Buch oder Bildschirm?

Was unterscheidet das Lesen auf Papier vom »digitalen« Lesen? Und welchen Vorteil hat das Lesen gegenüber anderen Formen der medialen Vermittlung? Wenn man von den Vorteilen des Lesens spricht, dann begegnet man schließlich dem Argument, dass das alles doch auch in anderen Medien möglich sei.


Lesen in der »Medienkonkurrenz«? 

Es hat sich über Jahrzehnte gezeigt, dass die Annahme einer scharfen Konkurrenz zwischen dem Lesen und der Nutzung anderer Medien unzutreffend war. Printmedien und elektronische (visuelle, auditive etc.) Medien stehen nicht in Konkurrenz zueinander, sondern in einem positiven Komplementärverhältnis. Wir nutzen jene Medien, die für uns in einer bestimmten Situation und zu einem bestimmten Zweck die funktionalsten sind. Aber schon die Forschung der 80er bis 2000er Jahre (die ursprünglich vom Fernsehen als »Fressfeind des Lesens« ausgegangen war) hat in Bezug auf das Fernsehen nachgewiesen, dass regelmäßige und insofern kompetentere Leser auch das Fernsehen bewusster und kompetenter nutzen. 

Am Beispiel des Fernsehens zeigte sich nämlich schon früh, dass die Vermutung einer unabhängig vom Lesen entstehenden Medienkompetenz abwegig ist. Dagegen sprachen und sprechen zum Beispiel die Differenzen in den Schulleistungen von Kindern, die viel lesen und wenig fernsehen, im Vergleich zu Kindern, die wenig lesen und viel fernsehen. (Allerdings ist dies nur sehr begrenzt kausal zu interpretieren; kausal sind hier in höherem Maße Drittvariablen wie Persönlichkeitsmerkmale bzw. Intelligenz, familiäre Förderung etc.) 

Die seinerzeit beim Fernsehen gewonnenen Einsichten finden sich aktuell bei der Nutzung von Computer und Internet wieder: Menschen, die täglich oder mehrmals in der Woche lesen (»Vielleser«) zeigen einen kompetenteren Umgang mit dem Computer und anderen Medien als Menschen, die wenig oder gar nicht lesen. Konkret: »Vielleser haben weniger Schwierigkeiten als Wenigleser mit der Tatsache, dass Texte nicht mehr auf einer einzigen Oberfläche präsentiert werden, sondern sie diese ›zusammenlesen‹ müssen. Sie sind zielgerichteter und konzentrierter in ihrer Informationssuche, das heißt, sie verfolgen auch in der Informationsflut des Internets ein einmal anvisiertes Ziel.« (Gesine Boesken: Lesen am Computer – Mehrwert oder mehr Verwirrung? Untersuchungen zur »Konkurrenz« zwischen Buch und Hypertext. In: Braungart, G./Eibel, K./Jannidis, F. (Hg.): Jb f. Computerphilologie 4; Paderborn 2002, S. 127—149, S. 95.)

Das heißt: Kompetente Mediennutzung basiert auf einer gelungenen Lesesozialisation. Regelmäßige Leser können auch die audiovisuellen Medien besser nutzen, v. a., weil sie ihre beim Lesen eingeübte Fähigkeit zur Strukturierung des Wahrgenommenen einsetzen. Das reicht vom besseren Verständnis der Nachrichten über die Nutzung von Magazinen zur Information bis zur kompetenteren Rezeption von Spielfilmen. Und das heißt damit auch: Eine Verdrängung des Buches und des Lesens ist – jedenfalls mittelfristig – durch diese Medien nicht zu erwarten. 

»Lesefertigkeit« – das ist jenseits des elementaren »Lesen-Könnens«, dem Vermögen, Wörtern Bedeutung zu entnehmen, vor allem die Fähigkeit, Sinnzusammenhänge eines Textes zu erschließen. Dazu bedarf es der Fähigkeit des Lesers, satzübergreifende Zusammenhänge zu erfassen oder vielmehr selbst herzustellen. Es bedarf der Fähigkeit, im Lesen das Wissen umzusetzen, dass ein Text ein Thema hat. Das sollten zwar ganz grundsätzlich schon Kinder im Alter von 6 oder 7 Jahren können. Aber es ist als entwickelte Fähigkeit selbst für Erwachsene nicht selbstverständlich, erst und nur, wenn Leser dies wirklich können, dann ist es ihnen möglich, die Absicht eines Textes zu erkennen und – gemessen am Thema des Textes – Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Das ist auch die Fähigkeit, Textsorten zu unterscheiden (behaupten, fragen, argumentieren, beschreiben, erzählen … ) und die jeweils angemessene Lesestrategie zu wählen. Derart »geübte« Leser gelten als »lesekompetent«. 


Zusammenhänge, Strukturen, Hierarchien, Strategien

Was beim Lesen eingeübt wird, was somit geübte, kompetente Leser können und ungeübte Leser nicht, das ist die Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen, das ist die Fähigkeit zur Strukturierung und Hierarchisierung von Problemfeldern. Und es ist die Fähigkeit, die eigene Wahrnehmung und die eigene Bearbeitungsstrategie dem jeweiligen Problem anzupassen. 

Das gilt für Lesen allgemein, es gilt für das literarische Lesen in besonderem Maße: Die Lektüre einer Erzählung beispielsweise, in der mehrere Handlungsstränge nebeneinander laufen, gelingt nur, wenn der Leser in der Lage ist, diese unterschiedlichen Erzählstränge auf eine Gesamterzählung zu beziehen und sie in eine Gesamthandlung zu integrieren. Und eine Erzählung, in der das im Zeitverlauf lineare Erzählen durch Vor- oder Rückblenden aufgebrochen wird, versteht man nur, wenn man weiß, dass eine Erzählung die Wiedergabe eines Geschehens in einem zeitlichen Ablauf ist, und in der Lage ist, Vor- und Rückblenden in diese Ablaufstruktur einzuordnen.– Entsprechend zeigten sich in Schüler-Tests kompetente Leser von Erzähltexten auch bei Sachtexten und bei Gebrauchstexten als kompetent. Dass Schüler bei Sach- oder Gebrauchstexten lesekompetent gewesen wären, ohne auch bei Erzähltexten kompetent zu sein, kam in den Schüler-Tests nicht vor. 

Wie erwirbt man diese Lesefertigkeiten, die dann verallgemeinert auch in ganz andere Bereiche übertragen werden können und so die Grundlage für Lernen überhaupt bilden? Sehr einfach: Lesen lernt man durch Lesen – und nicht etwa dadurch, dass man nur über das Lesen redet. Das bekannte Problem, dass viele Schüler deshalb nicht viel lesen, weil sie nicht gerne lesen, und dies deshalb, weil sie nicht gut lesen können, – und dass sie deshalb nicht gut lesen können, weil sie nicht viel lesen und so ihre Lesefertigkeit nicht üben, – dieser Teufelskreis lässt sich nur auf eine Weise durchbrechen: Durch Lesen, auch wenn es – zunächst – nur als schulische »Pflicht« erfolgt und – zunächst – keinen »Spaß« macht. Ein eindeutiges Ergebnis aus den PISA-Studien ist, dass die Lese-Kompetenz nicht korreliert mit dem Umfang des »Lesens zum Vergnügen«, sondern mit dem Umfang des Lesens überhaupt. (Dieser Befund konterkariert solche »Leseförderungsmaßnahmen«, die sich Erfolg davon versprechen, dass »Lesen Spass macht« oder sogar Spass machen muss (!), notfalls durch die Verbindung mit ex(!)trinsischen Motivationen wie lese-fremde »Prämien« für gelesene Bücher o. ä.)

Gesellschaftlich nicht unbedenklich ist, dass die empirische Leserforschung in Bezug auf die langfristige Entwicklung im Bereich der Lesersoziologie ein tendenzielles Auseinandergehen der Schere zwischen den »Viellesern« und den »Wenig- oder Nicht-Lesern« konstatieren musste, auf Kosten der »Mitte«.


Pragmatisches Lesen

Die Feststellung des »positiven Komplementärverhältnisses« führt zur Frage, wo denn die Stärken und Schwächen des einen und des anderen liegen. Wie ist das beim pragmatischen Lesen, zur Aus- und Weiterbildung, zur Information, gemeinhin zu verstehen als das Lesen von Sach- und Fachbüchern? Die Forschungen zum Lesevorgang, zum Verstehen, zum Lernen und zum Erinnern zeigen uns, dass es klare Unterschiede gibt, ob man Texte am Bildschirm liest oder »auf Papier«. Das Lesen am Bildschirm hat seine Vorteile, wenn es um kurze Texte geht, die man eventuell zudem in großen Textkorpora finden muss. Die erforderliche Kompetenz liegt hier mehr im Auffinden einer bestimmten Information als in der Aneignung und Durchdringung eines komplexen Sachverhalts. 

Das Papier ist das geeignetere Medium für das Lesen und Verstehen längerer und komplexerer Texte (»tiefes Lesen«). Dieser Unterschied verstärkt sich, wenn die Leser unter Zeitruck stehen. Mehr noch: Auf Papier Gelesenes bleibt offenbar leichter und länger im Gedächtnis und kann zudem leichter an das individuelle Vorwissen angeschlossen werden als das auf dem Bildschirm Gelesene. Die Gründe hierfür sind vermutlich die beim »tiefen Lesen« eingeübten Fertigkeiten der Konzentration, der Strukturierung größerer Textmengen, des Durchschauens von Zusammenhängen oder der Herstellung von Verbindungen im Text auch über größere »Entfernungen«. Ob und in welchem Umfang das »tiefe Lesen« auch am Bildschirm bzw. im Internet möglich ist, muss sich noch herausstellen – das dürfte nicht nur von der Entwicklung der technischen Gegebenheiten abhängen, sondern von der mentalen Plastizität jener Menschen, die als »digital natives« von Geburt an mit den »Neuen Medien« aufwachsen. 

Einstweilen gibt es hier allerdings nicht viel Anlass zum Optimismus. Lesegewohnte und lesekompetente »Tief-Leser« haben eine gute Selbsteinschätzung, ob sie das (auf Papier) Gelesene verstanden haben bzw. ob sie selbst überhaupt in der Lage sind, einen bestimmten Text adäquat zu verstehen. Dies ist beim Lesen digitaler Texte generell, und ganz besonders bei den »Nur-digital-Lesern« anders. Beim Lesen digitaler Texte überschätzen die Leser typischerweise sowohl ihr aktuelles Verstehen des Gelesenen als auch ihre individuelle Verstehensfähigkeit überhaupt. Das wiederum (ver-)führt zu geringerer Konzentration und weniger intensiven Verstehensbemühungen.

Eine bildungspolitische Konsequenz lässt sich daraus mit Sicherheit ziehen: Es wäre fatal, würde man im Schulbereich – und ich denke vor allem an die Primarstufe – die Digitalisierung in allzu naiver Weise betreiben. Denn die Gefahr besteht, dass übereifrig Druckwerke, Papier und Stift einfach nur durch digitale Medien ersetzt werden, ohne dass deren besondere Bedingungen didaktisch reflektiert werden. Und gar eine Vernachlässigung des »tiefen Lesen« komplexerer Texte – wie es nur auf Papier möglich ist – , wäre fatal. Die Folge wären nicht nur Defizite in der Entwicklung des Leseverständnisses und damit der Entwicklung kritischen Denkens. Das »flache« Lesen am Bildschirm würde sich dann auch auf das Lesen gedruckter Texte übertragen. 

Es könnte sein, dass eine Generation heranwächst, die zwar in der Lage ist, schnell und effektiv eine benötigte Information aus dem Netz oder einer großen Datenmenge zu beschaffen, aber einen Roman von Thomas Mann zu verstehen überhaupt nicht mehr in der Lage ist. Aber darf man das gegeneinander aufrechnen?


Literarisches Lesen

Komplexer ist das Problem beim literarischen Lesen. Hier steht tatsächlich das Lesen von Büchern in Konkurrenz zu den audiovisuellen Medien. Hier gibt es die These, dass die positiven Folgen des Lesens fiktionaler Texte ja doch auch möglich seien, wenn die Stoffe filmisch präsentiert oder überhaupt nur audiovisuell-filmisch existent sind. 

(Vom E-Book sehe ich hier ab, zumal es sich abzeichnet, dass es keine Alternative zum Buch ist, sondern eine situationsbezogene Ergänzung: Lesen unterwegs, Lesen im Urlaub etc. Die empirische Leserforschung zeigt: E-book-Nutzer sind keine »neuen« Leser, sondern haben vorher bereits regelmäßig Bücher gelesen; und sie lesen auch weiterhin Bücher. Für Hörbücher gilt Vergleichbares.) 

Was wir heute als eine der zentralen Funktionen des Lesens fiktionaler Texte ansehen, ist ihm erst in der Zeit der Aufklärung zugewachsen: Der Erwerb und die Einübung von Empathie. Hintergrund waren die sozialgeschichtlichen Bewegungen der Zeit: Die Lebenssituation des neuen Bürgertums begünstigte es, dass sich hier die neue, bis heute nachwirkende Differenzierung der Geschlechtercharaktere ausbildete. Für die Frauen bedeutete dies die Konzentration auf die Bedürfnisse der Familie; sie wurden zuständig für die »Beziehungsarbeit«. Die neue Qualifikation, die sie benötigten, war Empathie. Das Medium, um diese einzuüben, waren die neuen Romane. Sie stellen nicht mehr nur äußere Handlung dar, sondern brachten innere Zustände und Entwicklungen der Protagonisten zum Ausdruck. Sie ermöglichen es, sich in die fiktiven Personen hinein zu versetzen, so die Welt mit den Augen anderer zu sehen und sogar in die Gefühlswelt der Figuren einzutauchen. Die Leser und eben vor allem: die Leserinnen lernen, fremde Charaktere phantasiehaft anzunehmen und wieder abzulegen. Das aber ist eine, wenn nicht die zentrale soziale Interaktionskompetenz der Moderne. 

Was daran ist spezifisch für das Lesen (im Gegensatz zum Anschauen eines Films)? Die Leser tun den Romanfiguren gegenüber das Gleiche, was sie auch alltagsweltlich gegenüber anderen Personen tun, wenn sie empathisch ihnen gegenüber sind: Sie interpretieren äußere Merkmale und schließen von diesen auf innere Zustände. Das heißt: Das »Wissen« über die inneren Zustände einer anderen Person ist immer das Ergebnis einer Konstruktion, damit eine Fiktion, kann nur »erfunden« sein. Empathie und Fiktionalität (»erfundene Geschichten«) gehören eng zusammen. 

Die äußeren Merkmale sind in einem literarischen Lese-Text immer unvollständig; der Autor kann gar nicht alle Merkmale, alle Eigenschaften einer Figur z. B. mitteilen; literarische Texte sind immer geprägt von Unbestimmtheiten. Erst die Auflösung dieser Unbestimmtheiten schafft Illusion und ist damit Charakteristikum literarischen Lesens. Bei literarischen Texten wird die Phantasie der Leser und Leserinnen tätig, die Konstruktionsaktivität setzt ein. Bei einer filmischen Präsentation, bei der bis zur Haarfarbe der Figuren alles bestimmt, dem Zuschauer vorgegeben ist, ist eine solche Konstruktionsaktivität gar nicht mehr möglich. 

Das schließt empathisches Rezipieren bei filmischer Darbietung nicht völlig aus, aber die Leseforschung stellte fest, dass der »TV/Video-Typ« im Gegensatz zum »Buch-Typ« an empathischer Rezeption sehr viel weniger interessiert ist (was aber auch eine Frage des Entwicklungstands in der literarischen Sozialisation ist). Diese unterschiedliche Art und Qualität der Lese- bzw. Fernseherfahrung der beiden Typen lässt die Vermutung zu, dass nur der Buch-Typ die mit der entsprechenden Rezeptions-Erfahrung verbundene Kompetenz, die zugleich auch soziale Interaktionskompetenz ist, einübt. Dies hätte die gesellschaftlich brisante Konsequenz, dass – vergleichbar der »Wissenskluft« – eine Kluft entsteht oder vielmehr größer wird zwischen denen, die diese sozialen Interaktionskompetenzen einüben, und denen, die dies nicht tun.