Es war auf dem Höhepunkt der ersten Welle der Corona-Pandemie im April des Jahres 2020, in einer Talk-Show Sendung von Markus Lanz, dem derzeitig angesagtesten Hartnachfrager der Nation. In der Diskussion um die Dynamik der Corona-Pandemie meinte Wolfgang Kubicki, stellvertretender Präsident des Deutschen Bundestages, zum Reproduktionswert R0 und zu den Verdopplungszeiten der Infektionszahlen, dies seien »politische« Werte. Und keiner in der Runde widersprach.
Nun könnte man sich trösten, dass ein Vollblutpolitiker wie Kubicki bei der Kurvendiskussion im Mathematikunterricht vielleicht gerade die Masern hatte. Generell stellt man aber fest, dass sich Politik, Juristerei und Verwaltung mit der Interpretation von Statistik, mit der Einordnung von Ergebnissen der empirischen Wissenschaften und mit systemtheoretischen Modellierungen etwas schwer tut, da im Curriculum solcher Studiengänge dergleichen InhaIte nicht gelehrt werden – wiewohl z. B. jeder Richter tagtäglich auf Gutachten angewiesen ist, wenn er entsprechende Urteile fällen muss. Doch davon später.
Nun kann man seit der Coronakrise in Deutschland beobachten, dass die wechselhafte Geschichte der Beziehung zwischen Politik und Wissenschaft wieder einmal abrupte Wendungen vollzieht – ein Geschehen, das man als eine Vertrauenskrise beschreiben könnte. Gleichzeitig bekommt man so eine Ahnung, dass es sich wohl auch um eine enttäuschte Liebe handelt.
Bevor wir uns diesem komplizierten Verhältnis zuwenden, sei ein Blick auf die mehrfachen Bedeutungen erlaubt, die man mit den Begriffen Politik und Wissenschaft verbindet.
Politik wird hier in einem dreifachem Sinne verstanden: Es sind zum einen die sichtbaren Prozeduren, die sowohl in der Gesetzgebung wie in der Exekutive ablaufen. In der Corona-Krise sind dies Eingriffe, die überwiegend über den Weg der Verordnungen auf Zeit vorgenommen werden, soweit es die bestehenden Gesetze erlauben. Zum anderen ist Politik als modellhafte Vorstellung von Staat, Gemeinschaft, Interessensausgleich und Wohlfahrt und deren Strukturen zu verstehen, die Grundlage für Entscheidungen beim legislativen wie exekutiven Handeln sind. Von daher sind alle politischen Entscheidungen normativ, da sich immer Bezüge zu Weltanschauungen, Wertevorstellungen und deren Präferenzen finden lassen. Zum dritten ist Politik als Gesamtheit der Institutionen zu sehen, die staatliches Handeln überhaupt ermöglichen und aber auch beeinflussen.
Auch Wissenschaft hat mehre Bedeutungen: Zum einen drückt der Begriff die Methodik des Vorgehens aus, die angewandt wird, wenn es um die Erlangung eines höheren Gewissheitsgrades von Wissen über definierte Gegenstandsbereiche geht. Dieser Gewissheitsgrad sollte höher sein als man ihn aus anektdotischer Erfahrung von einzelnen Personen und aufgrund von Alltagserfahrung gewinnen kann. Wissenschaft ist eine Institution, die Wissen schafft, eine Institution, in der Menschen kommunizieren, forschen und über ihre Ergebnisse diskutieren. Schon von daher ist Wissenschaft eine soziale Veranstaltung. Bestimmender Grund der Diskussion ist der Zweifel: Alles wissenschaftlich gewonnene Wissen ist vorläufig, wenn Theorie und Empirie nicht zusammen passen, muss die Theorie nachgeben – auch wenn es – frei nach Max Planck – lange dauern kann, bis die Vertreter der alten Theorie aussterben. Und schließlich kann man unter Wissenschaft den Corpus des gewonnenen vorläufigen, noch nicht widerlegten Wissens verstehen. Das bedeutet nicht, dass es keine Widersprüche gäbe.
Unangenehme politische Entscheidungen sind solche, die einem hinreichend großen Kreis von Interesseninhabern zuwiderlaufen, sich aber aus der Sicht der Entscheider trotzdem als notwendig erweisen (könnten). Die Durchsetzung von solchen Entscheidungen bedarf einer Argumentation seitens des Proponenten. Diese Argumentation muss aber auch eine gewisse Akzeptabilität beim Opponenten genießen – dies ist eine Voraussetzung von Akzeptanz. Dieser kleinste gemeinsame Nenner ist, neben den in einer Demokratie verfassungsgemäß anerkannten Verfahren die Legitimationsbasis politischer Entscheidungen. In der repräsentativen Demokratie wird diese Legitimation durch parlamentarische Prozeduren materialisiert. Dabei gibt es im Allgemeinen einen Konsens, was abstimmungsfähig ist, d.h. welche Gegenstände überhaupt sinnvoll diskutiert werden können und welche nicht. Die unveränderlichen Bestandteile des Grundgesetzes gehören daher nicht dazu. Dazu gehört nach landläufiger Meinung auch nicht die Aussage, dass 2 + 2 = 4 sei. Es scheint auch Konsens gewesen zu sein, dass man über die Erkenntnisse der Wissenschaft nicht politisch abstimmen kann. Ein wissenschaftliches Ergebnis, z. B. ein Messwert, der statistisch gewonnen wurde, ist daher nicht »politisch«; ein wissenschaftliches Ergebnis ist immer konditional: Wenn A, dann B, und zuweilen gilt dies auch nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit. Grenzwerte sind hingegen in der Regel Ergebnis politischer Entscheidungen und Festlegungen aufgrund von Vorschlägen, die die Wissenschaft macht.
Denn politisch wird die Sache im landläufigen Sinne dann, wenn die Aussage »Wenn A, dann B« angewendet wird. Dann wird sie zu einer Regel: »Wenn Du B haben willst, setze doch A ins Werk, dann wird B eintreten.« So herum ist eine solche Regel eine Handlungsanleitung. Wenn also die Wissenschaft sagt, bei R0 unter 1 sei das Wachstum der Infektionszahlen nicht mehr exponentiell, sondern linear, und die Wissenschaft auch noch sagt, dass bei linearem Wachstum (Aussage A) keine strengeren Sicherheitsmaßnahmen mehr notwendig sind (B), dann kann der Politiker doch zum Schluss kommen, dass er die Regel so verwenden kann: Wenn man es schafft, R0 unter 1 zu bekommen, dann braucht man keine strengeren Sicherheitsmaßnahmen mehr. Um also strengere Sicherheitsmaßnahmen zu vermeiden, muss man R0 unter 1 bekommen. Die Frage bleibt dann nur noch, wie.
Die Aussage: »Wenn A, dann B« ist noch neutral. Die daraus gestrickte Regel »B per A« wird genau dann politisch, wenn B zum Ziel erklär wird, also das, was die Politik will.
Nun gibt es ein paar Probleme: Einige sind eher theoretischer Natur und haben etwas mit der Wissenschaft selbst zu tun, andere sind eher praktischer Art, und die beziehen sich auf den Umgang der Politik mit der Wissenschaft.
Das erste theoretische Problem besteht darin, dass man einen Schluss von einer Wenn-dann-Aussage zu einer Regel logisch gesehen nicht machen kann. Das heißt, dass sich die erhoffte Gewissheit der Wenn-Dann-Aussage nicht ohne weiteres auf die Wirksamkeit der dazu formulierten Handlungs-Regel überträgt. Techniker wissen das, wenn sie Physik benutzen, um Technik zu betreiben – um den Test der Regel kommt man nicht herum. Außerdem kann man Regeln aufstellen, die »funktionieren«, ohne dass man das Warum, also die dahinter liegende Wenn-Dann-Aussage kennen müsste. Jeder Computerbenutzer und Besucher einer Autowerkstatt weiß das. Für die Politik heißt das, dass die wissenschaftliche Wenn-Dann-Aussage nicht garantiert, dass die darauf aufgebaute Handlung auch funktioniert. Die Politik muss ihre Handlungsregeln letztlich selbst testen. Das kann anstrengend werden.
Alle wissenschaftlichen Erkenntnisse sind vorläufig, bis sie durch bessere Erkenntnisse abgelöst werden. Das ist das zweite theoretische Problem. Letzte Sicherheit bietet also selbst die Wenn-Dann-Aussage nicht. Bei den empirischen Natur- und Technikwissenschaften (z. B. Physik, Chemie, Geologie, Materialforschung etc.) und den Strukturwissenschaften (Mathematik, Informatik, Systemtheorie) baut die neue Erkenntnis immer auf der alten auf: Die alten Theorien erweisen sich als Spezialfälle der neuen Theorien, sind also bezüglich der alten Erfahrungen und Erkenntnisse, die man gemacht hat, nicht falsch, aber angesichts der neuen Erfahrungen und Erkenntnisse nicht weitreichend genug. So kommt es, dass die Wissenschaft jeden Tag dazu lernt und Wissen akkumuliert, aber das alte Wissen nicht unbedingt wegwirft. Auch all unser technisches Wissen ist in diesem Sinne akkumuliert. Bei den Erkenntnissen in den Sozial- und Geisteswissenschaften, die freilich auch andere Gegenstandsbereiche als die Natur- oder Strukturwissenschaften haben, findet man diese Akkumulation von aufeinander aufbauendem Wissen nur teilweise. Hier kann es auch konkurrierende Schulen geben, deren Erkenntnisse sich widersprechen bzw. Erfahrungen, die aber höchst verschieden interpretiert werden.
Soweit die Erkenntnisse der Wissenschaftstheorie. Für die Politik ist es daher wichtig zu wissen, dass erstens Wissenschaft nie endgültige Ergebnisse liefern kann, zweitens die Anwendung von wissenschaftlichem Wissen zu Handlungsregeln immer überprüft werden muss, und drittens Wissenschaft kommuniziert werden muss für Nichtfachleute. Dabei werden immer wieder »Übersetzungsfehler« und Vereinfachungen passieren, die dann zu Missverständnissen führen. Dies gilt gerade dann, wenn im Kontext von Interessenkonflikten wissenschaftliche Erkenntnisse als Argument dienen sollen. Damit kommen wir zum praktischen Problem des Umgangs mit Wissenschaft.
Wenn politische Akteure, sagen wir zwei Fraktionen im Bundestag, beim wissenschaftlichen Dienst des Hohen Hauses ein Gutachten bestellen, z. B. über die Frage, was bei einer Pandemie mit einem SARS-ähnlichen Virus geschehen könnte (Ausbreitungsdynamik etc.), dann gibt es mehrere Möglichkeiten, nachdem das Gutachten abgeliefert worden ist: Das Ergebnis wird nicht zur Kenntnis genommen. Keine Macht der Welt kann einen frei gewählten Abgeordneten zwingen, ein von ihm bestelltes Gutachten zu lesen. Oder: Das Ergebnis wird zur Kenntnis genommen, unterschiedlich interpretiert und die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen für die Handlungsmöglichkeiten oder gar -erfordernisse gehen weit auseinander. Die Variante mit der Mehrheit setzt sich durch. Oder: Ein nachfolgendes oder parallel erstelltes zweites Gutachten kommt zu einem vom ersten Gutachten abweichenden Ergebnis. Die Akteure sind verwirrt, warten ab, vertagen, schließen das Gutachten weg oder geben ein Metagutachten in Auftrag.
Danach gibt es wieder die drei Möglichkeiten, wie oben geschildert. Wenn das Verfahren nicht konvergiert, wird abgebrochen und eine Kompromissentscheidung versucht, die nicht auf der Grundlage von Gutachten legitimiert erscheint, sondern an Kriterien der Durchsetzungsfähigkeit, d. h. der Mehrheiten und der Mehrheitsverhältnisse orientiert ist. Dies ist das Einfallstor für den Lobbyismus, der dann bereitwillig weitere wissenschaftliche Äußerungen auftreiben kann, die den entsprechenden Interessen konvenierend erscheinen.
Dies war der Zustand vor der Corona-Krise. In der ersten Welle war die Tendenz auffallend, sich eine Legitimationsbasis bei der Wissenschaft zu holen, wobei das krude Verständnis dahin tendierte, dass Wissenschaft gesichertes, begründetes und damit unveränderliches Wissen liefern könnte. Denn wenn dies so wäre, dann könnte ja die jeweilige Entscheidung auch aufgrund des hohen Ansehens der Wissenschaft als alternativlos legitimiert werden, indem die geltende Wenn-Dann-Aussage in eine nicht mehr zu diskutierende Handlungsregel umformuliert wird.
Was nun im Laufe der Diskussion in der Corona-Krise geschah, war ein Missverständnis dessen, was Modellbildung in der Wissenschaft heißt. Modellbildung ist eine in den Naturwissenschaften wie auch in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften übliche Verfahrensweise, die in normalen Zeiten auch kein Anlass zur Irritation gegeben hätte. Als allerdings in der Finanzkrise die Modelle der Ökonomen versagten, weil sie vorher keine befriedigenden Voraussagen gemacht hatten, war die Politik enttäuscht – die Wirtschaftswissenschaften gerieten in eine Krise, die man Modellkrise nennen könnte. Dies ist aber ein – wissenschaftstheoretisch gesehen – »normaler« Vorgang, der in allen Wissenschaften regelmäßig vorkommt und der in den einzelnen Disziplinen dann quasi inhäusig geregelt wird. Man denke nur an die Grundlagenkrise der Physik und Mathematik am Anfang des 20. Jahrhunderts.
Wenn man einen Prozess wie z. B. Aktienkurse, Wetter, Marktentwicklung, Klima, demographische Entwicklung etc. mathematisch modelliert (z. B. mit Differentialgleichungen), dann bekommt man eine Dynamik, d. h. Kurven, die den zeitlichen Verlauf interessierender Größen angeben. Bei den genannten Beispielen wären dies z. B. Kursverläufe, Temperatur, Absatz, Dicke des Eisschildes, Altersverteilung etc. Der konkrete Verlauf der errechneten Kurven, die Prognosen ermöglichen sollen, hängt nun stark davon ab, welche Daten man erhoben hat. Denn man passt die Parameter in den Gleichungen so an, dass deren Lösungen, also die Verläufe der theoretischen Kurven, mit den bisher erhobenen Daten möglichst gut übereinstimmen. Man passt das Modell also an die empirische Wirklichkeit an. Das sind Verfahren, die schon Mathematiker wie Carl Friedrich Gauß im 19. Jahrhundert entwickelt haben. Auf diese Weise wurden auch bei der Corona-Epidemie die Werte der Verdopplungszeiten der Infektionen und der Wert der Infektionsrate R0 bestimmt. Die Bestimmung dieser Werte kann also nur so gut sein, wie die Datenlage es hergibt.
Daher sind alle solche Parameter aus den verfügbaren Daten nur bis auf Fehlergrenzen bestimmbar. Verändert sich die Datenlage, verändern sich auch die Werte der Parameter. Dabei sind, je nachdem in welcher Phase der Epidemie man sich befindet, bestimmte Parameter besser verständlich als andere. Solang die Infektionszahl exponentiell wächst, ist die Angabe der Verdopplungszeit aussagekräftig. Wenn die Zahl der Infizierten abnimmt, ist eine Verdopplungszahl nicht mehr sinnvoll zu definieren. Dann wird der R0-Wert aussagekräftiger, z. B. um vorherzusagen, ob eine weitere Welle droht.
In der Wissenschaftskommunikation wäre es daher notwendig gewesen, darauf hinzuweisen, dass über solche Parameter eigentlich nur sinnvoll zu diskutieren ist, wenn man das Modell kennt. Nun besteht das mathematische Modell einer Epidemie aus gekoppelten Differentialgleichungen. Deren Lösungen, aus der man Vorhersagen gewinnen möchte, sind sehr empfindlich gegen die Werte der verwendeten Parameter sind – also Annahmen wie Reproduktionsrate, Sterblichkeit, Dauer der Genesung, bisheriges Verhältnis von getesteten zu positiv getesteten Personen, Mortalität usw. Das bedeutet auch, dass sich die Vorhersagen mit der Datenlage verändern. Das muss man wissen, sonst ergibt sich der landläufige und von gewissen Medien gern befeuerte Eindruck, dass die Wissenschaft selbst nicht genau wüsste, was sie da macht. Leider scheuen Redakteure in allen Medien mathematische Zusammenhänge, Funktionsschaubilder oder gar Formeln wie der Teufel das Weihwasser, weil sie meinen, dies ihren Lesern oder Zuschauern nicht zumuten zu können. Doch auch das beginnt sich zu ändern: Spätestens seit der zweiten Welle im Herbst 2020 sieht man in Nachrichtensendungen und Talkshows zumindest die Kurven der Infektionszahlen, so dass sich jeder selbst ein Bild machen kann und damit auch in die Lage versetzt wird, die unterschiedlichen Ergebnisse der Interpretationskünste der politischen Akteure einzuordnen.
Dilemmatische Situationen sind solche, in denen alle Optionen, die man moralisch, rechtlich oder wirtschaftlich hat, gleich schlecht oder inakzeptabel sind. Durch die Corona-Pandemie ist die Politik in ein Entscheidungsdilemma geraten: Wieviel soziale und ökonomische Kollateralschäden müsste man akzeptieren, wenn man wie lange einen Lock-down aufrecht erhält, um das exponentielle Ansteigen der Infektionszahlen zu verhindern? Denn bei Kenntnis der Infektionsraten ergeben sich entsprechend statistisch proportional die schweren, behandlungsbedürftigen Fälle, die gegebenenfalls resultierenden Spätfolgen und Todesfälle. Hinzu kommt die prognostizierbare Überlastung des Gesundheitssystems und die daraus wiederum resultierenden Schäden. Es geht also bei diesem Dilemma um eine Gegenüberstellungen von virusbedingten Verlusten an Gesundheit und Leben einerseits und dem wirtschaftlichen, sozialen, psychologischen und auch institutionellen Schäden von Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie.
Dazu kommt die Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts, wonach Leben nicht mit Leben verrechnet werden darf, also weder die Toten der Pandemie mit den mittelbar Toten des Lock-downs. Schwieriger wird die Diskussion dann, wenn die Lebensqualität und Stabilität einer Gesellschaft mit der Lebensqualität der sogenannten Risikogruppe, d. h. der Alterskohorte der über 60-Jährigen und solcher Personen mit Vorerkrankungen abgewogen werden soll. Das Dilemma besteht in einer Triage im Großen: Zum einen will man mit dem Lock-down die Situation einer Triage auf der individuellen Ebene (siehe den Beitrag von Thomas Bschleipfer: »Medizinethik: Wie entscheiden in der Corona-Krise« in diesem Blog) durch die Überlastung des Gesundheitswesens vermeiden. Zum anderen würgt ein zu langer Lock-down die lebensnotwendigen Prozesse in der Ökonomie ab – mit all den nachfolgende Schäden. Um dies wiederum zu verhindern oder abzumildern, werden die bisherigen Prinzipien der Haushaltsführung geändert und Förderungen auf den Weg gebracht. Dabei muss zwangsläufig bei knapper werdenden Mitteln zwischen förderungswürdigen Branchen und weniger systemrelevanten Branchen entschieden werden. Die Fragen überstürzen sich dann – warum die, warum wir nicht, warum Schulen offen, Theater nicht, auf welcher Grundlage werden Restaurants geschlossen, aber Demonstrationen erlaubt usf. Zu dem großen Dilemma gesellen sich zahllose kleine Dilemmata der täglichen politischen Entscheidungen.
Es ist also nur zu gut verständlich, dass die Politik sich eine Orientierung bei der Wissenschaft sucht. Das ist auch in der zweiten Welle zu beobachten. Dies gilt umso mehr, da Fragen der Abwägung von Werten ein Rolle spielen, die in wechselseitige Konfliktbeziehung stehen wie z. B. Leben – Lebensqualität – Gesundheit – Sicherheit – Freiheit – Wohlfahrt. Denn viele Politiker glaubten, dass man auch in den Aussagen der Wissenschaft eine Legitimationsbasis für unangenehme, sprich: letztlich ethische Entscheidungen finden könnte. Und da die Naturwissenschaften solche Fragen nicht beantworten können, wandte man sich an die Ethik als einer Teildisziplin der Philosophie und berief schon 2008 einen Nationalen Ethikrat ein. Doch dieser zeigt sich wissenschaftlich korrekt: Er gibt optionale Empfehlungen ab und sortiert sie nach normativen Positionierungen, die in der Ethik kontrovers diskutiert werden. Auf der Grundlage von wissenschaftlichen Erkenntnissen »Aus A folgt B, es könnte aber auch B‘ folgen und aus C folgt D, es könnte aber auch D‘ folgen« (und das alles nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit) gibt der Ethikrat die Empfehlung ab: »Wenn man B haben will, kann man A probieren, es kann sich aber auch B‘ ergeben, und wenn man D haben will, kann man C probieren, muss aber vielleicht auch mit D‘ rechnen.« Ob B oder D gewünscht wird, ob B‘ oder D‘ gewünscht nicht erwünscht oder gerade noch akzeptabel sind, hängt vom Weltbild oder der moralischen Einstellung der politisch Entscheidenden ab – und diese Entscheidung kann der Ethikrat der Politik nicht abnehmen, auch wenn die Nebenfolgen von beiden Möglichkeiten A oder C politisch unangenehm oder moralisch inakzeptabel sein mögen.
Mit andern Worten: Die Wissenschaft kann keine Dilemmata lösen, schon gar keine ethischen.
Dadurch hat die Politik die Ungewissheit, wie sie entscheiden soll, mit der Ungewissheit der Wissenschaft vertauscht, die ihr zudem ethische Entscheidungen nicht abnehmen kann. Sie glaubte, in der Wissenschaft einen unfehlbaren Partner zu haben, auf dessen Angaben man sich als Legitimationsbasis verlassen kann. Hat die Wissenschaft einen falschen Eindruck in der Politik hinterlassen? Vielleicht hätte man auch außerhalb der Wissenschaft wissen müssen, dass Wissenschaft eben immer nur vorläufige Ergebnisse liefern kann. Nun sieht sich die Politik in der Wissenschaft getäuscht: »Woran soll ich mich denn halten?«, lautete der verzweifelte Ausruf eines Ministerpräsidenten. Und die enttäuschte Politik begann der Versuchung nachzugeben, der Wissenschaft als Institution politische Interessen zu unterstellen. So kam es zu Statements wie: »Werden wir jetzt von den Virologen regiert?«; »Die Werte (z. B. R0 etc.) sind doch politisch!«.
Das sind und waren sie nicht. Sie wurden von der Politik instrumentalisiert als Legitimation für Maßnahmen, deren Akzeptanz vielleicht ohne diesen Rekurs auf Wissenschaft nicht so einfach zu beschaffen gewesen wäre.
Politisch hingegen sind sogenannte Grenzwerte. Am Beispiel der Schädigung durch Gift kann man sich das leicht klar machen. Die Wissenschaft, z. B. Biochemie oder Medizin, kann feststellen, ab welcher Dosis oder Intensität ein Gift nennenswert in einem Organismus Schaden anrichtet. Man kann in etwa den Wert der Giftkonzentration und die Zeit der Exposition bestimmen, bei der noch keine Schädigung des Organismus nachweisbar ist, er sei N genannt. Von diesem Wert N nimmt man, um auf der sicheren Seite zu sein, einen Wert, der 10 % von N entspricht, also ein Zehntel. Nennen wir ihn G. Die Wissenschaft empfiehlt dann, diesen Grenzwert G einzuhalten, wenn man keine Schädigung in Kauf nehmen will. Grenzwerte einzuhalten kostet Geld, und das Ganze läuft zuweilen auch bestehenden Interessen zuwider. Da gerät die Politik als Kunst, mögliche Interessensdifferenzen auszugleichen, schon mal in Versuchung, einen veränderten Grenzwert, der eben ein bisschen höher als G liegt, als zulässigen Grenzwert zu entscheiden. Genau da ist die Stelle, an der der Grenzwert politisch wird.
Für die Pandemie heißt das: Die aus der Statistik ermittelte Reproduktionsrate R0 ist kein Grenzwert. Jedoch festzulegen, dass bei einer Inzidenz von 50 Infizierten pro Hunderttausend Einwohner lokal ein Lock-down verhängt werden kann, ist eine politische Festlegung, auch wenn dieser Grenzwert sich an virologischen Erkenntnissen orientiert haben mag. Ihn beizubehalten, auch wenn sich die virologischen Erkenntnisse verändert haben, wäre dann wiederum eine politische Entscheidung.
Nun wurde von den Befürwortern einer schnellen Lockerung nach Abklingen der Infektionszahlen (wie wir heute wissen, der ersten Welle) in einer ungewollten, aber gefährlichen Allianz mit Verschwörungstheoretikern und Corona-Leugnern die meist in eine Frage gekleidete Behauptung aufgestellt, ob bei den jetzigen »guten« Zahlen die ganzen Maßnahmen nicht übertrieben gewesen wären und immer noch seien. Und dann kam der Vorwurf in die Diskussion, dass die Wissenschaft mit ihrer Warnung eine falsche Voraussage getroffen hätte: Die Zahlen der Infizierten und in deren Folge die Anzahl der Toten würden exponentiell wachsen. Das sei ja nicht oder nur ganz kurzfristig eingetreten, sonst würde man in Deutschland ja mit den Zahlen nicht so gut dastehen.
Diesen geradezu klassische Fehlschluss kennt man auch als »Voraussageparadoxon«: Die Warnung vor einer prognostizierten Gefahr führt zu Maßnahmen, die diese Gefahr tatsächlich bannt. D. h., dass die Voraussage unter der Bedingung gemacht wird, dass gegen die Gefahr nichts unternommen würde. Führt die Kenntnis der Voraussage zu einer Handlung, die diese Voraussage nicht eintreten lässt, so hat sich erfreulicherweise die Bedingung, unter der die Voraussage hätte gelten können, geändert. Daraus zu schließen, die Handlung sei nicht notwendig gewesen, ist logisch einfach falsch und auch sonst ziemlich töricht. Darauf sollte sich kein Politiker einlassen, der auf seine Denkfähigkeit etwas hält.
Und wieder bot die Wissenschaft ein verwirrendes Bild: Mal wurde eine zweite Welle prognostiziert, mal nicht. Was man überhört hatte, war, dass diese Prognosen ebenfalls Wenn-Dann-Aussagen waren, die als Prämisse Annahmen machen mussten, derer man sich nicht gewiss sein konnte. Heute wissen wir es: Die zweite Welle ist da, die Dilemmata bleiben.
Etwas Demut vor der Ungewissheit könnte sowohl der Politik wie der Wissenschaft nicht schaden.
Damit rückt das Thema, das ganz kurz am Anfang angerissen wurde, nochmals in den Blick. Es ist ja seit den 50er Jahren – mit Unterbrechungen – im Rahmen des Studium generale an den Universitäten und Hochschulen immer wieder gefordert worden, die Studiengängen der naturwissenschaftlichen und technischen Fächer (heute MINT-Fächer genannt) um geistes-, kultur- und sozialwissenschaftliche Inhalte zu ergänzen. Dahinter stand auch die Überzeugung, dass Technik- und Naturwissenschaften die Lebensbedingungen der Menschen in allen Bereichen massiv verändern, und deshalb die Gestalter von Technik wissen müssten, was sie da verändern und bewirken. Man wollte verhindern, dass »Fachidioten« nur an technischer Machbarkeit orientierte Entscheidungen treffen.
Nun zeigt sich, dass es eine genauso gute Forderung wäre, die Studiengänge der Rechts-, der Politik- der Wirtschafts- und Kulturwissenschaften um technische und naturwissenschaftliche Inhalte zu ergänzen. Somit könnten zukünftige Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft mit bestehenden technischen Möglichkeiten, mit der Wirkungsmacht technischer Gestaltung und letztlich mit den Methodiken und Denkweisen der empirischen Wissenschaft in Umrissen vertraut gemacht werden.
Dann würde schnell klar werden, dass empirische Zahlen (im Sinne von ermittelten quantitativen Größen), bei einer Pandemie keine »politischen« Werte sind, sondern Zahlen, die nur im Rahmen eines wissenschaftlichen, d. h. hier sogar mathematischen Modells sinnvoll zu interpretieren sind. Dann würde auch klar werden, dass Grenzwerte, die von der Politik als geltend entschieden worden sind, zwar auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen können, aber nicht müssen, und dass bei ihren Festlegungen massiv Interessen im Spiel sind.
Interessen zu haben, ist legitim. Es wäre für die politische Kultur in hohem Maße förderlich, sich gegenseitig zu gestatten, diese Interessen klar und offen zu benennen. Dann braucht die Wissenschaft nicht auf die Politik herabschauen, und die Politik braucht sich nicht hinter der Wissenschaft zu verstecken.
Vielen Dank für diesen interessanten Einblick! Insbesondere den Punkt, dass Wissenschaft nie absolute Ergebnisse liefern kann, empfinde ich als sehr wichtig. Eine Prognose ist eben nur so gut, wie die aktuelle Empirie es zulässt.
Zu oft zeigt sich zudem heutzutage eine Haltung, die ich mit “Das muss doch gehen!” titulieren würde (und das nicht nur in der Politik). Meist, weil das Verständnis für wissenschaftliche Denkweisen fehlt. Somit unterstütze auch ich die Forderung, die genannten Studiengänge um naturwissenschaftliche Inhalte zu ergänzen. Die Kunst des systematischen Denkens zu erlernen hat noch niemandem geschadet!
Vielen Dank für den Essay, der meiner Ansicht nach meine Gedankenführung auf hervorragende Art und Weise begleitet. Während der ersten Hälfte formte sich in meinem Kopf die Überlegung: „Wäre es dann nicht sinnvoll, wenn die grundlegende Bildung ein besseres Verständnis von den Funktionsweisen von Bereichen wie Politik, Wissenschaft oder Wirtschaft vermitteln?“. Die letzten Absätze fühlten sich an wie das Tüpfelchen auf dem i.
Wie es scheint, liegt die langfristige Lösung wie häufig in der Bildung. Doch wie Herr Kornwachs erwähnt, spielt auch die Kommunikation keine unwesentliche Rolle. Wie weit würde ein Rechtsstaat kommen, würde er auf jeden hierarchischen oder interessensgetriebenen Einfluss bei der Kommunikation verzichten?