Als sei sie eigens für die aktuelle Situation geschrieben, erweist sich »Die Pest« von Albert Camus (zuerst 1947) als zeitlos aktuell. In Frankreich obligatorische Schullektüre (Camus erhielt 1957 den Nobelpreis für Literatur), war es auch in Deutschland seit den »existentialistischen« 1960er und 70er Jahren immer präsent: Allein die Taschenbuch-Ausgabe bei Rowohlt zählt über 70 Auflagen; seit Anfang 2020 haben sich die monatlichen Verkaufszahlen mehr als verfünffacht.
Erzählt wird von der Pest in der Stadt Oran. Ein Erzähler berichtet von der Hauptfigur, dem Arzt Rieux; erst gegen Ende offenbart er, dass er selbst Rieux ist. Dem Leser ist das aber von Anfang an klar. Der Roman beginnt mit einer Reflexion über die Stadt; erst auf der dritten Seite steht der berühmte »erste Satz« der Erzählung: »Am Morgen des 16. April trat der Arzt Bernard Rieux aus seiner Wohnung und stolperte mitten auf dem Flur über eine tote Ratte.« Banal … und gerade deshalb so Unheil verkündend. Es bleibt nicht bei einer; Tausende kommen aus ihren Löchern und verenden auf der Straße. Bald sterben die ersten Menschen, bald hunderte, am Ende tausende. Schnell sind die Anzeichen sichtbar; Ärzte warnen und versuchen, die Behörden zu alarmieren. Vergeblich, die Behörden wollen die Sache nicht beim Namen nennen und lehnen alle Vorsichtsmaßnahmen ab. Bis es nicht mehr geht: »Pestzustand erklären, Stadt schließen.« So unzulänglich die Maßnahmen zunächst waren, nun sind sie radikal: Isolation der Kranken, Quarantäne für Angehörige, Ausgehverbote, die komplette Stadt wird radikal abgeriegelt, die Tore werden geschlossen.
Zuerst die Bedrohung leugnen, dann die Lage herunterspielen und behaupten, die Obrigkeit habe alles unter Kontrolle – und schließlich drastische Maßnahmen erlassen, auch wenn diese entweder längst nutzlos oder in ihrer Überzogenheit sinnlos sind. Kommt uns das vielleicht bekannt vor?
Bis heute strittig diskutiert wird, wie der Roman zu verstehen ist, allegorisch oder symbolisch. Einen Hinweis gibt Camusʼ Hinweis auf Daniel Defoes fiktives Tagebuch »A Journal of the Plague Year« (1722), d. h. die Pest in London 1665: »Es ist ebenso vernünftig, eine Art Gefangenschaft durch eine andere darzustellen, wie irgend etwas wirklich Vorhandenes durch etwas, das es nicht gibt.« Das signalisiert, dass die »Pest« für etwas anderes steht. So legitimiert, macht »Kindlers Literatur Lexikon« Vorschläge, die Allegorie 1 : 1 aufzulösen: »Camus schildert den Verlauf der Seuche – jener Allegorie unserer Zeit, […] die für die deutsche Occupation und die Welt der Konzentrationslager, die Atombombe und die Aussicht auf den dritten Weltkrieg«, aber auch für »das Zeitalter der Unmenschlichkeit, des Gottesstaates, der Maschinenherrschaft, der verantwortungslosen Bürokratie steht«. So gilt das Buch sogar als einer der bedeutendsten Romane der französischen Résistance.
Andererseits hat Jean Paul Sartre Camus vorgeworfen, der Roman sei zu wenig historisch konkret. Freilich wäre er als bloße bildliche Behandlung geschichtlicher Ereignisse inzwischen obsolet (so, wie das etwa bei den Romanen von Alexander Solschenizyn der Fall ist). Sartre hat aber sehr richtig gelesen: Es ist eben keine Allegorie, die man 1 : 1 auflösen könnte, obwohl natürlich diese Lesarten durchaus ihre Berechtigung haben.
Eine andere Lesart ist die einer Typologie menschlichen Verhaltens unter der Pest. Wenn die Autoritäten versagen, treten die verschiedenen Individuen hervor, positiv oder negativ, und oft ganz anders, als von ihrer sonstigen Existenz her zu erwarten. (»In der Not zeigt sich das Beste und das Schlechteste im Menschen.«)
Der Arzt Rieux, der aufgeklärte, atheistische Skeptiker bekämpft die Pest, obwohl er weiß, dass dies »absurd« ist. Rieux: »Bei alldem handelt es sich nicht um Heldentum. Es handelt sich um Anstand. Das ist eine Idee, über die man lachen kann, aber die einzige Art, gegen die Pest anzukämpfen, ist der Anstand.« Er ist l’homme révolté, der Mensch in der Revolte, der sich nach der Philosophie von Camus auflehnt gegen sein Schicksal – auch wenn er weiß, dass diese Auflehnung vergeblich ist. Camus: »Wir müssen uns Sisyphus als glücklichen Menschen vorstellen.«
Der Journalist Rambert, der wegen der Quarantäne nicht weg kann, akzeptiert es und schließt sich den Hilfstrupps an. Der Büroangestellte Gand, ein bedeutungsloser Kleinbürger, findet bei den Hilfstrupps eine sinnvolle Tätigkeit, zum ersten Mal in seinem Leben. Gottard, ein verurteilter Verbrecher – aber die Polizei hat Wichtigeres zu tun – lebt so frei wie nie; als die Pest vorbei ist, läuft er Amok und schießt aus seinem Haus heraus auf Menschen und Hunde, bis er selbst erschossen wird. Der Jesuitenpater Paneloux, ein religiöser Fanatiker, predigt, die Pest sei die Strafe Gottes für die Sünden. Erst der Tod eines kleinen Kindes »dreht ihn um«, verändert ihn aber nicht in seiner Persönlichkeit. Tarrou, »Heiliger ohne Gott«, der seine Familie verließ, als er erfuhr, dass sein Vater als Staatsanwalt Menschen in den Tod schickte, bedenkt sich und schließt sich den Hilfstrupps an: Er stirbt als letzter an der Pest, nachdem sie eigentlich vorbei ist.– Die Pest trifft sinnlos Böse wie Gute; Schuldige bleiben verschont, unschuldige Kinder und selbstlose Helfer sterben.
Es bleibt unklar, wodurch die Pest am Ende eigentlich besiegt wird: Die entwickelten medizinischen Mittel und Sera sind es jedenfalls nicht. Sie ist irgendwann einfach vorbei. Das Ende der Pest ist offensichtlich nicht das Ergebnis der Kämpfe der Menschen dagegen. Die Lesart, es werde irgendwann zum Erfolg führen, wenn man sich der »Pest« nur entschieden entgegenstellt, ist damit ausgeschlossen.
Die Chronik der Pest hat Rieux für spätere Generationen aufgezeichnet, um vor dem Vergessen zu bewahren, »dass der Pestbazillus niemals ausstirbt oder verschwindet … und dass vielleicht der Tag kommen wird, an dem die Pest zum Unglück und zur Belehrung der Menschen ihre Ratten wecken und erneut aussenden wird, damit sie in einer glücklichen Stadt sterben.«
»Die Pest« gibt es deutsch in mehreren Varianten. Die alte Übersetzung von Guido G. Meister (Rauch-Verlag 1949; rororo 1983 ff.) wurde 1998 ersetzt durch die von Uli Aumüller:
• Camus, Albert: Die Pest. Reinbek: rororo-tb, 1998. (Auch e-Book erhältlich.)
• Diese Übersetzung liegt auch einer Hörbuch-Ausgabe zugrunde (gekürzt!). Zusammen mit »Der Fremde« und »Der Fall« gelesen von Ulrich Matthes (auch als 3 Einzel-CDs).
• Hörspiel-Version mit Götz Schubert u. a. (Berlin, Audio-Verlag 2011, 2 CDs).
• Der Roman wurde 1992 unter der Regie von Luis Puenzo verfilmt (Darsteller sind u. a. William Hurt und Sandrine Bonnaire).• Zudem wurde der Stoff zum Drama umgearbeitet. Diese Dramen-Fassung der »Pest« ist nicht identisch mit Camusʼ Drama »Der Belagerungszustand«, von dem Camus sagte, es stelle »in keiner Weise eine Bühnenbearbeitung meines Romans dar«. Aber natürlich gibt es thematische Überschneidungen.
Sehr geehrter Herr Professor Schön,
vielen Dank für diese Rezension, die für mich Anlass war das Buch nach vielen Jahren wieder in die Hand zu nehmen; nach kurzem Blättern darin habe ich mich gleich festgelesen. Es ist spannend „Die Pest“ aus der heutigen Perspektive, mit den Erfahrungen aus der Corona-Pandemie, zu lesen und Parallelen zu entdecken.
Besonders beeindruckt hat mich die Haltung des Arztes Rieux, der auch in der verzeifelten und ausweglos scheinenden Lage auf dem Höhepunkt der Epidemie seine Arbeit unbeirrt weiterführt und dabei den Menschen freundlich zugewandt bleibt.
Danke für den Beitrag! Ich fand ihn unheimlich spannend zu lesen, vor allem in der aktuellen Situation. Ich habe mir schon öfters die Frage gestellt, wie zukünftige Pandemien (die kommen werden, soviel steht sicher) verlaufen werden. Können wir Corona als einen „Testlauf“ sehen, um zukünftig schneller und orientierter zu handeln, und somit vielleicht im Beginn schon das Schlimmste abwenden? Oder wiederholt sich Chaos immer und immer wieder? Soviel steht fest: Von „Der Pest“ hätten wir von der Vergangenheit lernen können. Hoffen wir, dass wir das zumindest zukünftig von Corona tun werden.