Adorno am Radio

Theodor Wiesengrund Adorno ist in demselben Jahr 1903 geboren wie mein Vater und ein Jahr früher als er gestorben, nämlich 1969, was mir immer einfällt, wenn von dem großen Intellektuellen die Rede ist. Die 1960er Jahre gelten als bewegte Jahre, was nicht zuletzt mit dem Aufbegehren der Studenten (heute: der Studentinnen und Studenten) zu tun hat, die unter anderem von einem der Doktoranden von Adorno angeführt wurden. Mitte der 1960er Jahre ging ich noch zur Schule, hatte aber einen Deutschlehrer, der mich zum einen mit nach Frankfurt nahm, um dort beim Auschwitz-Prozess zuhören zu können, über den ich dann auch in einer Schülerzeitung berichtet habe – »Hitler ist kein Alibi« –, und der mich zum zweiten in die Stadthalle von Wuppertal schleppte, um dort dem Philosophen Theodor W. Adorno zu lauschen, der gerade sein Buch über den »Jargon der Eigentlichkeit« vorgelegt hatte, in dem der Lehrer las, wie er uns sagte und zeigte. Adornos Vortrag bestand darin, dass er ein von ihm selbst als »sprachlich dicht« bezeichnetes Manuskript über den Begriff der Gesellschaft vorlas – so meine erste Erinnerung –, wobei ich schon nach dem zweiten Satz nicht mehr mitkam – so meine zweite Erinnerung, was mich aber nicht bedrückte und eher amüsierte, so meine dritte Erinnerung. Mir kam es im Laufe des Zuhörens immer weniger so vor, als ob irgendjemand im Publikum irgendetwas verstehen konnte, und selbst der Lehrer murmelte etwas von einer Zumutung auf dem Heimweg – so meine vierte Erinnerung an meinen Abend mit Adorno.

»Worte, Worte, nichts als Worte«

Noch als Abiturient und bevor ich 1967 mit dem Studium der Physik beginnen konnte, habe ich versucht, in Adornos Büchern zu lesen, was zum einen schwierig war, weil es in seinen Schriften vielfach um die Neue Musik etwa von Alban Berg ging, während ich lieber die Beatles hörte, und was zum zweiten daran lag, dass es Adorno überhaupt nicht »auf das breite Publikum und seine Zustimmung« ankam, wie ich damals spürte und heute der Biographie entnehmen kann, die der Soziologe Stefan Müller-Doohm 2011 über »Adorno« vorgelegt hat. Der als Komponist, Musikkritiker und Sozialphilosoph Gefeierte meinte nämlich souverän, er allein sei »der Maßstab alles dessen, was ich geistig unternehme«, und wenn der angehende Student das auch nicht in dieser expliziten Form wissen konnte, schimmerte doch die bis zur Verachtung seiner Leserinnen und Leser gehende Überheblichkeit des Philosophen in fast jedem seiner vielfach rückbezüglichen Sätze durch, und es bleibt mir bis heute unverständlich, wie Adornos unangenehm manierierter Schreibstil so viele Bewunderer finden konnte. Nach und nach fand ich in den Jahren um 1968 allgemein unerträglich und ein Verbrechen am Lesepublikum, was da von Soziologen als Philosophie zum Verständnis der Gegenwart angeboten wurde, und mir schien nach und nach, als ob die von Adorno so sehr beschworene Theorie einige ansonsten gute Ideen für die Praxis völlig verdrehte, etwa wenn er meinte, zeigen zu müssen, »dass der mit der Kategorie des Unbewussten bezeichnete Problemkomplex, der innerhalb jener Grenzen der Kantschen Philosophie vom phänomenalen Ich nicht zu lösen sei, an die transzendente Methode zurückverwiesen werden müsse«. Um dann was damit zu tun? 

Ich frage mich bis heute, für wen solche gespreizten Sätze geschrieben sind. Adorno und seine Kollegen sprechen nie über Geschichte oder Wissenschaft direkt, dafür aber über Walter Benjamins Begriff der Geschichte oder über Nietzsches Kritik des Szientismus. Sie denken nie unmittelbar über Sachfragen und das Wirkliche nach, sondern sinnieren, was Hegel, Schopenhauer, Husserl und der ganze Reigen philosophischer Trapezkünstler bei ihren Verrichtungen zuvor im Zirkuszelt ihrer Phantasie herausgefunden haben und was sie jetzt der Kritik unterziehen, wobei jeder (keine jede) etwas anderes darunter versteht. Nach der ersten Kritik folgt natürlich die Kritik der Kritik, der man erneut kritisch begegnet, bis die Wirklichkeit so weit weg ist, dass sie nicht einmal mehr als schwacher Schein wahrzunehmen ist, über den man immer noch diskutieren möchte. »Worte, Worte, nichts als Worte«, wie man aus Shakespeares Hamlet zitieren könnte, wenn man nicht zu schreiben geneigt wäre, »Wörter, Wörter, nichts als Wörter«. Was sonst hat man denn, wenn Adorno »für das Begriffslose … die Kategorie der Nichtidentität« einführt, »die er als Korrektiv des begrifflichen Vorgehens verstand«, als er schrieb, dass dann, wenn die philosophische Reflexion die Autarkie des Begriffs preisgibt, sie »die Binde von den Augen abstreift«. Wieso wird ihr erst dann bewusst, »dass Subjekt in Wahrheit nie ganz Subjekt, Objekt nie ganz Objekt« sei, wie zu lesen ist und womit selbst diese noch einigermaßen harmlos daherkommenden Sätze den neugierigen Lesenden erst verwirren und dann resignieren lassen? Wie soll man verstehen, was Adorno sagen will, wenn er den »Trug konstitutiver Subjektivität« und damit »die Verabsolutierung jenes Subjektes« kritisiert, »das seine individuelle Selbsterhaltung absolut setzt«, wahrscheinlich um bei diesem Treiben an irgendeiner Totalität zu verzweifeln? »Wörter, Wörter, nichts als Wörter«, wobei es einem, der nicht mit diesem Jargon vertraut ist, zusätzlich ärgert, dass Kollegen Adorno hymnisch bescheinigen, mit solchem Geschwulst eine »luzide Prosa« zu schreiben.

Wer in den späten 1960er Jahren studierte und seine Augen offen hielt, kam nicht umhin, in den Zeitungen von dem immer hektischer vorgetragenen und dabei leerer werdenden Soziologengewäsch zu lesen, mit dem einem die Gegenwart erklärt werden sollte, während man sich selbst als Student der Physik mit Schriften von Wissenschaftstheoretikern abmühte, die wie die von Karl Popper versuchten, etwas Lesbares zur »Logik der Forschung« zu liefern. Popper hat sich einmal mit den Sozialphilosophen angelegt, was als »Positivismusstreit« bekannt geworden ist, und in dem Zusammenhang hat er sich auch über deren Jargon mit ihren viel zu großen Worten aufgeregt, über die sich schon Goethe mokiert hatte, als er seinen Faust sagen lässt, »Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört,/ Es müsse sich dabei doch auch was denken lassen«. Aber was soll man sich denken, wenn man liest, »Adorno begreift die Gesellschaft als Totalität in dem streng dialektischen Sinn, der es verbietet, das Ganze organisch aufzufassen«, und in diesem Satz ist »die Totalität keinesfalls eine Klasse, die sich umfangslogisch bestimmen ließe«, und so immer weiter. »Worte, Worte, nichts als Worte«.

Die Verzauberung der Welt 

Als Student der Physik wurde mir das soziologische Geschwafel bald gleichgültig und ich hatte es fast vergessen, bis ich als historisch orientierter Autor von Sachbüchern im 21. Jahrhundert die Qualität der Naturwissenschaften beschreiben wollte. Dabei fiel mir zum einen auf, dass Adorno in seiner ganzen Lebenszeit nichts, aber auch gar nichts von deren Erfolgen wissen wollte. Ihn ließ das neue Weltbild der als Quantenmechanik bekannten Atomphysik ebenso kalt wie die Molekularbiologie der Zelle, und er geht ebenso mit keiner Silbe auf die bedeutsame Ausweitung des evolutionären Gedankens zu einer Theorie des Erkennens ein, was ein höchst humanes Menschenbild ermöglicht hat und es besser erlaubt, a) über das Denken nachzudenken und b) zu erklären, was die Physik mit ihren Einsichten in das Innerste der Welt für den Laien so schwierig macht.

Sozialphilosophen lassen alles Naturwissenschaftliche verächtlich links liegen – die Schwerkraft ist ihnen zu plump, das Organische zu stumpfsinnig und »Kultur kann man nicht messen« –, um sich in merkwürdig mickrig wirkenden Meditationen zur Metaphysik zu verlieren, und sie zögern in ihrer erstaunlichen Ahnungslosigkeit auch nicht, den unsinnigen Vorwurf von Max Weber aus dem Jahre 1917 zu wiederholen, mit der Wissenschaft erlebe man eine Entzauberung der Welt. Als Adorno mit seinem Kollegen Max Horkheimer in den Jahren des Zweiten Weltkriegs ihre »Dialektik der Aufklärung« planten, meinte das Duo erst einmal feststellen zu müssen, »Das Programm der Aufklärung ist die Entzauberung der Welt«, was genauso falsch ist wie die Behauptung von Karl Marx, alle bisherige Geschichte sei die Geschichte von Klassenkämpfen. Wer so etwas im 19. Jahrhundert schreibt – und bis in die Gegenwart zustimmend zitiert – zeigt nur, dass er oder sie die Geschichte überhaupt nicht kennt und auch nicht das Geringste von der treibenden Macht der Wissenschaft verstanden hat – als Stichworte: Elektrifizierung und Industrialisierung –, die mehr zur Entwicklung der Menschheit beigetragen hat als all das Geschehen, das traditionelle Geschichtsbücher als relevant präsentieren, wenn sie Königshäuser oder Schlachten aufzählen. 

In denselben Jahren, in denen Horkheimer und Adorno an ihrer Dialektik feilten, hatten die Physiker gemerkt, dass die Naturwissenschaften keineswegs in der Lage sind, die Geheimnisse der Welt weg zu erklären. Sie vertiefen sie im Gegenteil, was entsprechend für »Die Verzauberung der Welt« sorgt, wie ich es in einem 2014 erschienenen Buch mit diesem Titel beschrieben habe und in dem zu lesen ist, wie dumpf alle sind, die organisches Leben als »dumpf« bezeichnen, wie Adorno es meint, tun zu müssen.   

Das »Radio Research Project«

»Die Verzauberung der Welt« versucht zu erkunden, ob und wie man die im 20. Jahrhundert höchst abstrakt und komplex gewordenen Naturwissenschaften dem Publikum oder der Öffentlichkeit vermitteln will, wie sich mit anderen Worten das erreichen lässt, was man naturwissenschaftliche Bildung nennen könnte. Und bei aller Praxis, an der sich auch der Autor dieser Zeilen – etwa in seinem Buch über »Die andere Bildung«, in der zu lesen stand, was man seiner Ansicht nach von den Naturwissenschaften wissen sollte – versucht hat, fehlt es solchen Bemühungen an Adornos Lieblingskind, nämlich einer Theorie. Nun ist solch ein damit gemeintes Durchdenken der Vermittlungsmöglichkeiten für die moderne Physik auf keinen Fall bei dem Sozialphilosophen zu erwarten, aber als Adorno als halbjüdischer Linksintellektueller gezwungen war, Nazi-Deutschland zu verlassen und in die USA zu emigrieren, da erwartete ihn in New York der überraschende Auftrag, im Rahmen eines »Radio Research Projects« »das Grundgerüst für eine soziologische Theorie der Radiomusik« zu errichten und es mit einem »spezifischen Konzept für die Erforschung dieses [damals neuen] Mediums« zu verknüpfen. Und wenn man auch von Adornos Philosophie nicht angetan ist, seine Überlegungen zu der hier aufgegriffenen Frage, »in welchen sozialen Situationen die durch den Rundfunk verbreitete Musik gehört wird«, können vielleicht helfen zu verstehen, unter welchen Umständen die in den Medien vorgeführte Wissenschaft rezipiert wird und was man dabei anders oder besser machen kann. 

Adorno betrachtete alles – auch das Radio und seine Musik – unter einer »elitär-bildungsbürgerlichen Perspektive«, was ihm in den 1930er Jahren in den USA zwar den Vorwurf eintrug, eine »europäisch geprägte Bildung als ungerechtfertigten Hochmut« vor sich her zu tragen, ihn aber nicht daran hinderte, seine Analysen von populärer Kultur mit deutscher Gründlichkeit durchzuführen. Musik im Radio erklang damals vielfach als Jazz, was Adorno Anlass zu sexuellen Überlegungen gab, indem er »die Funktion der Synkope im Jazz als Ausdruck eines durch Impotenzängste bedingten Zu-Früh-Kommens des Orgasmus« deutete, was hier nur der Kuriosität wegen erwähnt wird, die Lust auf mehr machen soll. Was die klassische Musik im Radio anging, so wetterte Adorno (ohne empirische Grundlage) gegen die Übertragung von Konzerten als Beispiel für eine »kommerzialisierte Kultur«, die zu einer »Infantilisierung eines Musikpublikums« führe und dessen Fähigkeit zu hören verkümmern lasse. Musik im Radio sei bloß zerstreuende Unterhaltung ohne urteilsfähige Zuhörer, was dazu führe, dass diese Unterhaltung nicht wirklich unterhalte und man im Genuss Genussfeindschaft feststellen müsse, wie der Dialektiker Adorno genüsslich schrieb. Ihm kam es so vor, als ob die Musik nur ihres Prestigewertes wahrgenommen würde und die Menschen mehr Interesse am Stardirigenten oder einer Primadonna zeigten. 

Alles in allem stellte Adorno fest, dass Musik im Radio zur Ware verkomme und nur das Konsumverhalten der Hörerinnen und Hörer verstärke, ohne zum sachkundigen Rezipieren einer Kunst anzuleiten, wobei nicht zu erfahren ist, a) woher er das wissen wollte, da er niemanden darüber befragt hatte, und ob das b) anders war, als die Kultureliten wie Leute seines Schlags in der Abendgarderobe im Konzertsaal saßen und dem Stardirigenten zujubelten, wenn er mit dem Taktstock herumfuchtelte. Doch wer nicht weiß, woher Adorno die Gewissheit nahm, die Hörgewohnheiten der Menschen in den eigenen vier Wänden – im Bad, im Bett oder bei der Küchenarbeit – als Massenkonsum abwerten zu können, in dessen Rahmen es unmöglich sein wird, das Gehörte »als einen Sinnzusammenhang zu erfassen, als eine Sinneinheit«, wie er 1940 geschrieben hat, wird noch weniger verstehen, was er tatsächlich angeregt hat. Adorno meinte nämlich, dass ein Rezipient von Musik in der Lage sein solle, »das Stück virtuell selber im Hören zu komponieren«, was selbst Lessing albern vorgekommen wäre, der bekanntlich festgestellt hat, dass niemand ein Ei legen können müsse, um es sich schmecken zu lassen.  Doch vielleicht lohnt es sich, mit Adornos Elitegehabe in analoger Weise Gedanken über eine »soziale Theorie der Wissenschaftsvermittlung« durch die Medien zu entwickeln. Für Adorno war zwar klar, »dass die stereotypen Inszenierungsmechanismen der Populärkultur auf die Erwartungshaltung der Konsumenten zurückbezogen werden können«, aber diesem schwachen theoretischen Gedanken steht die starke praktische Überlegung gegenüber, Wissenschaftsvermittlung so anzulegen, dass das Publikum die vorgestellten Einsichten nachvollziehen oder gar selber auf sie kommen kann. Könnte das der Weg werden, auf dem Wissenschaft populär zu machen ist, auch wenn man dabei bedenken sollte, dass diese Anstrengungen in Adornos Sicht nichts mit einem wirklichen Verständnis für Musik oder Wissenschaft zu tun hat – falls es jemanden gibt, der sagen kann, was damit gemeint ist?

Warum Wissenschaft nicht populär sein kann

Als Adorno in New York über das Hören von Musik und die Bildung am Radio nachdachte, stellte sich in Berlin Max Planck, der Vater der Quantentheorie, die Frage: »Warum kann Wissenschaft nicht populär sein?« Natürlich räumte der große Physiker ein, dass »sich ohne weiteres Wissenschaften namhaft machen lassen, denen ohne Zweifel eine ausgesprochene Volkstümlichkeit zukommt« – etwa die Sternen- oder die Wetterkunde –, aber er meinte, dass der Laie überwiegend dem Material der Forschung »eher verständnis- und hilflos gegenübersteht«. Für Planck war der Hinweis wichtig, dass das geistige Schaffen eines Forschers oder einer Forscherin  »eigenstes persönliches Erlebnis« ist und »eine Konzentration erfordert, … die einem Außenstehenden ganz unverständlich bleiben muss«. Das bedeutet aber nicht, dass man sich etwa für die Erklärungen, die Molekularbiologen in Hinblick auf das Geheimnis des Lebens und Physiker über das Innere von Schwarzen Löchern geben, nicht begeistern lassen kann. Die Wissenschaft verzaubert mit ihren Erklärungen die Welt wie es großen Musikstücken beim Zuhören gelingt – unabhängig davon, ob man sie im Konzertsaal oder am Radio hört, wobei heute noch ganz andere mediale Möglichkeiten bestehen und genutzt werden, weil sie Freude bringen. Es kommt nicht auf ein wie auch immer zu verstehendes Verstehen an, sondern auf ein Gefühl für das Geheimnisvolle, das in großen Kompositionen ebenso steckt wie in großen Theorien, wobei nicht die der Soziologie, sondern die der Physik gemeint sind. Wenn sie dieses Mysteriöse spüren, werden Menschen Glück empfinden und anfangen, sich selbständig in Kunst und Wissenschaft umzusehen und vielleicht versuchen, beide durch das Geheimnis zu verbinden, das zu ihnen gehört und dessen Kennenlernen Dankbarkeit bei ihnen hervorruft. Die Wahrheit steckt in der Praxis des Erlebens. In den Worten von Erich Kästner: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Anfangen kann man immer. Aufhören muss man nie. Angst braucht niemand zu haben.