Fast alle, die über eine Feder, eine Tastatur oder sonst einen kulturtechnischen Zugang zu den Medien verfügen, haben sich in den letzten Wochen bemüßigt gefühlt, sich zum derzeitigen Thema Nr. 1, der sogenannten Coronakrise, zu äußern. Dass die Philosophen sich dabei vergleichsweise zurückhaltend verhalten haben, hat seinen guten Grund. Es ist nämlich eine vom Altmeister des Deutschen Idealismus, dem Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel, in ein sprechendes Bild gefasste und seither sprichwörtlich gewordene Überzeugung, dass die Philosophie zum Verändern ohnehin zu spät komme; »die Eule der Minerva beginnt ihren Flug bei Dämmerung«. Wenn das aber zutrifft, dann könnte es sein, dass jetzt die Stunde der Philosophie schlägt.
Alle Krisen und unter diesen zumal jene, die als Katastrophen wahrgenommen werden, sind nicht zuletzt durch ihr Gegenteil, den Normalfall definiert. Und der Übergang vom einen zum anderen Zustand wird eingeläutet durch »Warnung« oder »Entwarnung«. In der Regel werden Katastrophen, die man überlebt hat, in den Normalfall integriert; sie werden zu »ganz normalen Katastrophen«, wie Charles Perrow das in anderem Zusammenhang und in anderer Absicht genannt hat. In Zeiten von Corona lernen wir gerade zusätzlich, dass es eine Vorstufe der Entwarnung gibt, die man als »Lockerung« zu bezeichnen pflegt. Wie aber steht es in Sachen Corona mit der Entwarnung, auf die jetzt alle hoffen? Wird es die überhaupt jemals geben, oder werden wir uns auf Dauer in dem Übergangsstadium der Lockerung einrichten müssen?
Die Erinnerung an andere Katastrophen mag hier hilfreich sein: Die Formel, die sich uns aufgrund des Anschlags auf die New Yorker Twin Towers gleichsam eingebrannt hat, lautete: »Nach 9/11 wird nichts mehr so sein wie zuvor.« Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass das zwar zum Teil richtig, in der Generalisierung aber nach Kassandra-Art übertrieben ist. Gewiss: die Sicherheitsvorkehrungen in den Flughäfen sind verschärft worden; und es hat sich weltweit eine Allianz der Terrorbekämpfung gebildet – aber sonst? Oder denken wir an welthistorische Katastrophen wie die Weltkriege oder gar den Holocaust. Wir wissen, dass es sogar einer eigenen Erinnerungspolitik bedarf, um wenigsten das »Nie wieder!«, das solchen Katastrophen eingeschrieben ist, im Gedächtnis zu behalten. Im Übrigen aber ist Rückkehr zur Tagesordnung angesagt.
Und genau deswegen wird gerade jetzt in der Dämmerung, in der besagte Eule der Minerva ihren Flug beginnt, auf Anderes zu achten sein, wenn wir uns die Frage stellen, ob es im engeren Sinne ein »Nach-Corona« geben wird, oder ob es nicht vielmehr so sein wird, dass auch Corona – ebenso wie andere Katastrophen – in den Normalfall integriert werden wird. Solange wir noch angemessen beeindruckt sind und noch nicht alles in dem Acker der nächsten Normalität untergepflügt ist.
Die ver-rückte Zeit
Gewiss, vieles aus diesen Monaten, in denen die gesamte Erde zu einer neuen Art von »rasendem Stillstand«, um mit Virilio zu sprechen, gekommen zu sein schien, eingefroren in Homeoffice, Ausgangssperre, Quarantäne und Lockdown, wird in Erinnerung bleiben, vorwiegend allerdings in jener Erinnerung, die sich »anekdotisch« nennen lässt. Dass wir uns – notgedrungen – Frisuren wachsen ließen, wie wir sie seit den Siebzigerjahren nicht mehr gesehen hatten, gehört hierher. Ebenso wie der gemeinsame abendliche Gesang über die Straßen einiger norditalienischer Städte hinweg. Oder wie die Tatsache, dass aus Eltern Lehrer und aus Lehrern digitale Showmaster wurden.
Die Philosophie jedoch hat die Aufgabe, die Erfahrungen mit Phänomenen zur Sprache zu bringen, die in Vergessenheit geraten könnten, obwohl sie von fundamentaler anthropologischer Bedeutung sind. Ich denke da vordringlich an die Erschütterung von gelebten Selbstverständlichkeiten der Zeitwahrnehmung, die sich als existenzielle Grunderfahrung am Rande unseres Bewusstseins abspielen. Für diese drängen sich mir die Begriffe »Ver-rückung« oder »Ver-schiebung der Zeit« auf, in dem Sinne, in dem im Rahmen des Fußballs von einer »Verschiebung« eines Spielresultats gesprochen wird. Um diese Verrückung oder Verschiebung soll es im Folgenden gehen.
Was genau geschah eigentlich mit uns, als wir plötzlich vor verschlossenen Bürotüren standen, als wir begannen, unsere alltäglichen Routinen durch digitalisierte Kommunikationsstrategien »zu Hause« zu ersetzen? War es, wie zunächst vermutet, einfach nur die Verlängerung der Zeit im Homeoffice gegenüber derjenigen im Büro, die Ersetzung des Hörsaals oder Besprechungsraums durch Webex oder Microsoft Teams? Obwohl begrifflich nur schwer zu erfassen, schien jedoch etwas anderes mit uns zu geschehen. Nicht nur die begrifflichen Kategorien, mit deren Hilfe wir unser Leben zu organisieren gelernt hatten, sondern auch die Gefühle, in die sie eingebettet sind, verschoben sich zusehends.
Denken wir nur an Arbeit und Urlaub: Viele – unter anderen auch ich selbst – haben zunächst versucht, sich in der Phase des Lockdowns dadurch einzurichten, dass die erzwungene Abwesenheit vom Arbeitsplatz als mehrwöchige Verlängerung des Urlaubs betrachtet wurde. Dass diese Strategie schon bald in sich zusammenfiel, hatte nur auf den ersten Blick seinen Grund darin, dass ein entscheidendes Freiheitselement des Urlaubs, nämlich die Möglichkeit, diesen potenziell an jedem Ort der Erde verbringen zu können, entfiel. Die Schließung der Grenzen und die damit einhergehende Aufhebung der unbeschränkten Reisefreiheit ersetzte schon bald diese Vorstellung durch ein in eine andere Richtung verschobenes Gefühl, demjenigen der Bürgerinnen und Bürger in der DDR vielleicht nicht ganz unähnlich. In philosophischer Terminologie: Arbeitszeit und Freizeit sind Reflexionsbegriffe; verschiebt sich der eine, ist auch der andere nicht mehr der Alte. In dem Moment, in dem die Maloche ein anderes Gesicht annimmt, schmeckt auch das Dolce far niente nicht mehr so süß. Und in demselben Zusammenhang ist das zum Office mutierende Zuhause eben auch nicht mehr »home sweet home«.
Wer hätte sich in Vor-Corona-Zeiten nicht schon über die elenden überflüssigen Sitzungen beklagt, die einen so viel wertvolle Zeit kosten, die sich hätte nutzbringender in kreative Tätigkeit investieren lassen? Dass deren Ersetzung durch Videokonferenzen daran auch nicht viel ändert, aber mit Sicherheit sehr viel anstrengender ist, ist eine Erfahrung, über die wir jetzt alle verfügen. Ob wir das nun bedauern oder begrüßen, sicher ist jedenfalls, dass unsere Lebensstrukturierung in unserer Wahrnehmung verschoben wird. Und zwar so, dass nicht nur die Bewertung, sondern sogar schon die begriffliche Unterscheidung ver-rückt wird. »Skype« fühlt sich bereits wie aus einer anderen, untergegangenen Welt an. Der »Call« und die »Zoom«-Konferenz sind zum Taktgeber des Alltags geworden, der gegenüber dem Feiertag so ausfranst, dass er wie ein Krebsgeschwür in diesen hineinwuchert.
Analoges gilt für Dienstreisen oder für, wie es in der Vor-Coronazeit noch hieß, »Quality Time« mit der Familie, mit Freunden und Bekannten. Dass man sich eine Zeitlang – besonders, wenn man einer »Risikogruppe« angehörte – nur noch mit wenigen Menschen treffen konnte, war nur die eine, die äußere Seite. Was hingegen auch in der »Lockerung« bleibt, ist die Verunsicherung und das Gefühl des Befremdens: Dass jemand, der eine Bank betritt, explizit dazu aufgefordert wird, eine Maske anzulegen, hat seinen surrealen Charakter bereits verloren. Die Alltäglichkeit des Vermummungsverbots ist derjenigen der Vermummungspflicht gewichen.
Und das trifft nicht zuletzt für so elementare begriffliche Strukturen wie den Unterschied zwischen real und virtuell oder analog und digital zu. Der Digitalisierungsschub etwa, den Corona in den Bildungseinrichtungen von den Kindergärten über die allgemeinbildenden Schulen bis zu den Hochschulen ausgelöst hat, hätte unter Bedingungen der Vor-Coronazeit Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte erfordert.
Wenn wir unter Zeit nicht nur den objektiv messbaren unumkehrbaren Richtungspfeil der Ereignisse, sondern das, was uns als Menschen bestimmt, verstehen, haben wir die Erfahrung gemacht, »aus der Zeit gefallen« zu sein. Und das wird besonders deutlich an jener anthropologischen Grundverfassung, die dem Zeitpfeil zugrunde liegt; in der phänomenologisch orientierten philosophischen Hermeneutik eines Martin Heidegger etwa wird sie »Zeitlichkeit« genannt und bestimmt uns in unserem Selbstbewusstsein: Wir sind Wesen, die sich nur aus dem Sich-selbst-immer-schon-voraus verstehen lassen: aus unserem Planen und Entwerfen. Für uns Menschen ist Zeit immer schon vordringlich Zukunft.
Was aber heißt Zukunft in jenem Wartesaal, den wir als den der »Lockerung« kennengelernt haben? Wie planen wir eine Zukunft, wenn diese – bis in die Details unserer Terminkalender hinein – immer unter Coronavorbehalt stehen? Wie vereinbaren wir Termine, wenn ihnen das, was sie im Wortsinne ausmacht, nämlich ihre raum-zeitliche Begrenzung, ihre Sicherheit und Verlässlichkeit, fehlt? Und zwar nicht aus kontingenten Gründen wie etwa individueller Unpünktlichkeit und Unzuverlässigkeit, sondern mit Notwendigkeit.
Was bleibt?
Kein Zweifel, wir werden uns auch daran gewöhnen, dass die Grenzen zwischen real und surreal ebenso wie diejenigen zwischen real und virtuell oder zwischen analog und digital und letztlich auch zwischen »vergangen«, »gegenwärtig« und »zukünftig« de facto verschoben sind. Die ver-rückte Zeit wird Bestandteil der »normalen« werden. Und wir werden uns vermutlich eines Tages ebenso selbstverständlich im Herbst unsere Covid-19-Impfung bei unserem Hausarzt abholen, wie viele von uns das schon heute mit der allgemeinen Grippeimpfung tun.
Und selbstverständlich wird es dann auch keineswegs so sein, dass »nach Corona« nichts mehr so sein wird wie vorher. Selbstverständlich werden wir – kompensatorisch – alles das wieder im Übermaß tun, was wir in der Coronazeit und besonders in der Phase der »Lockerung« entweder gar nicht tun durften oder wovon abgeraten wurde. Aber vielleicht werden wir uns ab und zu daran erinnern, dass wir kurzfristig in einer »ver-rückten Zeit« gelebt haben, in der nichts mehr war wie vorher. Und vielleicht werden wir uns auch daran erinnern, dass wir in dieser ver-rückten Zeit so verrückt waren zu glauben, dass sich alles ändern und nichts mehr so sein könnte wie vorher …
Diese »philosophische Gedanken anlässlich von ›Lockerung‹ und ›Ver-rückung‹ der Zeit« wurden im Juni 2020 erstveröffentlicht auf den Internetseiten der Wiener »Instituts für die Wissenschaften des Menschen«, wo Walther Ch. Zimmerli vom Oktober bis Dezember 2019 als »Visiting Fellow« tätig war.
„In der Regel werden Katastrophen, die man überlebt hat, in den Normalfall integriert; sie werden zu »ganz normalen Katastrophen«“, schreibt Zimmerli mit Verweis auf Charles Perrow. Und kurz zuvor konstatiert er: „Alle Krisen und unter diesen zumal jene, die als Katastrophen wahrgenommen werden, sind nicht zuletzt durch ihr Gegenteil, den Normalfall definiert.“
Wie ist in diesem Zusammenhang (beispielhaft) die Tatsache zu bewerten, dass die FAZ am 19. März titelte: „Erschütterndes Massensterben in Italien“, als dort 475 Covid-Tote an einem Tag zu beklagen waren und vor vier Tagen schreibt: „Neuer Höchststand von 590 Corona-Todesfällen binnen 24 Stunden“? Subsumiert man diese Überschriften unter das von Zimmerli Gesagte, so scheint die Katastrophe nun zum Normalfall geworden zu sein – jedenfalls in den Augen der FAZ, die hier als eigenständiger Orator wahrgenommen wird, auch wenn die Artikel und Überschriften von unterschiedlichen Autoren stammen mögen. Die Leidenschaft und Erschütterung der ersten Meldung vom 19. März muss einer logoszentrierten Aussage weichen, die trotz der deutlich höheren zu vemeldenen Zahl an Toten gänzlich ohne pathetische Flankierung auskommt. Nun kann man diese Tatsache von zwei Seiten aus betrachten: Erstens kann schlicht beschrieben werden, dass wohl die Gewöhnung an die Pandemie, die sich in der Bevölkerung breitmacht, der psychologische Effekt, dass niemand permanent Angst haben kann, sich auch hier in der Sprache der FAZ niedergeschlagen haben. Zweitens aber, und das interessiert den Rhetoriker, muss die Seite betrachtet werden, auf der die Verantwortung des Orators liegt. Zugegeben, an dieser Stelle öffnen sich Türen zu langen Ausführungen zum Verhältnis von Rhetorik und Ethik, daher sei nur eine kurze Feststellung getroffen: Wenn man sich dem Ideal des vir bonus verpflichtet fühlt, oder diesen Anspruch an wirksame Oratoren hat (besonders, wenn sie sich mit ihrer Sprache im öffentlichen Raum bewegen), dann muss man die Frage stellen, ob diese Veränderung der Sprache dem ethischen Konzept, das man verkörpert sehen möchte, gerecht wird. Oder ganz einfach: Darf eine mutmaßlich wirkmächtige Sprache die Katastrophe in den Normalfall integrieren, oder muss der Verantwortliche sich genau gegen diese Entwicklung wehren, damit nicht im schlimmsten Fall der Eindruck entsteht, dass auch nur einer der 590 Corona-Toten vom 9.12.2020 weniger wert und weniger beklagenswert sei als die Corona-Toten, die der März schon hervorgebracht hatte? Und falls dieser Eindruck in persuasiv erfolgreicher Weise bei Menschen landen würde, was machte das mit einer Gesellschaft?
So auf Sprache zu blicken, ist nicht (wie oft vorschnell geurteilt) nutzlose Pedanterie sondern elementarer Bestandteil einer Kritik, der eine freiheitliche Gesellschaft, die sich den Menschenrechten verschrieben hat, selbst immer und immer wieder aussetzen muss, wenn sie bestehen will.
Eine Pandemie ist wie ein Brennglas: Sie bringt stärker hervor, was ohnehin vorhanden ist; dies kann auch eine Chance sein bei der Entwicklung gesamtgesellschaftlicher Werte und Vereinbarungen.
Und vielleicht könnte dann nach Corona Manches ein kleines bisschen anders – nämlich besser – sein als zuvor.
Ein sehr spannender Beitrag, wie ich finde, der die aktuelle Corona-Situation gut durchschaut und viele vorhandene Aspekte benennen kann.
Ein ganz großer und wichtiger Aspekt ist dort sicherlich die „ver-rückte Zeit“, wie sie Walther Ch. Zimmerli in diesem Essay nennt. Eine Verzerrung nicht nur der Zeit, sondern auch der Gefühle. Wir können auf der einen Seite nicht in die Zukunft planen weil wir schlichtweg nicht wissen was noch in der Krise geschehen wird. Und doch sind wir Menschen „Wesen, die sich nur aus dem Sich-selbst-immer-schon-voraus verstehen lassen: aus unserem Planen und Entwerfen“ wie Prof. Zimmerli schreibt. Auf der anderen Seite sehen wir beispielsweise uns vertraute Plätze nicht mehr als solches: unser eigenes Zuhause, ein Rückzug aus dem Alltag und vom Stress der Arbeit, wird notwendigerweise zum Büro für die Arbeit im Homeoffice. Die Gefühlsbahnen von Privat und Arbeit verweben sich so ineinander, dass das ursprüngliche Gefühl von „home, sweet home“ nicht mehr existieren kann.
Ich empfinde diese Zeit wie eine Prüfung. Die Krise ist eine Katastrophe, ohne Frage, aber genau so gab es in der Vergangenheit auch viele andere, und auf die Frage ob ich an eine endgültige Entwarnung glaube, kann ich sagen: natürlich wird es sie geben. Man kann es noch nicht einschätzen wann, aber es wird sie geben. In der Vergangenheit, egal zu welchem Ereignis, ob Kriege, Krankheiten, Naturkatastrophen: es hat immer ein „Danach“ gegeben. Aber der heutige Mensch ist es nicht gewohnt mit so etwas umgehen zu müssen, oft unfähig zur ruhigen Betrachtung der Dinge und oft voreilig in Aussagen und Entscheidungen. Dieses ist dem Phänomen der „großstädtischen Blasiertheit“ geschuldet, wie es Soziologe und Philosoph Georg Simmel in seinem Aufsatz „Die Großstädte und das Geistesleben“ aus 1903 beschreibt. Eine Art von Oberflächlichkeit und Abgestumpftheit, aus Selbstschutz, die aus der Überforderung von unserem Nervensystem hervorgeht.
Ich würde mir wünschen, dass alle Menschen die Kraft finden, in Ruhe und Zuversicht, geduldig, das Ende dieser Restriktionen abzuwarten. Ich glaube auch, dass wir nach Ende dieser Krise vieles nachholen werden was uns verboten oder wovon uns abgeraten wurde, und ich freue mich darauf. Und trotzdem hoffe ich, dass wir an diese „ver-rückte“ Zeit zurückdenken werden. Ich denke sie kann uns ein guter Ratgeber für die Zukunft sein.
Einfach sich kurz zurücklehnen, durchatmen und nachdenken. Denn wie Georg Simmel auch geschrieben hat: „unsere Aufgabe ist es nicht anzuklagen oder zu verzeihen, sondern allein zu verstehen“.
Zunächst einmal möchte ich zustimmen, dass dies ein spannender und gut durchdachter Beitrag zur aktuellen Corona-Situation ist. Ich stimme auch zu, dass ein wichtiger Aspekt die „ver-rückte Zeit“ ist, wie Walther Ch. Zimmerli sie in diesem Essay nennt.
Allerdings frage ich mich, ob es nicht auch eine Frage des Blicks auf das Individuum ist. In unserer Gesellschaft erlebt der Einzelne diesen Ausnahmezustand aus seiner eigenen Sicht, mit seiner Herkunft im Gepäck. Meine Großmutter, als kleines Mädchen das Ende des Zweiten Weltkriegs erfahren, erlebt diese „Krise“ anders als ich, frei von großen gesellschaftlichen „Gefahren“. In einem anderen Land wird ein gleichaltriger Mann sie anders erleben, und so weiter. Die Frage ist also, wie indiviuell ist Corona für die Situation der Normalität? Wie schnell entsteht Normalität?
Wie schnell kann ein Individuum Veränderungen akzeptieren und als Alltag wahrnehmen? Die streng begrenzte Erfahrung des körperlichen Zusammenseins? Und ganz wichtig meiner Meinung nach: Wie normal ist die vom Staat gegebene Bewegungsfreiheit eines freien Bürgers? Die, so empfinde ich es im Dezember 2020, sich wie eine elektronische Fußfessel anfühlt. Es ist erschreckend, dass der große Teil der Gesellschaft nur noch Ja und Amen sagt, sich selbst einsperrt, ohne den Anspruch, einige Menschenrechte zu wahren. Natürlich im Rahmen des Für und Wieders des Algemeinwohls. Wobei wir da wieder bei der Frage wären, wer das Allgmeinwohl definiert? Weiße Männer über 50?
Noch eine Anmerkung, ich bin kein „Querdenker“.