Was ist der Mensch? Denken Sie an Ihre Schulzeit. Im Fach Biologie heißt es, Tiere seien durch ihre Instinkte gesteuert, nur der Mensch habe Vernunft. In Geschichte werden besondere Zeitalter der Vernunft gepriesen, etwas die griechische Antike oder die moderne Aufklärung. In Fächern wie Gemeinschaftskunde oder Ethik werden anschauliche Fälle präsentiert, in denen es um schwierige Entscheidungen geht. Die vernünftige Lösung scheint immer die bessere Lösung zu sein. Und in Deutsch oder den Fremdsprachen lernen Sie in der Literatur Menschen kennen, die durch Vernunft ihre Schwäche oder ihre Leidenschaften überwinden und vernünftig und zugleich besonders gut handeln. Überall scheint zu gelten: Auf die Vernunft kommt es an!
Doch ist Vernunft nicht einfach ein langweiliges kulturelles Gut? Die Welt funktioniert doch offensichtlich eher durch Macht und Konkurrenz, durch Leidenschaft und Willen. Wie können Sie sich anschaulich klarmachen, dass Vernunft wirklich etwas Besonderes ist und es sich lohnt, die eigene Vernunft zu stärken?
Vernunft interessiert mich im Folgenden besonders hinsichtlich eines speziellen Aspekts, den ich Unabhängigkeitskompetenz und Selbstbestimmung nenne. Vernunft ist hier nicht so sehr anthropologisch-beschreibend relevant, z. B. als Wesen des Menschen. Sie bezeichnet auch nicht einfach unsere kognitiven Fähigkeiten, dafür sagt man eher Verstand. Sondern hier geht es um die Fähigkeit einer bestimmten Beziehung zu uns selbst, nämlich dass wir uns durch Vernunft immer wieder befreien können von unseren Ängsten oder Antrieben, die uns von einem unabhängigen und selbstbestimmten Leben abhalten.
Einige Textausschnitte bei drei antiken Philosophen können zeigen, was mit Unabhängigkeitskompetenz und Selbstbestimmung gemeint ist.
»Die Mehrzahl der Leute und die rohesten wählen die Lust. Darum schätzen sie auch das Leben des Genusses. […] Die große Menge erweist sich als völlig sklavenartig, da sie das Leben des Viehs vorzieht […] Die gebildeten und energischen Menschen wählen die Ehre. Denn dies kann man als das Ziel des politischen Lebens bezeichnen. Aber es scheint doch oberflächlicher zu sein als das, was wir suchen. [Denn man scheint] die Ehre zu suchen, um sich selbst zu überzeugen, daß man gut sei. […] Die dritte Lebensform ist die betrachtende [= θεωρητικός, die theoretische].« (Aristoteles: Nikomachische Ethik. München: dtv, 1986(6). S. 59 f.)
Sein Leben dem Genuss zu widmen, das bedeutet für Aristoteles (384—322), zu leben wie das Vieh bzw. sich freiwillig zum Sklaven zu machen: nämlich zum Sklaven seiner Leidenschaften und seiner Begierde. Die Mutigen und Energischen, so Aristoteles, wählen ein anderes Leben, nämlich ein solches, das ihnen Ruhm und Ehre einbringt, wir würden vielleicht sagen: viel Anerkennung und höchstes soziales Prestige. Doch Aristoteles ist überzeugt: Dies kann noch nicht das letzte Wort sein, noch nicht die gesuchte höchste Lebensform. Denn beim Streben nach Ruhm und Ehre sind wir nicht wirklich frei, vielmehr verhalten wir uns so, dass wir möglichst viel Erfolg haben und eine möglichst große Anerkennung bekommen. Mitunter verhalten wir uns wie außengesteuert, ja wie ferngelenkt. Denn wir sind abhängig von der Anerkennung durch die anderen. Erst die durch Vernunft geprägte Lebensform bringt uns die eigentliche innere Freiheit. Es ist normal, von seinen Leidenschaften und vom Wunsch nach Anerkennung und Bewunderung beherrscht zu werden. Doch Aristoteles plädiert dafür, neu zu definieren, was normal heißen sollte. Vernunft ist die möglichst große Freiheit und Unabhängigkeit von jenen Bedürfnissen, deren Spielball wir üblicherweise sind. Vernunft ist eine neue, befreite Normalität. Ein Beispiel, dass Sie alle kennen: Wie schaffe ich es, meinen »inneren Schweinehund« zu überwinden und angestrengt zu trainieren oder endlich eine neue Sprache zu lernen oder etwas anzugehen, das ich schon lang angehen will? Indem ich mich dazu entschließe und es einfach mache. Dies zu erleben heißt, sozusagen auf elementarer Ebene zu erleben, dass ich mich durch das, was ich frei entscheide, gegen alle anderen Antriebe selbst bestimmen kann. Falls ich nach langer Überlegung zu dem Schluss komme, meine Ernährung umzustellen oder meinen Lebensstil zu ändern, dann ist es möglich, dies auch wirklich zu tun. Und auf wieder anderer Ebene kann ich versuchen, die Dinge zu verstehen und zu erklären, wie sie wirklich sind, und durch vernünftiges Nachdenken über vernünftige Argumente selbst zu urteilen – nicht verzerrt durch Ideologien, die mir eine falsche Sicherheit geben. All das sind Erfahrungen der Vernunft als Unabhängigkeitskompetenz und Selbstbestimmung.
Epikur (341—271) gibt uns Hinweise, wie das von Aristoteles beschriebene Vernunftleben aussehen kann, nehmen wir als Beispiel die Angst vor dem Tod. Den Tod müssen wir nicht fürchten, wenn wir uns klar machen, dass das Nicht-Leben (das Nicht-am-Leben-sein) weder gut noch schlecht ist, sondern einfach nicht vorstellbar und außerhalb jeden Vergleichs.
»Demnach betrifft das schauderhafteste Übel, der Tod, uns nicht: denn der Tod ist nicht da, solange wir leben, doch wenn der Tod da ist, dann sind wir nicht mehr.« (Epikur: Brief an Menoikeus, Basel: Schwabe 2014. S. 133.)
Oder wir haben Angst vor der Zukunft. Doch das Zukünftige liegt nicht in unserer Macht, darüber müssen wir uns immer wieder klar werden. Stattdessen liegt es in unserer Macht, hier und jetzt für Körper und Seele zu sorgen:
»Denn die unbeirrte Betrachtung dieser Zusammenhänge kann jede Entscheidung über Tun und Lassen an der körperlichen Gesundheit und dem störungsfreien Zustand der Seele orientieren, da dies das Ziel eines glücklichen Lebens ist. […] Wenn uns dies einmal gelingt, löst sich der ganze Sturm in der Seele auf.« (a. a. O., S. 137.)
Epikur rät also dazu, uns emotional zu distanzieren von dem, was uns Sorgen macht. Unsere Angst lässt sich durch Vernunft einklammern und immer wieder verabschieden. Nicht muss die Angst uns beherrschen, sondern wir können durch Vernunft die Angst beherrschen. Der Sturm legt sich nach und nach. Diesen Zustand des ungetrübten Genusses, der Angstfreiheit, überhaupt der Freiheit von Sorge, Unruhe, Leidenschaften und Antrieben, diesen Zustand nennt Epikur Lust – und meint damit gerade keine ausschweifenden Genüsse, sondern eher die Freiheit von Unruhe.
Dies sind Epikurs Antworten auf die Frage, was es heißt, das richtige, das in vollem Sinn gute Leben zu erreichen: Es handelt sich nicht um ein Leben, das einfach unseren Wünschen und Antrieben folgt. Sondern um ein Leben, das durch viel Reflexion und Bewusstsein geprägt ist sowie auch durch ständiges Üben. Wenn wir das, was wir zunächst vorfinden, Normalität nennen, also unsere Ängste und Unruhe, unsere Leidenschaften und Begierden, dann rät uns nach Aristoteles nun auch Epikur: Gebt Euch mit dieser Normalität nicht zufrieden, baut an einer neuen, an einer eigenen und vor allem freien Normalität. Durch vernünftiges Nachdenken und Uns-selbst-Bestimmen zu verändern, was Normalität heißt, das ist eine lohnende Aufgabe. Euer Ziel ist eine durch Vernunft geprägte Lebensform, in der ihr euch maximal unabhängig gemacht habt von all dem, was normalerweise euch beunruhigt, ob im negativen oder im positiven Sinn. Zudem: Wenn sich das Leben nicht durch übermäßigen Ehrgeiz, Machtgier und Anerkennungssucht führen lässt, sondern durch Vernunft, wird es zu einem eher bescheidenen Leben, das sich verwirklicht als Freude einer unerschütterten Seele am Dasein.
Ein letzter Philosoph, der Stoiker Epiktet (50—138). Die Stoa war eine spätantike Philosophenschule in Griechenland und Rom, die besonderen Wert auf Seelenruhe und Gelassenheit durch vernünftige Selbstbeherrschung legte.
»Wenn du zum Beispiel zum Baden gehst, dann stell dir vor, wie es in einem öffentlichen Bad zugeht, wie sie dich naßspritzen, hin und her stoßen, beschimpfen und bestehlen. Du wirst daher mit größerer Ruhe und Sicherheit hingehen, wenn du dir von vornherein sagst: ›Ich will baden und meiner sittlichen Entscheidung treu bleiben, durch die ich mich in Übereinstimmung mit der menschlichen Vernunftnatur befinde‹.« (Epiktet: Anleitung zum glücklichen Leben. Encheiridion (Handbuch der Moral). Düsseldorf: Artemis & Winkler 2006. S. 13 f.)
Hier ist sie wieder: die Vernunft als eine Instanz in uns selbst, die uns führen kann. Üblicherweise führt sie uns nicht, üblicherweise werden wir, bezogen auf dieses Beispiel, beherrscht von Ärger, Zorn oder Aggression. Doch indem wir üben, die Stimme der Vernunft stark zu machen und ihr immer mehr zu vertrauen und auf sie zu hören, kann es uns gelingen, das Band zu durchtrennen, das uns von einem wirklich unabhängigen Leben abhält. Oft wissen wir, was gut für uns wäre, doch wir sind zu schwach, um es einfach zu tun. So gesehen ist es eine Bewegung des empowerment, der Selbstermächtigung, jene Instanz in uns zu stärken, welche uns Freiheit geben kann, nämlich unsere Vernunft.
Aber ist das nicht banal? Auf YouTube gibt es zahlreiche Motivationsvideos, welche uns dazu auffordern, den inneren Schweinehund zu überwinden, wählen wir als Beispiel: No Excuses. (https://www.youtube.com/watch?v=wnHW6o8WMas.)
Hier wird gesagt, was zum Erfolg führt: Wir sollen alle Ausreden verabschieden und einfach machen, was wir uns vorgenommen haben. Im Video werden Männer gezeigt, die sich wirklich anstrengen: Beim Krafttraining wie auch im Wettlauf um finanziellen und gesellschaftlichen Erfolg. Der Protagonist ist maximal erfolgreich. Ihm wurde nichts geschenkt. Er trainiert hart. Und er sagt, wir sollen nicht neidisch sein, wenn wir ihn sehen, wie er sein Leben in vollen Zügen lebt, große Autos fährt und in teuren Hotels wohnt. Was würden Aristoteles, Epikur und Epiktet zu einem solchen Video sagen? Handelt der Clip nicht auch von Unabhängigkeitskompetenz? Ja und nein. Die antiken Philosophen würden begrüßen, wenn wir unsere Bequemlichkeit durch eine starke Stimme der Vernunft in uns selbst immer wieder überstimmen. Doch sie würden uns dazu auffordern, jene Ziele selbst zu bestimmen, für die wir uns engagieren wollen. Konkret: Ob wir wirklich sehr reich werden wollen mit großen Autos, luxuriösen Hotels und bewundernden Blicken schöner Frauen (oder Männer), wie es der Clip zeigt, das sollten wir selbst entscheiden. Solche Ziele verstehen sich nicht einfach von selbst, sie liegen nicht in der Natur und stehen nicht schon von selbst fest. Sondern wir lernen sie als begehrenswert kennen durch unsere Kultur, ohne dass uns dies bewusst ist. Vernunft als Unabhängigkeitskompetenz und Selbstbestimmung, das würde nicht nur bedeuten, den inneren Schweinehund überwinden zu können, sondern auch, die eigentlichen Ziele unseres Lebens so unabhängig wie möglich selbst zu bestimmen, indem wir darüber nachdenken und uns mit anderen vernünftig über solche Ziele auszutauschen.
Vorabdruck aus: Thomas, Philipp: Bildungsphilosophie für den Unterricht. Kompetente Antworten auf große Schülerfragen. Tübingen: Francke (UTB), 2021 (erscheint zum 1.10.2021).
Philipp Thomas‘ Essay bietet eine tiefgehende Betrachtung der Rolle der Vernunft im menschlichen Leben. Er argumentiert, dass Vernunft nicht nur ein anthropologisches Merkmal ist, sondern eine Schlüsselkompetenz für Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. Thomas zeigt anhand Philosophen wie Aristoteles, Epikur und Epiktet, wie die Vernunft uns helfen kann, uns von Ängsten, Leidenschaften und äußeren Einflüssen zu befreien. Besonders interessant finde ich die Diskussion über die »Unabhängigkeitskompetenz«, die zeigt, dass wahre Freiheit darin besteht, unsere inneren Antriebe zu überwinden und unsere Ziele bewusst zu wählen. Der Vergleich mit modernen Motivationsvideos verdeutlicht, dass Vernunft nicht nur zur Überwindung des »inneren Schweinehunds« dient, sondern auch zur kritischen Reflexion unserer Lebensziele.
»Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.«
Daran erinnert mich der Artikel auch. Es bedeutet Freiheit, wenn man sich durch Vernunft aus der Unmündigkeit befreien kann.
Ich habe diesen Beitrag mehrmals gelesen und fand ihn sehr interessant. Der Text hat mir eine neue Sichtweise über Vernunft ermöglicht, und dafür bin ich dankbar.
Was bedeutet es vernünftig zu sein? Laut unserer heutigen Defintion ist man vernünftig, wenn man sich nicht von Emotionen leiten lässt und rationalen Regeln folgt. Zudem abwägt, was für Konsequenzen die eigenen Taten für einen Selbst haben.
Ich stimme dieser Definition größtenteils zu, jedoch finde ich, dass man sich selbst auch ab und zu dem Genuss oder seinen eigenen Emotionen hingeben sollte. In einem gewissen Maß bringt das der Seele auch Zufriedenheit, auch wenn es für das zukünftige Selbst nicht immer einen Vorteil bringt. Jedoch finde ich den Vorschlag Epikurs, sich von Dingen, die uns Angst machen, mithilfe des Verstandes zu distanzieren, gut, und hierbei finde ich es auch richtig, seine Emotionen durch den Verstand zu verdrängen. Allgemein sind negative Emotionen meist nicht fördernd für sich selbst und für die eigene Zukunft eher schädlich. Diese durch die Vernunft zu verdrängen und damit »vernünftig« zu handeln, erscheint mir wieder richtig. Aber wenn es sich manchmal richtig anfühlt, auf sein Bauchgefühl zu vertrauen, sollte man erfahrungsgemäß darauf vertrauen.
Den »inneren Schweinehund« zu überwinden, ist auch ein vernünftiger Ansatz, jedoch nur, wenn man selbst davon überzeugt ist und es auch nur für sich selbst macht. Ruhm und Ehre oder die Meinung und Anerkennung anderer sollten hierbei keine Rolle einnehmen.
»Epikur rät also dazu, uns emotional zu distanzieren von dem, was uns Sorgen macht.«
Eine solche Distanzierung funktioniert womöglich nur, wenn es sich bei den Sorgen nicht um fundamentale Sorgen handelt. Handelt es sich allerdings eher um objektiv betrachtet „banale“ Sorgen, sehe ich eine Distanzierung als hilfreich an, um zu einem Gefühl der Freiheit von Unruhe zu gelangen.
»Gebt Euch mit dieser Normalität nicht zufrieden, baut an einer neuen, an einer eigenen und vor allem freien Normalität.«
»Vernunft« klingt erstmal langweilig und wenig abenteuerlich. Verborgen bleibt auch erst einmal, dass Vernunft implizit Reflexion und Bewusstsein voraussetzt. Die Konfrontation mit eigenen Prämissen kostet häufig Energie und könnte zu dem Ergebnis führen, dass man eine bestimmte Einstellung zu einem Thema neu evaluieren muss. Menschen haben häufig Schwierigkeiten Irrtümer einzugestehen. Wenn man dies allerdings schafft, kommt schon die zweite Hürde. Um die Glaubwürdigkeit der eigenen Person zu wahren, sollte man die neue Erkenntnis auch verkörpern bzw. in der Praxis spürbar machen. Bis man an diesem Punkt angekommen ist, kann es dauern. Viel einfacher ist es, bei der »Normalität« zu bleiben.
Laut Epikur tut man dies dann auf Kosten der Seelenruhe. Gewissermaßen stimme ich Epikur zu. Allerdings finde ich, dass es erst zulasten der Seelenruhe fällt, wenn man sich der beschriebenen Mechanismen der »Normalität« bewusst ist.
Vernunft hat in diesem Essay eine eindringliche Bedeutung bekommen, die ich so vorher noch nicht gesehen habe.
Es ist vernünftig, nicht zu rauchen, maximal gemäßigt und am besten gar nicht zu trinken, früh ins Bett zu gehen, sein Leben durchzuplanen, englisch, spanisch und chinesisch zu lernen und ein Haus zu kaufen. Für alle diese Verhaltensweisen gibt es kluge Gründe. Gesundheit, Bildung, Sicherheit, Weltoffenheit etc.
Man sagt im Alltag, dass etwas vernünftig ist, weil es in einer möglichen Art einen Vorteil bringt. Dieser Vorteil kann dann üblicherweise eine anfängliche Motivation darstellen. Und bald meldet sich der innere Schweinehund – denn letzten Endes ist der Begriff der Vernunft, im Sinne einer einfachen klugen Entscheidung, zu kurz gegriffen.
Der Begriff der Selbstbestimmung vervollständigt die Vernunft mit der Komponente des Individuellen. Schließlich kann eine vernünftige Entscheidung für jeden anders aussehen. Und ist man von dieser Entscheidung überzeugt, weil man sich vorher ausgetauscht und argumentiert hat. Das führt dazu, Entscheidungen über einen Wandel oder Plan wirklich zu seiner eigenen Sache zu machen, die Argumente mit Leib und Seele zu begreifen. So wird aus dem Konzept eines vernünftigen Lebens – ein reizvolles und lebendiges Leben.
Was wäre ein Einstein ohne Geige, ein Nietzsche ohne nächtliche Klavier-Eskapaden. Vernunft sollte sich nicht als Hemmnis seiner Selbst definieren, als Ultima Ratio der Selbstverwirklichung. Sondern als inneres Kontrollorgan, um den Fluss der Gefühle, Ängste und Träume hin und wieder aufzustauen, damit fließen kann, was fließen soll.
Wer seine Entscheidungen durch Vernunft trifft, plant voraus und hat die Zukunft im Blick. Das ist bestimmt für den Großteil der Menschen ein gutes Ziel und eine Lebensweise, die sie anstreben oder schon führen. Allerdings glaube ich nicht, dass das für jeden Menschen funktioniert. Sich emotional so weit von jeder Situation zu distanzieren, dass man nur noch aus reiner Vernunft handelt, ist fast unmöglich und ist manchmal auch nicht erstrebenswert. Man könnte Momente und Erinnerungen verpassen, die zwar sinnlos für das große Ganze und das Lebensziel sind, aber sich in diesem Moment trotz aller eventuell bösen Folgen richtig anfühlen. Somit ist ein Leben, das in Vernunft geführt wird, bestimmt sicherer, aber ein Leben in reiner Vernunft könnte phasenweise auch recht langweilig werden.