Die Bildungskatastrophe – Schritt für Schritt

1970 – lang, lang ist’s her – da erschien im Suhrkamp Verlag die Reihe »suhrkamp wissen«, nicht zu verwechseln mit der Reihe »Suhrkamp Wissenschaft«. Sie hält sich vom Naturwissenschaftlichen fern und blüht noch, während das klein gehaltene »wissen« mit seinen Planeten und Proteinen krachend gescheitert ist, was einen Blick lohnt. Als »suhrkamp wissen« angekündigt wurde, hieß es »Schon heute [1970] steht die Mehrheit der Menschen den Problemen der Naturwissenschaft … verständnislos, ratlos gegenüber. Man spricht von einer Bildungskatastrophe.« Sie ist nicht nur gekommen, sie hat schlimmer gewütet, als viele meinen. 

Eine Generation nach dem ausgeschlagenen Angebot »suhrkamp wissen« meinten die deutschen Forschungsorganisationen, endlich etwas tun zu müssen, um auf die Suhrkamp-Diagnose zu reagieren, und so startete man mit dem Beginn des Jahrtausends die Initiative »Public Understanding of Science«, die zwar den Versuch zu einer »Wissenschaft im Dialog« ins Leben gerufen hat, die aber beide vollständig misslungen sind. Wer das nicht glaubt, braucht nur die Ankündigung zu lesen, mit der das Herausgebergremium des »Kursbuch« im Jahre 2021 den Eintritt einer Physikerin begründet: »Wir stehen derzeit vor einer Reihe gesellschaftlicher Herausforderungen, die ganz entscheidend den Transfer wissenschaftlichen Wissens in die Öffentlichkeit verlangen«, wie das dafür ungeeignete und hilflose Soziologenteam schreibt. Und während dies zu lesen ist, lud die Friedrich-Ebert-Stiftung über ihre Abteilung für »Bildung und Wissenschaft“ für den Oktober 2021 zur Vorstellung einer Studie ein, in der es um die Frage geht, »Wissenschaft für das Allgemeinwohl, die Wirtschaft oder die Politik?« Wem das schon ziemlich ungebildet vorkommt, der findet den begleitenden Text noch komischer. Hier kann man lesen: »Wissenschaft hat Konjunktur«, und zwar deshalb, weil nur sie »einen Ausweg aus der Jahrhundertkrise der Corona-Pandemie« zeigen kann. »Ach!«, würde Loriot sagen, ohne zu ahnen, dass diesem lächerlichen Auftakt ein höchst erschreckender Satz folgt: »Gleichzeitig ist Wissenschaft für viele ein unbekanntes Terrain«, wie in der Einladung steht, und die meisten Menschen »wissen wenig darüber, wie sie funktioniert«. 

Wohlgemerkt – das schreiben Menschen, die für Bildung zuständig sind, ein halbes Jahrhundert, nachdem Suhrkamp der Öffentlichkeit attestiert hat, bei Themen der Wissenschaft verständnislos, ratlos und dann auch hilflos zu sein. Und es ist schlimmer geworden. Aus Kreisen, die sich für wissenschaftskritisch halten – auch wenn sie nur die Kunst praktizieren, es nicht gewesen zu sein –, hört man den Vorwurf, die Wissenschaft verstecke sich in einem Elfenbeinturm. Darauf kann man genüsslich mit Gustave Flaubert antworten: »Ich habe immer versucht, in einem Elfenbeinturm zu leben, aber ein Meer von Scheiße schlägt an seine Mauern, genug, um ihn zum Einsturz zu bringen.« Es wird den Deppen bald gelingen. Sie halten genug Scheiße in der Hand.