Missbrauch von Begriffen per Umdeutung

In einer Demokratie ist es möglich und legitim – und das ist ein Kennzeichen von Demokratie –, andere Meinungen zu vertreten als die Mehrheit. Wer in einer Demokratie eine andere Meinung vertritt als die Mehrheit, ist deshalb nicht »im Widerstand« oder ein »Widerstandskämpfer« und lebt auch nicht in einer »Diktatur«. Deshalb hat er auch kein Recht, sich über das Gesetz zu stellen und beispielsweise gegen das Gewaltmonopol des Staates zu verstoßen. In einer Demokratie gilt das Mehrheitsprinzip, aus dem folgt, dass Gesetze, die für alle gleichermaßen gelten, mit parlamentarischen Mehrheiten beschlossen werden. In einem Rechtsstaat wie der Bundesrepublik Deutschland hat eine Minderheit die Möglichkeit, Gesetze von unabhängigen Gerichten daraufhin prüfen zu lassen, ob sie der Verfassung, also dem Grundgesetz, gerecht werden. Und natürlich haben Minderheiten in einer Demokratie das Recht, für ihre Meinungen zu werben, um die Mehrheit davon zu überzeugen und ihre Meinungen womöglich so mehrheitsfähig werden zu lassen – dieses Werben muss allerdings im rechtlich zulässigen Rahmen erfolgen. Und wenn dieses Werben die Mehrheit nicht überzeugt und die Mehrheitsverhältnisse sich nicht umkehren lassen, dann muss ein Demokrat das hinnehmen.

Diese Gedanken sind keine Offenbarung, sie gehören zum Grundwissen eines jeden Demokraten und zur Grundlage eines jeden Rechtsstaates. Die Mühe, sich solch ein Wissen anzueignen, sollte man sich schon geben, wenn man als Staatsbürger die Privilegien genießt, die der Rechtsstaat uns allen bietet.

So weit, so gut. Wie kommt es nun, dass eine viel zu erkleckliche Zahl Protestierer gegen die Corona-Gesetzgebung sich »im Widerstand« wähnt, sich als Opfer einer »Corona-Diktatur« stilisiert? Lässt sich das rhetorisch beschreiben, fassen, klären?

Historisch klingt in dem Begriff »Widerstand« an, was Widerstandskämpfer gegen Hitlers Diktatur auf den Weg zu bringen versuchten. Einer Diktatur ein Ende setzen zu wollen – unter Einsatz des eigenen Lebens, mit hohem Risiko für die eigene Familie –, das ist moralisch hochstehend, und so wollen sich diejenigen gern sehen, die sich nun »im Widerstand« wähnen. Wer aber riskierte sein Leben, wenn er in dem heutigen Deutschland auf die Straße geht, demonstriert und seine – noch so abstrusen – Parolen auf Pappschilder oder Banner schreibt? In einer Diktatur, in autoritären Regimen kämen die Menschen nicht in den Genuss solcher demokratischer Bürgerrechte – aktuelle Beispiele dafür gibt es leider genug, von Belarus bis Myanmar. In der Bundesrepublik Deutschland vom »Widerstand«, gar gegen eine Diktatur zu reden, ist entweder Verblendung oder böse, lügnerische Propaganda, eine klare Verdrehung der Tatsachen und eine Umdeutung von Begriffen.

Um die rechtliche Bedeutung des Begriffes »Widerstand« zu erschließen, lohnt sich die Lektüre der entsprechenden Rechtstexte. Mit dem Grundgesetz wurde, auch aufgrund der Erfahrung mit der Nazi-Diktatur, ein Recht auf Widerstand der Bürger gegen den Staat etabliert – allerdings in einer genau definierten Situation; der Artikel 20 und speziell sein Absatz 4 legen fest: 
(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.
(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.
(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.
(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.
Rechtmäßigen Widerstand können die Deutschen also dann üben, wenn die verfassungsmäßige Ordnung von jemandem beseitigt, also das Grundgesetz abgeschafft werden soll, oder wenn Legislative oder Exekutive sich nicht an Recht und Gesetz hielten – und dies rechtfertigt Widerstand nur dann, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist. Die Prüfung von Corona-Maßnahmen durch das unabhängige Bundesverfassungsgericht ist nicht zu dem Urteil gekommen, der Staat hätte gegen die verfassungsgemäße Ordnung verstoßen – und diese Maßnahmen dienen schon gar nicht dazu, die staatliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland abzuschaffen. Abhilfe wäre möglich – zum Beispiel dann, wenn sich bei Wahlen, wie zuletzt mit der Bundestagswahl, Mehrheiten gebildet hätten, die einen anderen Umgang mit der Pandemie in regulären Gesetzgebungsverfahren auf den Weg gebracht hätten. Die gesetzlichen Voraussetzungen für das Recht auf Widerstand sind nicht erfüllt, also ist auch kein Recht auf Widerstand gegeben. Benützt man trotzdem den Begriff, versucht man, ihn umzudeuten. 

Gegner einer Impfpflicht führen häufig an, mit ihr werde gegen Artikel 2 des Grundgesetzes verstoßen, in dem die körperliche Unversehrtheit garantiert werde. Auch bei dieser Frage ist es ratsam, den Text des Grundgesetz-Artikels 2, insbesondere Absatz 2, genau zu lesen: 
(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden. 
Die Rechte, die hier garantiert werden, sind sogenannte Grundrechte; wichtig ist, dass klargestellt wird, wodurch diese Grundrechte eingeschränkt sind oder werden können: Die »freie Entfaltung der Persönlichkeit« findet ihre Grenzen eben dort, wo sie die Rechte anderer verletzt oder gegen »die verfassungsmäßige Ordnung« (also gegen Gesetze) oder gegen »das Sittengesetz« verstößt. Sogar die »körperliche Unversehrtheit« und »die Freiheit der Person« gelten nicht uneingeschränkt – sie dürfen eingeschränkt werden, aber nur auf der Grundlage eines Gesetzes. Sollte also auf einem der Verfassung gemäßen Weg ein Gesetz erlassen werden, das den Bürgern eine Pflicht zur Impfung gegen Corona-Viren auferlegt, so ist das rechtmäßig; Zweifel können, wie stets, dem Bundesverfassungsgericht vorgetragen werden. Kritik an solch einem Gesetz ist ebenfalls legitim, begründet aber kein vermeintliches »Recht auf Widerstand«. Nebenbei bemerkt: Gesetzliche Impfpflichten gab es in der Bundesrepublik schon früher, z. B. gegen Pocken und Diphterie, und gibt es, seit 2020, gegen Masern.

Die in der Debatte um Corona-Maßnahmen und um eine Impfpflicht von manchen Gegnern vorgetragenen Behauptungen, sie befänden sich »im Widerstand« gegen eine »Corona-Diktatur« und stemmten sich – im Dienste der Demokratie, zu ihrem Schutz gar – gegen diese Maßnahmen, da sie undemokratisch wären, diese Behauptungen lassen sich also schon mithilfe eines Blickes in die einschlägigen Grundgesetzartikel widerlegen. Bundespräsident Dr. Frank Walter Steinmeier hat dazu am 12.1.2022 in einer Rede Folgendes angemerkt: »Es gibt Menschen, die sagen: Wir haben in Deutschland eine ›Corona-Diktatur‹. Das ist bösartiger Unfug! Denn darin steckt nicht nur Verachtung für unsere demokratischen, rechtsstaatlichen Institutionen. Sondern darin steckt auch eine Beleidigung von uns allen! Wir kämpfen uns Monat für Monat durch diese Pandemie, aber eben nicht, weil wir mit eiserner Hand gelenkt und gesteuert werden, sondern weil die große Mehrheit immer wieder darum ringt, das Richtige zu tun, verantwortlich zu handeln, solidarisch zu sein.« (https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2022/01/220112-Impfpflicht-Diskussion.html)

Warum werden dann aber solche Behauptungen aufgestellt?

Vermutlich wissen viele derjenigen, die solche Behauptungen aufstellen, schlichtweg nicht, was sie damit eigentlich sagen, sie benützen die Begriffe wie »Widerstand« oder »Diktatur« ohne Wissen, sie haben sich nicht die Mühe gemacht, ihre Behauptungen kritisch zu prüfen und auch nur einmal mit den grundgesetzlichen Bestimmungen abzugleichen. Wie kommen sie dann aber zu solchen Behauptungen? Zu fürchten ist, dass sie schlichtweg nachplappern und übernehmen, was andere ihnen einflüstern. Und leider gibt es in unseren Parlamenten Abgeordnete und Parteien, die gezielt Propaganda in diese Richtung betreiben. Als kritische Einstiegslektüre darüber sei Heinrich Deterings Analyse »Was heißt hier ›wir‹? Zur Rhetorik der parlamentarischen Rechten« (Literaturangaben s. u.) empfohlen. Und nicht nur die parlamentarische Rechte betreibt ihre Propaganda, auch andere Rechtsextreme und -radikale, die nicht in deutschen Parlamenten vertreten sind, agitieren und zündeln und bedienen sich dabei einer bösen, manipulativen Rhetorik, die sich anlehnt an bekannte Motive nationaler »Revolutionsrhetorik«. (vgl. Fuchs, Christian: Ein inszenierter Aufstand. Wie Rechtsextreme versuchen, die Anti-Corona-Proteste für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. In: Die Zeit, Nr. 3, vom 13. Januar 2022, S. 2; online unter: https://www.zeit.de/2022/03/corona-proteste-rechtsextremismus-identitaere-bewegung; Abruf am 13.1.2022.)

Zu solch einer »Revolutionsrhetorik« gehört eine »semantische Entwertung und Umdeutung von Schlüsselbegriffen des politischen Diskurses«, stellt Bernhard Huss in einer Analyse der Sprache des italienischen »Duce del Fascismo« und Diktators Benito Mussolinis heraus und hält fest: »Die semantische Entleerung wird kompensiert durch die gesteigerte Rolle und Perfektionierung der Äußerlichkeiten des rhetorischen Aktes.« (Huss, Bernhard: Revolutionsrhetorik. V. Italien. 4. 20. Jh. In: Ueding, Gert (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 7: Pos—Rhet. Tübingen: Max Niemeyer, 2005. Sp. 1353.) Zu den Äußerlichkeiten des rhetorischen Aktes können lautstarkes Gebaren, Überbetonung, Kunstpausen vor Phrasen u. ä. zählen, die auch »semantisch schwache Elemente […] mit vager, Erwartung weckender Bedeutung auflädt« (a. a. O., Sp. 1354.)

In rechtsgerichteten, gar rechtsextremen Kreisen werden Werte und Ideale, die in der Nachkriegsgeschichte zur Abgrenzung von der nationalsozialistischen Katastrophe hochgehalten wurden, z. B. »Demokratie« und »Widerstand«, vorgeblich adaptiert, aber in ihrem Kern umgedeutet und somit missbraucht. Mit solch einer Umdeutung sollen »Begriffe besetzt« und dem politischen Gegnern entrissen werden – ein bewährter Schachzug politischer Propaganda (vgl. »Propaganda«. In: Ueding, Gert (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 7: Pos—Rhet. Tübingen: Max Niemeyer, 2005. Sp. 266—290.). Wie das früher schon die Nazis betrieben und »vorgemacht« haben, darüber gibt es eine Vielzahl Untersuchungen, aber beides, die Praktiken in jener Zeit und noch weniger die Untersuchungen, dürften noch vielen präsent sein. Da könnte es sich lohnen, ältere Schriften wie Viktor Klemperers »LTI« (Lingua Tertii Imperii), eine Analyse der Sprache des Nationalsozialismus, oder Dolf Sternbergers »Aus dem Wörterbuch des Unmenschen« (Literaturangaben s. u.) wiederzulesen.

Über solche Lektüren hinaus: Was kann man der Umdeutung von Begriffen entgegensetzen, was hilft einem, solch Umdeutungen zu durchschauen? Aufklärung, Bildung und Urteilskraft, kritisches Denken und argumentative Auseinandersetzung wären zumindest Versuche wert – in dem Wissen, dass manch Wahn unheilbar ist. 

Eine Auseinandersetzung lässt sich leider mit sehr verbohrten und verblendeten Leuten kaum oder manchmal auch gar nicht mehr führen. Doch was könnte man entgegenhalten, wenn jemand z. B. behauptet, dass es den Corona-Virus oder eine durch ihn verursachte Erkrankung nicht gäbe oder dass die Virus-Erkrankung einer »harmlosen Grippe« gleichkäme?

Man könnte es mit einer Folge von Fragen und einer Argumentationskette versuchen, etwa so:
»Wenn Sie davon ausgehen, dass viele Experten, Politiker, Medien, Bürger die Corona-Lage falsch einschätzen, dann geht ja Ihrer Einschätzung die allgemeine Annahme voraus, dass Menschen sich nicht sicher sein können, im Besitz der Wahrheit zu sein, dass sie sich irren können, manchmal sich in große Irrtümer verrennen und geradezu verblendet sind – und dass genau solch ein großer Irrtum, solch eine Verblendung hier vorliegt. Richtig?«

Nehmen wir an, der Corona-Leugner stimmt dem zu; dann könnte er als nächstes gefragt werden:
»Wenn sich Menschen an sich irren und verrennen können, gilt das für alle Menschen – also auch für Sie und mich – oder nur für alle anderen?«

Wenn das Gegenüber einen eigenen Irrtum grundsätzlich ausschlösse, wird sich eine Fortsetzung des Gespräches kaum lohnen – wer im Besitz absoluter Wahrheit ist und nie irrt, mit dem kann man nicht diskutieren, der hat »gefühlt« immer recht – auch bei seinen Umdeutung von Begriffen. Stimmt das Gegenüber indes zu und sieht an sich die Möglichkeit, dass es sich auch irren könnte, dann wäre die nächste Frage:
»Ist es also an sich möglich, dass Sie selbst sich mit Ihrer Einschätzung der Corona-Lage irren könnten?«

Sollte das vom Corona-Leugner eingeräumt werden, dann könnte weitergefragt werden:
»Welches Datum, welches Faktum, welche Fakten könnten, sollten sie nachgewiesen werden, Ihre Einschätzung widerlegen und Sie zu einer Überarbeitung Ihrer Position bringen? Gibt es irgendeine Quelle, durch die Sie eine Widerlegung akzeptierten?«
Werden dann nur Quellen aus der Szene der Corona-Leugner oder anderer dubioser, verschwörungstheoretischer Quellen angegeben, dann kann man darauf hinweisen, dass diese Quellen zweifelhafter Herkunft sind, wissenschaftlich nicht ausgewiesen und nicht akzeptiert. Ließe der Corona-Leugner andere Quellen gelten, wäre es möglich, ihm seinen Irrtum vor Augen zu führen und ihn zu widerlegen. Es könnten z. B. internationale Organisationen wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) angeführt werden, die auf ihren englischsprachigen (https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019) wie deutschsprachigen Internetseiten (https://www.euro.who.int/de/health-topics/health-emergencies/coronavirus-covid-19) viele Daten und Fakten zum Corona-Virus vorhält. 

Wer deren Seriosität anzweifelt, wird sich wohl auch durch keine anderen seriösen Quellen erreichen lassen – er setzt alles daran, seinen Irrglauben und seine Umdeutungen von Begriffen gegen eine Widerlegung zu immunisieren. Dagegen helfen Aufklärung und argumentative Auseinandersetzung leider nicht …

Literatur
• Detering, Heinrich: Was heißt hier »wir«? Zur Rhetorik der parlamentarischen Rechten. Ditzingen: Reclam, 2019.
• Klemperer, Victor: LTI. Stuttgart: Reclam, 2015(6).
• Sternberger, Dolf u. a.: Aus dem Wörterbuch des Unmenschen. Frankfurt am Main, Berlin: Ullstein, 1986(3).