Die Welt wird, so hört und liest man dieser Tage, »nach Corona« nie wieder so sein wie zuvor. Ein Virus, hundertmal kleiner als ein Bakterium, nicht einmal ein Lebewesen, sondern ein »Halbling« ist dabei, unsere Zivilisation zu zerstören. (Deutschland scheint halbwegs davon zu kommen; aber man mag sich nicht vorstellen, wie es aussieht, falls das Virus sich in Afrika ausbreitet … ). Die Frage könnte sich stellen: Was ist der »Sinn« der Corona-Pandemie? Hat sie denn einen »Sinn«?
Längst ist klar, dass die Corona-Krise nicht nur ein medizinisches, also technisches, organisatorisches und wirtschaftliches, letztlich durch unsere Wissenschaft und Technik zusammen mit klugem politischem Handeln beherrschbares Problem ist. Vielmehr stellt es uns selbst in Frage, unsere Art zu denken und zu leben, unsere Mentalität. Die Folge für unser Denken gleicht den »großen narzisstischen Kränkungen« (Sigmund Freud), die nicht nur erschütterten, was den Menschen bis dahin als gewiss galt, sondern ihn auch »vom Thron stürzten«. Kopernikus: Die Erde ist nicht der Mittelpunkt der Welt; Darwin: Der Mensch ist auch nur ein etwas höher entwickeltes Tier; Freud: Wir sind nicht Herr im eigenen Haus. Corona: Wir sind, mit all unserer Wissenschaft und Technik, nicht einmal die Herren unseres eigenen Lebens.
Da liegt auch der Unterschied zu früheren Pandemien, von der Pest über Syphilis und Cholera bis zur Spanischen Grippe vor 100 Jahren. Damals war den Menschen klar, dass sie Ursachen und Zusammenhänge der Krankheit nicht verstanden, sie ihr ausgeliefert waren. Die Erklärungsversuche (Strafe Gottes für die Sünden, Beschuldigung von Minderheiten: teufelsbündische Hexen, brunnenvergiftende Juden) überzeugten die Einsichtigeren schon damals nicht. Verschwörungstheorien und Fake-News zu Corona (das Virus in böser Absicht entwickelt in China, in den Laboren von CIA/KGB/Mossad, um die Menschen den Reptiloiden auszuliefern oder, schlimmer noch, den Umsatz von Amazon zu erhöhen) stehen in dieser Tradition. Die Versuche, auf diese Weise die Kontrolle über das Geschehen zurück zu erhalten, scheitern.
Wir Heutigen dagegen, verwöhnt und verführt durch den technischen Fortschritt der letzten 100 Jahre, halten uns für die »Neuen Götter« (Yuval Harari), denen alles möglich ist, wenn wir es nur wollen. Demnächst fliegen wir zum Mars, und da soll ein Virus … ? Dieser Glaube, dass wir »alles« können und beherrschen, wird von Corona in die Schranken verwiesen. Die »Kränkung« ist deshalb nur umso größer.
Da ist es vielleicht nützlich, den »Blick über den Tellerrand« zu heben und zum Vergleich einmal eine andere Katastrophe zu betrachten, die in ähnlicher Weise alle Gewissheiten der Menschen erschütterte; nicht eine Epidemie, sondern das Erdbeben von Lissabon. Am 5. November 1755 (also an Allerheiligen!) ereignete sich ein Erdbeben, dessen Epizentrum etwa 400 Kilometer südwestlich von Lissabon im Atlantik lag. Es war in ganz Europa spürbar, nach heutigen Maßstäben hatte es die Stärke 8,5 bis 9. Danach kam es zu einem gewaltigen Tsunami, der mit voller Wucht auf Portugal traf. Etwa 90000 der 275000 Bewohner Lissabons kamen um; an der Mittelmeerküste, v. a. in Nordafrika, weitere 10000 Menschen. Etwa 85 Prozent aller Gebäude Lissabons wurden zerstört. Die erste Zeitungsnachricht in Deutschland:
«Am Tage Allerheiligen, des Morgens um 9 Uhr fühlte man durch ganz Portugal und hauptsächlich in der Stadt Lissabon ein solches erschreckliches Erdbeben, als jemals in irgend einem Weltteile gewesen ist. Diese Stadt, welche die reichste in ganz Europa war, welche alle Nationen mit Diamanten versahe, wo fast nichts als Gold im Schwange ging, ist gegenwärtig nichts als ein Steinhaufen, worunter mehr als 30 000 Menschen lebendig begraben wurden.« (Anonymer Zeitungsbericht aus dem Jahr 1755; zit. nach Günther, Horst: Das Erdbeben von Lissabon und die Erschütterung des aufgeklärten Europa. Frankfurt am Main: Fischer, 2005. S. 17.)
Für die Zeitgenossen war es ein »Welt-Ereignis«. Es löste heftige philosophisch-theologische Kontroversen aus. Goethe gab später in seiner autobiographischen Schrift »Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit« folgende Schilderung:
„Durch ein außerordentliches Weltereignis wurde jedoch die Gemütsruhe des Knaben zum erstenmal im Tiefsten erschüttert. Am ersten November 1755 ereignete sich das Erdbeben von Lissabon, und verbreitete über die [ … ] Welt einen ungeheuren Schrecken. Eine große prächtige Residenz, zugleich Handels- und Hafenstadt, wird ungewarnt von dem furchtbarsten Unglück betroffen. Die Erde bebt und schwankt, das Meer braust auf, die Schiffe schlagen zusammen, die Häuser stürzen ein, Kirchen und Türme darüber her, der königliche Palast zum Teil wird vom Meere verschlungen, die geborstene Erde scheint Flammen zu speien: denn überall meldet sich Rauch und Brand in den Ruinen. Sechzigtausend Menschen, einen Augenblick zuvor noch ruhig und behaglich, gehen mit einander zugrunde, und der glücklichste darunter ist der zu nennen, dem keine Empfindung, keine Besinnung über das Unglück mehr gestattet ist. [ … ] Die unglücklichen Übriggebliebenen sind dem Raube, dem Morde, allen Mißhandlungen bloßgestellt; und so behauptet von allen Seiten die Natur ihre schrankenlose Willkür.
[ …] . Hierauf ließen es die Gottesfürchtigen nicht an Betrachtungen, die Philosophen nicht an Trostgründen, an Strafpredigten die Geistlichkeit nicht fehlen. [ … ].
Der Knabe, der alles dieses wiederholt vernehmen mußte, war nicht wenig betroffen. Gott, der Schöpfer und Erhalter Himmels und der Erden, den ihm die Erklärung des ersten Glaubens-Artikels so weise und gnädig vorstellte, hatte sich, indem er die Gerechten mit den Ungerechten gleichem Verderben preisgab, keineswegs väterlich bewiesen. Vergebens suchte das junge Gemüt sich gegen diese Eindrücke herzustellen, welches überhaupt um so weniger möglich war, als die Weisen und Schriftgelehrten selbst sich über die Art, wie man ein solches Phänomen anzusehen habe, nicht vereinigen konnten.« (Goethe, Johann Wolfgang: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Erster Teil, 1. Buch. Goethes Werke („Hamburger Ausgabe«), Bd. 9. München: Beck, 1974 (u. ö.). S. 29 f.)
Die christliche Kirche bekam durch diese Katastrophe zunächst Oberwasser in ihrer Auseinandersetzung mit den Aufklärern: Das Erdbeben war die Strafe Gottes für die Sünden der Menschen! Und diese bestanden nicht zuletzt in der gottlosen Aufklärung! Aber dabei gab es ein Problem: Das Erdbeben hatte alle Kirchen der Stadt zerstört und zehntausende Gläubige getötet, die gerade die Allerheiligen-Messe besucht hatten. Das Rotlichtviertel Lissabons, die Alfama, blieb jedoch völlig verschont, so wie große Teile des Kneipen- und Vergnügungsviertels Bairro Alto. Also: In der Kirche Beten wird bestraft; Huren, Glücksspiel und Saufen ist Gott wohlgefällig – ?? Kleiner Schönheitsfehler für die kirchliche Argumentation! Irgendetwas konnte da nicht stimmen. Die Kirche musste sich also doch die Theodizee-Frage stellen lassen: Was soll das für ein Gott sein, der so etwas zulässt? Liegt es da nicht näher, anzunehmen, dass es keinen Gott gibt?
Aber auch die Aufklärer bekamen ein Problem. Rousseau hatte bei ihnen die Auffassung verbreitet: Die Natur ist gut, die Gesellschaft ist schlecht. Natur, Natürlichkeit war das Ideal. Und die verdorbene, entfremdete Gesellschaft kann nur verbessert werden, wenn sie sich wieder dem Ideal der Natur annähert – und so die Entfremdung wieder aufhebt. Durch das Erdbeben stellte sich für die Aufklärer die Frage: Ist die Natur, die so etwas macht, vielleicht doch nicht gut, sondern sogar böse ? Und zu der sollen wir zurück? Nochmals Goethe: »und so behauptet von allen Seiten die Natur ihre schrankenlose Willkür.«
Im Gegensatz zur Kirche fanden die Aufklärer – wenngleich nicht sofort! – allerdings eine Lösung für ihr Problem: Die (auch heute gültige) Sicht nämlich, dass Ereignisse der Natur nicht nach moralischen Kategorien zu beurteilen sind. Dazu musste allerdings auch erst wieder die kirchliche Sicht überwunden werden, dass Ereignisse der Natur intentional (d. h. als Handeln Gottes) auf den Menschen gerichtet seien (»Die Natur ist für den, um des Menschen willen da, ist auf ihn bezogen«).
Wir Heutigen wissen, dass Erdbeben Folge der Plattentektonik sind, damit ebenso wenig Ergebnis einer Absicht wie das »Treiben« eines Virus. Das ist ein grundsätzlicher Unterschied: Es geht nicht mehr darum, eine Intention, eine Absicht (hier: die Absicht Gottes) zu verstehen und daraus moralische Handlungsanweisungen abzuleiten, sondern wir sind überzeugt, dass die Ereignisse grundsätzlich und ausnahmslos erklärbar sind, wenn wir nur den genügenden Aufwand dazu treiben und überhaupt die Wissenschaft weit genug fortgeschritten ist – sofern wir denn nicht doch die alte kirchliche Erklärung bevorzugen, dass die Pandemie, pardon: das Erdbeben die Strafe Gottes für unsere Sünden sei. (Aber Vorsicht. Schließt denn das eine das andere wirklich aus?)
Zugegeben: Die alten Gewissheiten waren bequemer und »ergaben Sinn«. Wenn wir die nicht mehr akzeptieren können, dann müssen wir den Verlust der Gewissheiten aushalten, auch die »Kränkung« unserer technologischen Arroganz – und bescheidener werden!
Wer mehr lesen will:
• Günther, Horst: Das Erdbeben von Lissabon und die Erschütterung des aufgeklärten Europa. Frankfurt am Main: Fischer, 2005.
• Neiman, Susan: Das Böse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2004.
Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit!
Lieber Herr Wörz,
ganz selbstverständlich wünsche ich Ihnen, dass Sie nicht nur gesund bleiben, sondern auch frei bleiben und Ihre Autonomie bewahren! Freilich denke ich – wiewohl ich Sie ja nur von den wenigen Beiträgen hier kenne – dass gerade Sie diesbezüglich nicht in besonderer Gefahr sein dürften.
Ich verstehe Sie so, dass Sie mit Ihrer kurzen Anregung mich zu längeren Ausführungen in dieser Sache verführen wollen. Aber ich widerstehe. „Ach, Luise, laß … das ist ein z u weites Feld.“ Die Diskussion „Gesundheit gegen Grundgesetz“ ist momentan in allen Nachrichten und wird in allen Medien ausgebreitet. Ein sinnvoller Beitrag müsste zwangsläufig sehr ausführlich werden. Deshalb meine Position hierzu nur in einem Zitat (mit dem ich zudem im Rahmen unserer Aufklärungs-Diskussion bleiben kann):
„Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit.“
Ich grüße Sie herzlich
Erich Schön
(und verkneife mir gesund/frei-Wortspiele …)
Lieber Herr Wörz,
vielen herzlichen Dank für Ihre zum Weiterdenken anregende Antwort!
Wechselt also der Sitz der Vernunft vom Individuum zur Gesellschaft und in der Postmoderne zu ihren Partitionen? Geht der Weg von einer Vernunft zu vielen Vernünften? Rutscht sie vom Objektiven in die Funktionale des Subjektiven?
Für die aktuelle („postmoderne“) Situation (Luhmann, Welsch etc.) haben Sie sicher recht, ebenso für die aktuellen Tendenzen, die Sie darin sehen.
Anders sieht es aus für das 18. Jh. bzw. die Aufklärung.
Obwohl Mendelssohn (1729-1786) und Kant (1724-1804) biographisch gleichzeitig sind, und obwohl beider Aufsätze zur Frage „Was ist Aufklärung“ 1784 erschienen, sind diese ein Beispiel für die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen, denn zwischen ihnen liegt gewissermaßen eine Generationendifferenz: Mendelssohn ist, obwohl biologisch sogar jünger, der „Ältere“.
Mendelssohn, Schüler von Leibniz und Wolff, vertritt die (Früh- und) Hauptphase der (dt.) Aufklärung, Höhepunkt seines Denkens (= Publizierens) waren die 1750er Jahre. (Der den Germanisten via Lessing bekannte Briefwechsel mit Lessing und Nicolai über das Trauerspiel = 1756/57.) Die ganze frühe und mittlere Phase der Aufklärung (also seit Thomasius, Leibniz etc.) ist in diesem Holzschnitt-Sinne „gesellschaftlich“ (wobei die Zeitgenossen „gesellig“ sagen und damit z. T. etwas meinen, was wir mit „gemeinschaftlich“ bezeichnen würden).
Kants Schwerpunkt liegt 1760-1780/90. Die Entwicklung geht von Mendelssohn zu Kant (nicht umgekehrt). Jedenfalls in meiner Sicht geht damit der Weg nicht „vom denkenden Gehirn des Individuums auf den Diskurs der Gesellschaft“, sondern, jedenfalls in dieser historischen Epoche, im Gegenteil von der Gesellschaft weg hin zum Individuum.
Bereits im Aufsatz von 1784, also vor der Frz. Revolution, sagt Kant: „Durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem Despotism und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre Reform der Denkungsart zustande kommen;“ Das gewinnt Bedeutung nach der Frz. Revolution, v. a. nach dem Terreur 1793/94. In D ist es v. a. Schiller in seiner Kant-Rezeption, der das aufnimmt – für die Mentalitätsgeschichte („Denkungsart“) des 19. Jh.s eminent folgenreich. Sein Freund Humboldt setzt es schulpolitisch um. Das Bildungsideal (Humboldt: „Der wahre Zwek des Menschen – nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt – ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen.“) zielt auf die Aufhebung der Entfremdung („Entzweiung“) des Individuums, ist somit individualistisch. Es führt (in D) zum a-politischen Bildungsbürgertum bis zum 2. WK (incl. seiner kurzen Renaissance in den 1950er Jahren).
Und die Vernunft? – Das Vernunft-Konzept bei Kant/Schiller/Humboldt ist objektivistisch („die ewig unveränderliche V.“), bei Leibnitz/Wolff/Mendelssohn war es relativistisch (vernünftig ist, was die Wohlfahrt der Gesellschaft befördert). – Das ist/war doch sogar radikaler als Luhmanns departementalisierender Vernunftbegriff, als seine Vernünfte?
Mit den besten Empfehlungen aus dem 18. Jahrhundert
verbleibe ich Ihr
Erich Schön
Bleiben Sie gesund!
Erich Schön schrieb: „Bleiben Sie gesund!“
Lieber Herr Schön,
vielen Dank für den guten Wunsch. Wäre es für Sie denkbar, in diesen Zeiten auch einen anderen (höher stehenden?) Wunsch am Ende einer Korrespondenz auszusprechen, nämlich:
Bleiben Sie frei!
oder:
Bewahren Sie Ihre Autonomie …
Herzliche Grüße, Michael Wörz
Erich Schön schrieb: „Deshalb muss auch sein Vernunft-Begriff ein gesellschaftlicher sein, „nach Maßgebung […] ihres Einflusses in die Bestimmung des Menschen“. Vernunft ist das Ergebnis eines freien Diskurses mit Argumenten (Pate stand wohl Rousseaus volonté générale [Mendelssohn hat die deutschen Ausgaben von Rousseaus Discoursen rezensiert.]; sein erster Rezipient war Freund Lessing; sein später Erbe heißt Habermas.) Das ist ein intersubjektiver, zugleich politischer Vernunft-Begriff; sein Gegensatz ist das Dictum einer Autorität.“
Lieber Herr Schön, dear unknown others,
vielen Dank für Ihre Ausführungen zu Mendelssohn, den ich bislang nicht hinreichend beachtet habe. Er wäre ein weiteres Glied in der Kette, der Kants Konzept der Vernunft vom denkenden Gehirn des Individuums auf den Diskurs der Gesellschaft verlegt und über Hegel schließlich zu Habermas kommt. Hier halte ich es allerdings mehr mit Niklas Luhmann, weil das Konzept einer für alle gleichermaßen anerkannten Vernunft bei der Vielfalt der gesellschaftlichen Funktionssysteme keinen Bestand mehr haben kann. So ist ökonomische Vernunft eine andere als die politische oder wissenschaftliche Vernunft, was wir ja gerade an den politischen Corona-Entscheidungen sehen können.
Auch das kommt einer „Erschütterung aller Gewissheiten“ gleich, sofern es allgemeingültige Gewissheiten sein sollen. Was wir indes noch haben, sind die Gewissheiten, die nun innerhalb der einzelnen Systeme konstruiert werden: in den Systemen der Wirtschaft, dem Recht, der Politik, den Einzelwissenschaften, etc …
Herzliche Grüße, Michael Wörz
Lieber Herr Wörz,
vielen Dank für Ihren Kommentar, der die Sache präzise auf den Punkt bringt: Ja, Ihre Frage ist eine Konsequenz aus meinen Überlegungen. Ich sehe mich verstanden.
Also: Ist Corona ein letzter Anstoß, der das Projekt Aufklärung mit seiner Überzeugung, dass alles immer besser wird, und zwar durch das aufgeklärte („vernünftige“) Handeln der Menschen selbst, endgültig zu Fall bringt?
Eine Antwort bekommt man, wenn man der black box „Vernunft“ den Deckel abnimmt, wenn man differenziert, was als Vernunft gelten soll. Das Dumme ist ja, dass jeder sich bzw. seine eigene Position für vernünftig hält und Andersdenkende für unvernünftig. Immanuel Kant (1724-1804) versteht unter Vernunft etwas anderes als Mendelssohn. Moses Mendelssohn (1729-1786) sehe ich als Repräsentanten der Aufklärung in der Mitte des 18. Jahrhunderts, Kants Text sehe ich nicht als „Gründungsurkunde der Aufklärung“, sondern als ihren Abgesang (oder, wie eine Studentin sagte: „Kant läutet bereits die deutsche Klassik ein“). (Mendelssohns Aufsatz 1784 ist also zwar ebenso eine Antwort auf die Frage in der „Berlinischen Monatsschrift“:„Was ist Aufklärung“ wie der Aufsatz Kants, dennoch sind sie ungleichzeitig.)
Für Mendelssohn ist die Perspektive des Projekts Aufklärung die Gesellschaft, „indem alle praktische Vollkommenheiten bloß in Beziehung auf das gesellschaftliche Leben einen Wert haben.“ Deshalb muss auch sein Vernunft-Begriff ein gesellschaftlicher sein, „nach Maßgebung […] ihres Einflusses in die Bestimmung des Menschen“. Vernunft ist das Ergebnis eines freien Diskurses mit Argumenten (Pate stand wohl Rousseaus volonté générale [Mendelssohn hat die deutschen Ausgaben von Rousseaus Discoursen rezensiert.]; sein erster Rezipient war Freund Lessing; sein später Erbe heißt Habermas.) Das ist ein intersubjektiver, zugleich politischer Vernunft-Begriff; sein Gegensatz ist das Dictum einer Autorität.
Kants Perspektive ist das Individuum; er fordert dazu auf, sich seines „eigenen Verstandes zu bedienen“: Das ist ein subjektiver, zugleich aber objektivistischer Vernunftbegriff; wenn man so will die Absolutsetzung des je eigenen Verstandes. Das hat zwei (nur scheinbar gegensätzliche) Folgen.
(1) Schiller in seiner Kant-Rezeption und mit ihm sein Freund Humboldt buchstabieren es aus: Da das politische Projekt der Verbesserung der Gesellschaft gescheitert ist, ist die Konsequenz: zunächst Befreiung des Individuums (bei Schiller durch Kunst, bei Humboldt durch Bildung), dann erst der Gesellschaft. A-politischer Rückzug ins Private.
(2) Wenn der Einzelne „weiß“, was „vernünftig“ ist, dann hat er (vermeintlich!) das Recht, dieses durchzusetzen. „El sueño de la razon produce monstruos.“ („Der Schlaf/Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer.“) Die heißen Robespierre, Napoleon, Hitler, Stalin, Mao. (Schiller nannte in seinem „anthropologischen Dreischritt“ Robespierre als Repräsentanten der Vernunft „Barbar“.) Sie stehen historisch und von ihren Intentionen her zweifellos für Projekte der Modernisierung. Sie denken aber nicht Mendelssohn weiter, sondern Kant.
Der Grund für die Differenz ist bekannt: Dazwischen liegt die Erfahrung der Französischen Revolution, des Terreur. Der Optimismus der Mendelssohn-Aufklärung wurde durch die Französische Revolution desavouiert; die Vorstellung der im herrschaftsfreien Dialog „produzierten“ Vernunft erwies sich als Utopie. Die Menschen … sie sind nicht so! Insofern gilt, „dass dieses Narrativ von der Gestaltbarkeit der Welt seine Plausibilität immer stärker einbüßt und sich allmählich als Illusion erweist„ bereits für die Mendelssohn-Aufklärung. Der Rationalitäts-Optimismus der Kant-Aufklärung andererseits wurde spätestens mit Freud vom Thron gestoßen. Wir handeln eben nicht „rational“ (= wir sind nicht „Herr im eigenen Haus“).
(Ausgeklammert sei hier die Frage, ob das „Projekt Aufklärung“ identisch ist mit dem „Projekt Moderne“? Sie überschneiden sich wohl, sind aber nicht kongruent.)
Was bleibt? Ein „Weltereignis“ ist Corona schon, „Epoche machen“ wird das Virus wohl auch – wie nachhaltig auch immer. Dass wir eine epochale „Erschütterung“ des gesellschaftlichen wie des persönlichen Bewusstseins erleben, ist anzunehmen (was mich in meinem „Erdbeben“-Vergleich bestätigt). Dabei ist es zweitrangig, ob das Virus selbst der Auslöser ist oder die politisch-gesellschaftlichen Reaktionen darauf. „Tand, Tand ist das Gebild von Menschenhand“. Aber diese „Kränkung“ tangiert nicht das Konzept Aufklärung.
Die Aufklärung als historisches Projekt ist gescheitert, nicht erst heute und schon gar nicht durch Corona. Aufklärung ist nicht Status und auch nicht herrschendes Narrativ, sondern – immer nur! – leitende Idee, eine Utopie. (Das ist n. b. für mich ein positiver Begriff! Auch die Schiller/Humboldtsche „Idee“ ist ja eine solche.) Eine Aufklärung, die von sich behaupten würde, ihr Ziel erreicht zu haben, wäre keine mehr. Mendelssohn oder Kant? Das entscheide jeder für sich. Meine Sympathie sollte erkennbar geworden sein.
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Hinweis: Manche Aspekte habe ich auch, z. T. ausführlicher, angesprochen in meinem Vortrag am 27.3.2017 „Über den Zusammenhang von Aufklärung und Bildung. Und Volksherrschaft?“ im Rahmen der „hiesigen“ Vortragsreihe (Studium generale) „Wenn man die Wahl hat … Aufklärungen über Demokratie“. Er steht wie alle Vorträge dieser Reihe als Audio-Datei frei zur Verfügung unter: Über den Zusammenhang von Aufklärung und Bildung. Und Volksherrschaft?
Lieber Herr Schön, dear unknown others,
Ihren Essay habe ich mit Genuss und Gewinn gelesen. Ihrer kompakte Darstellung des philosophischen und theologischen Deutungskampfes anlässlich des Erdbebens von Lissabon stimme ich gerne zu. Lediglich bei Ihrer Folgerung, der „Kränkung der technologischen Arroganz“ müssten wir „bescheidener werden“ würde ich gerne eine Schippe drauflegen:
Ich stelle mir die Frage, ob diese Reihe der Kränkungen durch Kopernikus, Darwin, Freud, Luhmann und jetzt Corona mehr sind, als nur Dämpfer unseres Glaubens an die Gestaltbarkeit unseres Schicksals. Könnte es nicht auch sein, dass hier das Narrativ der Aufklärung auf dem Spiel steht – das Narrativ des „Projekts der Moderne“?
Die vom Geist der Aufklärung begeisterten Menschen begannen zu erzählen, dass die Menschen ihr Schicksal nicht mehr dem Glauben an einen guten Gott oder an eine gute Natur überlassen dürfen, sondern es nun selbst in die Hand nehmen müssen. Der Garant für dieses Projekt war die Inthronisierung einer neuen Quelle der Ordnung: die Vernunft . „Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ schrieb Kant in die Gründungsurkunde der Aufklärung. Wenn nur alle vernünftig werden, sich und andern vernünftige Ziele setzen und die Arbeit an der Gestaltung der Welt wiederum vernünftig organisieren, so wird dies auch gelingen.
Muss dieses optimistische Projekt der Moderne angesichts der historischen Erfahrungen nun „bescheidener“ angestrebt und nur modifiziert und verbessert werden? Oder ist mittlerweile soviel zusammengekommen, dass dieses Narrativ von der Gestaltbarkeit der Welt seine Plausibilität immer stärker einbüßt und sich allmählich als Illusion erweist? Wenn das der Fall wäre, und damit tatsächlich eine „Erschütterung aller Gewissheiten“ eintreten würde, stünden wir an der Schwelle zu einer neuen Epoche und könnten uns darauf mit der Suche nach Alternativen vorbereiten …
Herzliche Grüße, Michael Wörz