… sehen Literatur als leichte Unterhaltung an, in Form von Büchern, die man ›wegliest‹ – ein Zeitvertreib, ohne den es sich ebenso glücklich und erfüllt leben lässt. Im weitesten Verständnis aber ist die Literatur ein Sesam der anderen Gesichtspunkte, der unterschiedlichen, durch den individuellen Verstand der einzelnen Menschen gefilterten Weltsichten. Und darin lässt sie sich mit nichts anderem vergleichen. Literatur, auch die älteste, die mündlich überlieferte Literatur, schafft Ideen und zeichnet Perspektiven, die sich tief in unserem Verstand verankern und ihn formatieren – ob wir es wollen oder nicht. Sie ist die Heimat der Philosophen (was ist denn Platons Gastmahl anderes als ein Stück gute Literatur?), bei ihr beginnt das Philosophieren.«
Olga Tokarczuk
Tokarczuk, Olga: Übungen im Fremdsein. Essays und Reden. Zürich: Kampa Verlag, 2021. S. 30.
Ein Teil des Schatzes, den die Literatur darstellt, ist das breite Spektrum dessen, was sie uns bietet. Auch die leichte Unterhaltung ist Teil davon, der Wunsch nach ihr berechtigt, gerade in einer Gesellschaft, in der Effizienz, Nutzen und Leistung großgeschrieben werden. Doch – und ich denke darum geht es viel eher in diesem Zitat – die Literatur vermag tiefgreifendere Wirkungen zu erzielen. Ihren wahren Wert erkennen wir, wenn Gelesenes sich nachhaltig, in Form von uns voranbringenden, neuen Gedanken, Ideen und Perspektiven in unserem Verstand »einnistet«.
Den Grund dafür sehe ich in der immer kürzer getakteten Arbeitswelt, die zudem auch noch digitalisiert wird. Darüber hinaus wird Multitasking immer mehr vorausgesetzt. Neben dem zeitaufwändigen Job, den zahlreichen Haushaltsaufgaben und den sozialen Kontakten bleibt immer weniger Zeit, um sich wichtigen Inhalten von Büchern zu widmen. Auch bei mir selbst merke ich, dass ein intensives Studium viel Konzentration und Zeit abverlangt. Früher war ich ein regelrechter Bücherwurm, und heute freue ich mich auf Ferien, damit ich es überhaupt einmal dazu schaffe.
Es wird immer mehr gleichzeitig von einem abverlangt. Was zu einer Überreizung des eigenen Selbst führt. Oftmals ist man abends dann einfach nur froh, ins Bett zu gehen. Was natürlich ungemein schade ist. Wenn mehr philosophische Inhalte oder Bücher in der Schule durchgenommen werden würden, hätte man eher die Möglichkeit, sich mit solchen Themen zu beschäftigen und auch auseinanderzusetzen. Und endlich auch einmal die Zeit dafür. Der gesellschaftliche Druck wird immer höher und die Zeit für sich selbst immer kürzer. Daher stellt man leider solche Themen immer öfter hinten an.
Immer weniger Menschen greifen heutzutage noch zu Büchern, besonders die jüngere Generation liest immer weniger. Mittlerweile gibt es alternativen wie Audible oder Bookbeat, bei denen man Bücher anhören kann. Wie verändert dies unsere Wahrnehmung und unser Verständnis von Literatur? Nehmen wir weniger des Inhaltes mit, wenn wir ihn nur nebenbei anhören? In einer Gewissen Art und Weise erinnern Hörbücher auch an die mündliche überlieferte Literatur, die es vor den Büchern gegeben hat.
Literatur ist ein großer, wertvoller Schatz an Wissen, Geschichten, Erfahrungen, Berichten, Fehlern, Erkenntnissen und Perspektiven anderer Menschen. Wenn diese so aufbereitet sind, dass sie Freude beim Lesen bereiten, ist daran nichts verkehrt. Wer das Gelesene nimmt, daraus lernt und zukünftig immer wieder darauf zurückgreift, weiß den Schatz „Literatur“ wirklich zu nutzen.
Literatur ist unfassbar wertvoll für die Menschheit. Klar kann sie auch der Unterhaltung dienen, unsere Fantasie anregen, spannende Geschichten erzählen oder uns verleiten, die Seele baumeln zu lassen. Das alles hat auch eine Daseinsberechtigung. Die wirkliche Stärke der Literatur kommt aber ganz zum Tragen, wenn sie uns weiter voran bringt, aufbaut und Perspektive schafft. Was mein ich damit? Ich meine z. B. die Möglichkeit, auf die Erfahrungen und Erkenntnisse eines Menschen zurückzugreifen, der sich sein ganzes Leben mit einem Thema befasst hat und in einem Buch niederschreibt. Wissenschaftslektüre könnte man sagen. Und es gibt sie für jede Lebenslage, für jedes Gebiet und Thematik. Wir können so sehr davon profitieren und darauf aufbauen. Wir müssen den harten Weg nicht gehen, den diese Person genommen hat. Wir nehmen den harten Weg, der folgt. Genauso mit den Nachrichten. Gute Zeitungen, die uns über die Welt informieren. Wie dumm es wäre, so eine kluge Ressource nicht zu nutzen.
Diese Zeilen erinnern mich an die Festrede von Prof. Dr. Peter Bieri aus dem Jahr 2005. »Wie wäre es, gebildet zu sein?«
Im Abschnitt »Bildung als Artikuliertheit« ist die Rede von dem »ungebildeten Gelehrten«, der da entsteht, wenn der Mensch das Gelesene nur als »Unterhaltung« annimmt, es »wegliest«. Aber der, der sie »nicht bloß konsumiert, sondern sich auf sie einlässt; derjenigen, der nach dem Lesen ein anderer ist als vorher«, hat die Chance, seine Umwelt anders, neu wahrzunehmen. Wissen nicht nur als »Ansammlung von Information« oder gar als »gesellschaftliches Dekor«, Wissen als Auswirkung für »innere Veränderung und Erweiterung […], die handlungswirksam wird.«