Irgendetwas muss die geistige Welt in den 1920er Jahren – also in den Roaring Twenties – in ungeheure Bewegung versetzt und den Menschen eine besondere Energie verliehen haben. Dazu einige Beispiele: Auf den Ersten Weltkrieg folgte »Das große Jahrzehnt der Philosophie«, wie es Wolfram Eilenberger in seinem Buch über die »Zeit der Zauberer« beschrieben hat, zu denen Heidegger und Wittgenstein gehörten. Der Romancier Robert Musil bemerkte 1920, »Die Welt ist voll eines unbändigen Willens zum Neuen, voll von einer Zwangsidee des Andersmachens«, und der Schriftsteller Stefan Zweig spürte, dass »ein anderer Rhythmus in der Welt« herrschte. Die Physiker vollzogen in der Mitte der 1920er Jahre einen dramatischen Umsturz im Weltbild ihrer Wissenschaft, als sie den Atomen näher kamen und ihnen Quantensprünge gestatten mussten. Sie wurden gezwungen, die geliebte Objektivität der klassischen Physik aufzugeben, und um an diesem Verlust nicht zu verzweifeln, machten sie sich Mut mit Hamlet, der bei seinem Grübeln bemerkt hatte, »ist es auch Wahnsinn [was ich treibe], so hat es doch Methode«. Je verrückter der Vorschlag eines Physikers erschien, desto besser konnte er die Phänomene erklären, wie immer wieder festgestellt und mit Nobelpreisen gewürdigt wurde.
Es waren »vorsätzliche Verrücktheiten«, die nicht nur einer neuen Wissenschaft von Atomen, sondern auch der entstehenden von Menschen auf die Beine halfen. Mit diesen Worten charakterisierte die Kulturanthropologin Margaret Mead die Methode, mit der sich – erneut in den 1920er Jahren – vor allem Wissenschaftlerinnen um den aus Minden in Westfalen stammenden Ethnologen Franz Boas daran machten, »Race, Sex und Gender« als Erfindungen von Menschen zu entlarven und zu zeigen, dass sie von Natur aus so unbestimmt waren wie Heisenbergs Atome. Und diese vorsätzlichen Verrückten konnten erfolgreich wie die Physiker vorgehen, weil sie ihre Forschung radikal subjektiv umgestalteten, um objektiv sein zu können.
Wie dieses ungeheure Verrücken gelungen ist, erzählt der amerikanische Historiker Charles King in seinem Buch »Schule der Rebellen«, in der man auf viele Schülerinnen von Franz Boas trifft, der in demselben Jahr 1858 wie Max Planck geboren ist, der Vater der Quantenrevolution. Die verrückteste Idee der neuen Physik geht auf Werner Heisenberg zurück, der 1927 auf die Unbestimmtheit in der atomaren Welt trifft, die hier nicht weiter ausgeführt und vor allem erwähnt wird, weil in demselben Jahr die wie Heisenberg 1901 geborene Margaret Mead als Mitglied der »Schule der Rebellen« in Polynesien ihre Feldforschung betreibt, die sie 1928 unter dem Titel »Coming of Age in Samoa« veröffentlicht, der ins Deutsche mit »Kindheit und Jugend auf Samoa« übersetzt wurde. Die konkrete Frage, die die junge Anthropologin interessierte, lautete, »Sind die Erschütterungen, die unsere [amerikanische] Jugendlichen quälen, der Natur des Heranwachsens selbst geschuldet oder der Zivilisation?« Und sie kommt zu dem Schluss, dass auf Samoa der Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter bruchlos vonstattengeht, ohne die emotionale und seelische Belastung, ohne die Angst und Verwirrung, die in den USA damit verbunden ist. Anzumerken ist, dass trotz der eher haltlosen Goldenen Zwanziger die nackten Busen der Mädchen von Samoa auf dem Titelbild des Buches das Interesses des Publikums eher auf ungezwungene und ausgelebte Sexualität in der fremdem als auf pubertäre Komplikationen in der eigenen Welt lenkte, was heute bei vielen Menschen so geblieben ist.
Die »Schule der Rebellen« erzählt von vielen Anthropologinnen – es waren meist Frauen –, die im Sinne ihres Lehrers Franz Boas, den sie »Papa Franz« nannten, zeigen konnten, dass es zum einen nicht die Biologie ist – heute würde man die Gene sagen –, die einen Menschen festlegen, sondern dass die Kulturen – Plural – eine Rolle spielen, wobei zum zweiten keine Kultur – Singular – einer anderen als überlegen anzusehen ist. Boas wird in den USA inzwischen verehrt, weil er und seine Rebellen zeigen konnte, dass man die Herrschaft des weißen Mannes nicht als naturgegeben betrachten darf, so wie es die Gründungsväter wollten. Das sollte Mut machen, den einen weißen Mann aus dem Weißen Haus zu entfernen, am besten von einer Frau.
King, Charles: Schule der Rebellen: Wie ein Kreis verwegener Anthropologen Race, Sex und Gender erfand. München: Hanser, 2020.
Lieber Herr Fischer,
hoffentlich nehmen Sie mir nicht übel, wenn ich etwas literaturhistorisches Wasser in den Wein gieße. Margaret Meads „Kindheit und Jugend auf Samoa“ (1921) ist ein schönes Buch, das man gerne liest. Es sollte einen Ehrenplatz im Regal haben, gleich neben „Gullivers Reisen“ und „Alice im Wunderland“. Die Fakten kann man nachlesen.
(Derek Freeman: Margaret Mead and Samoa. The Making and Unmaking of an Anthropological Myth. Austr. Nat. Univ. Press. Canberra 1983. Kostenlos als pdf-Download.)
Warum ging M. Mead nicht zu den Naturvölkern nach Kamtschatka oder Feuerland, warum nicht nach Afrika (weibliche Genitalverstümmelung) oder nach Indien oder Nepal (wo Frauen während ihrer Periode, weil „unrein“, in eine spezielle Erdhütte, „Chhaupadi“, weggesperrt werden), sondern nach Samoa? Weil sie das, was sie dort fand, schon vorher „wusste“. Sie schuf keinen Mythos, sondern schrieb einen fort, nämlich den des „Edlen Wilden“, der seit dem 18. Jh. in Europa und dann auch in den USA umging. Material lieferten die Berichte aus der Südsee (de Balboa, Forster, Cook, Webber, Stevenson …); v. a. Bougainvilles „Voyage autour du monde …“ (1771). Auf Tahiti, Bora Bora, Fidji oder Tonga glaubten die Seefahrer aus Europa und mit ihnen ihre Leser jenen idealen, von der Gesellschaft unverdorbenen Naturzustand zu finden, den ihnen Rousseau vor Augen gestellt hatte. Das war schon zu Bougainvilles Zeiten eine Utopie – als Gegenentwurf ausgelöst durch den Rationalitäts- und Disziplinierungsschub der Aufklärung und die sich anbahnende Industrielle Revolution.
Diese Utopie enthielt von vornherein die Komponente einer erotischen Traumwelt. Beispiel Bernardin de Saint-Pierres „Paul und Virginie“ (1788): Ein „Geschwisterpaar“ auf Mauritius kann der inzestuösen Versuchung nicht widerstehen; aber die voyeuristischen Leserinnen wissen, dass die beiden gar keine Geschwister sind; adäquat-schwülstig verfilmt als „Die blaue Lagune“. („Die konkrete Frage, die die junge Anthropologin Margarete Mead interessierte“, wird hier so behandelt: „Indessen fühlte sich Virginie seit einiger Zeit von einem unbekannten Uebel beunruhigt […] Paul begriff nichts von diesen so neuen und sonderbaren Launen.“) Die „Berichte“ über die vorgeblich natürliche (= freie) Sexualität der Edlen Wilden (v. a. ihrer Frauen!) bedienten die (nicht nur männlichen!) Phantasien der EuropäerInnen. Das kombinierte sich mit den erotischen Insel-Utopien („Robinsonaden“, auch mit weiblichen Helden), die um 1800 und im 19. Jh. überzählig werden, beginnend mit Henry Nevilles „Isle of Pines (1668; 1 Mann + 4 Frauen = 47 Kinder) bis zur „Meuterei auf der Bounty“ (Tahiti, Pitcairn).
(Christiane Küchler Williams: Erotische Paradiese. Zur europäischen Südseerezeption im 18. Jahrhundert. Göttingen: Wallstein 2004.)
Europäische Aussteiger wollten im19. Jh. die Utopie realisieren – gemeint war: die angeblich unverdorbene freie weibliche Sexualität für sich selbst in hemmungslose Promiskuität umsetzen (der Maler Gaugin). Am Ende waren sie froh, wenn sie Moskitos, Giftschlangen, Malaria, Gelbfieber und Syphilis überlebten und es zurück nach Europa schafften.
Was besagt das für die „nature-or-nurture“-Frage? Wenig. Aber das gilt für das Buch von M. Mead ja auch.
Wie traurig, dass solche Sichtweisen und Erkenntnisse 100 Jahre später immer noch nicht in den Köpfen der Menschen unserer Kultur verankert sind. Ich vermute, wenn die Anthropologinnen der „Schule der Rebellen“ in die Zukunft reisen und einen Blick auf die Kommentar-Sektionen sozialer Medien oder die politische Lage legen könnten, würden sie schnell jegliche Hoffnung an die Menschheit verlieren. Es ist doch immer wieder erstaunlich, wie schnell wir Menschen uns technisch weiterentwickeln und wie langsam unsere Kultur vorankriecht.
Doch wie der letzte Satz des Textes treffend sagt, sollten wir uns deshalb nicht entmutigen lassen und in Starre verfallen. Hingegen hoffe ich, dass insbesonderes wir jungen Generationen das Vorbild dieser Frauen und Männer der 1920er uns zum Vorbild nehmen und darum kämpfen, unsere Kultur voranzubringen.