick in ihr (im Hintergrund sichtbares) Privatleben geben wollen. Anderseits versuchten Hochschulen (z. B. die »Leuphana«) die Studierenden vor der Kamera zu »angemessener Kleidung« zu forcieren – im Wesentlichen vergeblich. 

Homeoffice: Die Kaskade 

Durch das häufige Zusammentreffen von Homeschooling und Homeoffice gibt es nicht nur Kombinationseffekte, sondern es zeigt sich, dass gesellschaftlich alles mit allem zusammenhängt. Die Corona-Veränderungen können ganze Kaskaden an Folge-Veränderungen auslösen. Am Ende der Quarantäne-Maßnahmen in Deutschland hat ungefähr ein Viertel aller Beschäftigten im Homeoffice gearbeitet. (In anderen Ländern, z. B. Japan, ist die Akzeptanz deutlich geringer – eine interkulturelle Irritation mehr.) Damit dürfte etwa die Quote erreicht sein, bei der das sinnvoll möglich ist. Viele Firmen haben sich bisher dagegen gewehrt, manche sicher auch, weil sie – zu Recht! – die Veränderung betrieblicher Hierarchien und einen »Machtverlust« für Büro-Autokraten fürchteten. Nun haben sie die Erfahrung der Vorteile gemacht, von der oft sogar höheren Produktivität bis dahin, dass weniger teurer Büroraum benötigt wird, was Einsparungen bedeutet. Folge: Die Nachfrage nach Büro-Immobilien in den Städten sinkt. Und die Büros müssen auch nicht mehr im Zentrum der Städte liegen, sie können auch in den Vorstädten liegen. Und bei den »neuen Büros« stehen weniger die individuellen »Arbeitsplätze« im Focus als die Möglichkeiten für den Austausch zwischen den vielleicht tageweise zwischen Homeoffice und Präsenz wechselnden Mitarbeitern. Andererseits steigt die Nachfrage nach größeren Wohnungen, in denen, u. U. für beide Ehepartner, (als Arbeitszimmer steuerlich absetzbar) ungestörtes Homeoffice möglich ist. Die aber können wiederum, weil der Weg zur Arbeitsstätte wegfällt (Kosten, Zeit), auch auf dem Land sein. (Wer aktuell Immobilien kauft …) Zugleich sinken durch den geringeren Pendler-Verkehr die Schadstoffbelastung der Luft und die damit verbundenen Gesundheitsschäden. Und wieder andererseits geht so die Nachfrage nach Autos zurück und gehen Arbeitsplätze in der Autoindustrie verloren. Arbeitslose belasten die Sozialetats, besonders die der Kommunen. Und so immer weiter … Die Bilanz per Saldo? Das wissen wir vielleicht in zehn oder zwanzig Jahren. 

Die konkreten »Lebensformen« im Homeoffice sind so vielfältig wie unabsehbar. Während der Versuch von Hochschulen (»Leuphana«), die Studierenden vor der Kamera zu »angemessener Kleidung« zu forcieren (s. o.) (einstweilen?) vergeblich war, ist derlei im Homeoffice möglich. Die Mode- und Textilindustrie reagiert bereits: So, wie man auf den Laufstegen von Chanel, Dior, Prada bereits Models mit schickem Mundschutz sieht, so gibt es bereits Angebote für ein »Home-Business-Dress (w/m/d)«. Die Textilindustrie gehört ohnehin zu den Profiteuren der Krise, da im Homeoffice wegen veränderter Ernährungsgewohnheiten (Wegfall Kantine, Selbst-Kochen = größere Portionen, Dauer-Nähe des Kühlschranks …) die Hosen enger werden. Bei einer Umfrage der »mhplus Krankenkasse« und der »SDK Süddeutschen Krankenversicherung« gaben Mitte April 37 Prozent der befragten Arbeitnehmer an, sich im Homeoffice ungesünder zu ernähren. 

Historischer Zusammenhang

Das Beispiel Homeoffice ist in seiner Bedeutung nur zu verstehen, wenn man die Entwicklungen in ihren größeren historischen Zusammenhängen sieht. Nicht erst durch digital tracking, sondern schon längst durch die »neuen Medien«, Internet etc. hat sich das Konzept von Privatheit bzw. Intimität als historische Episode der bürgerlichen Gesellschaft erwiesen, die im 18. Jahrhundert ihren Ursprung hatte und inzwischen zu Ende ist. Ebenso ist die kategoriale, bewusstseinsmäßige Trennung von Arbeit und Freizeit, für die ihre räumliche Trennung nur Ausdruck ist, nicht mehr durchzuhalten. Auch sie war Aspekt der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft im 18. Jahrhundert. Wie für historische Veränderungen typisch, wird sich die praktische Auflösung dieser kategorialen Trennung zuerst bei bestimmten Gruppen durchsetzen, aber als Veränderung des Bewusstseinsmusters breiter wirksam werden. Was aus Sicht der bisherigen Trennung die gegenseitige Durchdringung von Arbeit und Freizeit ist, könnte die zunehmende Aufhebung der kategorialen Trennung sein. Die Nutzung von Programmen wie »Zoom«, die sich beruflich für virtuelle Konferenzen bewährt haben, kann im privaten Bereich fortgesetzt werden. Ich kenne eine Familie mit fünf erwachsenen, weit entfernt voneinander lebenden Kindern (mit Enkeln etc.) die, nachdem es sich im beruflichen Kontext bewährt hatte, nun einmal pro Woche »jour fixe« per »Zoom« ein virtuelles Familientreffen halten – was real völlig unmöglich wäre. Es werden – wie bei den Kontakten in der Quarantäne – nicht analog-reale Kontakte durch digital-virtuelle willkürlich »ersetzt«, sondern sie sind überhaupt nur so möglich. Schon immer bedeuteten Krisen einen Schub für historische Prozesse. So zeichnet sich einmal mehr ab, dass Corona im Mikro- wie im Makrobereich nicht völlig neue Entwicklungen veranlasst, sondern Entwicklungen, die ohnehin »unterwegs« waren, vorantreibt. Corona beschleunigt also schubhaft einen seit Langem zu beobachtenden Prozess, in dem körperlich-sinnliche Kontakte und Erfahrungen durch vermittelte, symbolische ersetzt werden. Das ist freilich ein sehr langfristiger zivilisatorischer Prozess, den schon Norbert Elias beschrieben hat. (vgl. Schön, Erich: Der Verlust der Sinnlichkeit. Stuttgart 1987 / 1993.)

Die historische Spezifik des aktuellen Moments in diesem langfristigen Prozesses liegt darin, dass die Erfordernisse der Pandemie heute auf die technischen Möglichkeiten der Digitalisierung und – perspektivisch – der künstlichen Intelligenz treffen.