Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz hat in einer Regierungserklärung am 27. Februar 2022 im Deutschen Bundestag (im Wortlauf zu finden unter: https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/reden/regierungserklaerung-von-bundeskanzler-olaf-scholz-am-27-februar-2022-2008356; Abruf am 8.11.2022.) von einer »Zeitenwende« gesprochen, die mit dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 ausgelöst worden sei. Seit Scholz’ Rede wird der Begriff »Zeitenwende« besonders intensiv diskutiert. Der Bundeskanzler selbst definierte den Begriff in seiner Regierungserklärung so: »Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf, ob wir es Putin gestatten, die Uhren zurückzudrehen in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts, oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen.« (ebd.)
Bei der Recherche zum Begriff »Zeitenwende« – Begriffsarbeit ist eine typische Tätigkeit von Philosophen und allgemein von Geisteswissenschaftlern – stößt man auf die eine und andere Schwierigkeit. Normalerweise kommt man ja, mit einer passablen Bibliothek im Rücken, ganz gut voran, man schaut in den Duden, in etymologische Wörterbücher, also solche, die die Wortherkunft erläutern, in das Grimmsche Wörterbuch, in den Adelung, in Johann Jakob Sprengs »Allgemeines Deutsches Glossarium«, man schaut in das »Historische Wörterbuch der Rhetorik« und das »Historische Wörterbuch der Philosophie« – und stellt erstaunt fest: Nirgendwo findet man eine brauchbare, gar erschöpfende Antwort auf die Frage, was unter »Zeitenwende« denn zu verstehen sei.
Könnte das »Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS)« weiterhelfen (den Hinweis darauf gab mir ein Vortrag von Prof. Dr. Wolfgang Neuser an der Hochschule Konstanz am 7.11.2022)? Das DWDS ist ein vom Bund gefördertes Forschungsprojekt an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und zielt auf »die Schaffung eines ›Digitalen Lexikalischen Systems‹ – eines umfassenden, Benutzerinnen und Benutzern über das Internet zugänglichen Wortinformationssystems, das Auskunft über den deutschen Wortschatz in Vergangenheit und Gegenwart gibt.« (https://www.dwds.de/d/ueber-uns; Abruf am 8.11.2022.). Gibt man dort den Begriff »Zeitenwende« ein, wird als »Bedeutungsübersicht« angezeigt:
»1. Wende, Umschwung im historischen Geschehen
2. Zeitpunkt, an dem sich eine Wende, ein Umschwung im historischen Geschehen vollzieht
3. [veraltend] Beginn der christlichen Zeitrechnung«.
Das ist ein Ansatz, der durch den folgenden Vorschlag aufgenommen und ergänzt werden könnte.
Unter »Zeitenwende« werden mehrere und recht unterschiedliche Phänomene verstanden:
– allgemein der Beginn einer neuen Ära;
– sich über einen meist größeren Zeitraum hinweg ergebende, substantielle Veränderungen und Neuerungen in einer Kultur oder gar für die Menschheit (als Beispiele könnten die Antike und der Wandel vom Mythos zum Logos und die Aufklärungsepoche mit der Etablierung der Menschenrechte und demokratischer Staaten angegeben werden);
– sich an einem Ereignis festmachende substantielle Veränderungen oder Neuerungen in einer Kultur oder gar für die Menschheit (das Ereignis ist nicht zwingend die Zeitenwende selbst, steht aber symbolisch für sie, als Beispiel kann der Sturm auf die Bastille in der französischen Revolution dienen);
– Traditionsbrüche und Traditionsabbrüche (wenn z. B. ein Theologie-Professor schätzt, dass rund 30 % der Theologiestudenten heute keine Erfahrungen mit Bibel-Lektüre mitbringen);
– Tabubrüche, Zivilisationsbrüche (als Beispiel dafür sei der Holocaust als Massen- und Völkermord mit industriellen Mitteln angeführt).
Zudem wird das Wort »Zeitenwende« gern benutzt, wenn jemand:
– eine Entwicklung nicht zu übersehen weiß, aber etwas Bedeutendes darin vermutet (als Beispiel könnten wir die Rede von Bundeskanzler Scholz anführen, die er im Bundestag zu Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine gehalten hat);
– einen Vorschlag, den er macht, als bedeutsam adeln will, indem er ihm das Etikett »Zeitenwende« anheftet (»dieser Vorschlag zur Bestimmung des Begriffs ›Zeitenwende‹ stellt geradezu eine Zeitenwende in der Geschichte der begrifflichen Bestimmung von »Zeitenwende« dar.).