Eine Erschütterung aller Gewissheiten

Die Welt wird, so hört und liest man dieser Tage, »nach Corona« nie wieder so sein wie zuvor. Ein Virus, hundertmal kleiner als ein Bakterium, nicht einmal ein Lebewesen, sondern ein »Halbling« ist dabei, unsere Zivilisation zu zerstören. (Deutschland scheint halbwegs davon zu kommen; aber man mag sich nicht vorstellen, wie es aussieht, falls das Virus sich in Afrika ausbreitet … ). Die Frage könnte sich stellen: Was ist der »Sinn« der Corona-Pandemie? Hat sie denn einen »Sinn«?

Längst ist klar, dass die Corona-Krise nicht nur ein medizinisches, also technisches, organisatorisches und wirtschaftliches, letztlich durch unsere Wissenschaft und Technik zusammen mit klugem politischem Handeln beherrschbares Problem ist. Vielmehr stellt es uns selbst in Frage, unsere Art zu denken und zu leben, unsere Mentalität. Die Folge für unser Denken gleicht den »großen narzisstischen Kränkungen« (Sigmund Freud), die nicht nur erschütterten, was den Menschen bis dahin als gewiss galt, sondern ihn auch »vom Thron stürzten«. Kopernikus: Die Erde ist nicht der Mittelpunkt der Welt; Darwin: Der Mensch ist auch nur ein etwas höher entwickeltes Tier; Freud: Wir sind nicht Herr im eigenen Haus. Corona: Wir sind, mit all unserer Wissenschaft und Technik, nicht einmal die Herren unseres eigenen Lebens. 

Da liegt auch der Unterschied zu früheren Pandemien, von der Pest über Syphilis und Cholera bis zur Spanischen Grippe vor 100 Jahren. Damals war den Menschen klar, dass sie Ursachen und Zusammenhänge der Krankheit nicht verstanden, sie ihr ausgeliefert waren. Die Erklärungsversuche (Strafe Gottes für die Sünden, Beschuldigung von Minderheiten: teufelsbündische Hexen, brunnenvergiftende Juden) überzeugten die Einsichtigeren schon damals nicht. Verschwörungstheorien und Fake-News zu Corona (das Virus in böser Absicht entwickelt in China, in den Laboren von CIA/KGB/Mossad, um die Menschen den Reptiloiden auszuliefern oder, schlimmer noch, den Umsatz von Amazon zu erhöhen) stehen in dieser Tradition. Die Versuche, auf diese Weise die Kontrolle über das Geschehen zurück zu erhalten, scheitern.

Wir Heutigen dagegen, verwöhnt und verführt durch den technischen Fortschritt der letzten 100 Jahre, halten uns für die »Neuen Götter« (Yuval Harari), denen alles möglich ist, wenn wir es nur wollen. Demnächst fliegen wir zum Mars, und da soll ein Virus … ? Dieser Glaube, dass wir »alles« können und beherrschen, wird von Corona in die Schranken verwiesen. Die »Kränkung« ist deshalb nur umso größer.

Da ist es vielleicht nützlich, den »Blick über den Tellerrand« zu heben und zum Vergleich einmal eine andere Katastrophe zu betrachten, die in ähnlicher Weise alle Gewissheiten der Menschen erschütterte; nicht eine Epidemie, sondern das Erdbeben von Lissabon. Am 5. November 1755 (also an Allerheiligen!) ereignete sich ein Erdbeben, dessen Epizentrum etwa 400 Kilometer südwestlich von Lissabon im Atlantik lag. Es war in ganz Europa spürbar, nach heutigen Maßstäben hatte es die Stärke 8,5 bis 9. Danach kam es zu einem gewaltigen Tsunami, der mit voller Wucht auf Portugal traf. Etwa 90000 der 275000 Bewohner Lissabons kamen um; an der Mittelmeerküste, v. a. in Nordafrika, weitere 10000 Menschen. Etwa 85 Prozent aller Gebäude Lissabons wurden zerstört. Die erste Zeitungsnachricht in Deutschland: 

«Am Tage Allerheiligen, des Morgens um 9 Uhr fühlte man durch ganz Portugal und hauptsächlich in der Stadt Lissabon ein solches erschreckliches Erdbeben, als jemals in irgend einem Weltteile gewesen ist. Diese Stadt, welche die reichste in ganz Europa war, welche alle Nationen mit Diamanten versahe, wo fast nichts als Gold im Schwange ging, ist gegenwärtig nichts als ein Steinhaufen, worunter mehr als 30 000 Menschen lebendig begraben wurden.« (Anonymer Zeitungsbericht aus dem Jahr 1755; zit. nach Günther, Horst: Das Erdbeben von Lissabon und die Erschütterung des aufgeklärten Europa. Frankfurt am Main: Fischer, 2005. S. 17.)

Für die Zeitgenossen war es ein »Welt-Ereignis«. Es löste heftige philosophisch-theologische Kontroversen aus. Goethe gab später in seiner autobiographischen Schrift »Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit« folgende Schilderung:

„Durch ein außerordentliches Weltereignis wurde jedoch die Gemütsruhe des Knaben zum erstenmal im Tiefsten erschüttert. Am ersten November 1755 ereignete sich das Erdbeben von Lissabon, und verbreitete über die [ … ] Welt einen ungeheuren Schrecken. Eine große prächtige Residenz, zugleich Handels- und Hafenstadt, wird ungewarnt von dem furchtbarsten Unglück betroffen. Die Erde bebt und schwankt, das Meer braust auf, die Schiffe schlagen zusammen, die Häuser stürzen ein, Kirchen und Türme darüber her, der königliche Palast zum Teil wird vom Meere verschlungen, die geborstene Erde scheint Flammen zu speien: denn überall meldet sich Rauch und Brand in den Ruinen. Sechzigtausend Menschen, einen Augenblick zuvor noch ruhig und behaglich, gehen mit einander zugrunde, und der glücklichste darunter ist der zu nennen, dem keine Empfindung, keine Besinnung über das Unglück mehr gestattet ist. [ … ] Die unglücklichen Übriggebliebenen sind dem Raube, dem Morde, allen Mißhandlungen bloßgestellt; und so behauptet von allen Seiten die Natur ihre schrankenlose Willkür.
[ …] . Hierauf ließen es die Gottesfürchtigen nicht an Betrachtungen, die Philosophen nicht an Trostgründen, an Strafpredigten die Geistlichkeit nicht fehlen. [ … ].
Der Knabe, der alles dieses wiederholt vernehmen mußte, war nicht wenig betroffen. Gott, der Schöpfer und Erhalter Himmels und der Erden, den ihm die Erklärung des ersten Glaubens-Artikels so weise und gnädig vorstellte, hatte sich, indem er die Gerechten mit den Ungerechten gleichem Verderben preisgab, keineswegs väterlich bewiesen. Vergebens suchte das junge Gemüt sich gegen diese Eindrücke herzustellen, welches überhaupt um so weniger möglich war, als die Weisen und Schriftgelehrten selbst sich über die Art, wie man ein solches Phänomen anzusehen habe, nicht vereinigen konnten.« (Goethe, Johann Wolfgang: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Erster Teil, 1. Buch. Goethes Werke („Hamburger Ausgabe«), Bd. 9. München: Beck, 1974 (u. ö.). S. 29 f.)

Die christliche Kirche bekam durch diese Katastrophe zunächst Oberwasser in ihrer Auseinandersetzung mit den Aufklärern: Das Erdbeben war die Strafe Gottes für die Sünden der Menschen! Und diese bestanden nicht zuletzt in der gottlosen Aufklärung! Aber dabei gab es ein Problem: Das Erdbeben hatte alle Kirchen der Stadt zerstört und zehntausende Gläubige getötet, die gerade die Allerheiligen-Messe besucht hatten. Das Rotlichtviertel Lissabons, die Alfama, blieb jedoch völlig verschont, so wie große Teile des Kneipen- und Vergnügungsviertels Bairro Alto. Also: In der Kirche Beten wird bestraft; Huren, Glücksspiel und Saufen ist Gott wohlgefällig – ?? Kleiner Schönheitsfehler für die kirchliche Argumentation! Irgendetwas konnte da nicht stimmen. Die Kirche musste sich also doch die Theodizee-Frage stellen lassen: Was soll das für ein Gott sein, der so etwas zulässt? Liegt es da nicht näher, anzunehmen, dass es keinen Gott gibt? 

Aber auch die Aufklärer bekamen ein Problem. Rousseau hatte bei ihnen die Auffassung verbreitet: Die Natur ist gut, die Gesellschaft ist schlecht. Natur, Natürlichkeit war das Ideal. Und die verdorbene, entfremdete Gesellschaft kann nur verbessert werden, wenn sie sich wieder dem Ideal der Natur annähert – und so die Entfremdung wieder aufhebt. Durch das Erdbeben stellte sich für die Aufklärer die Frage: Ist die Natur, die so etwas macht, vielleicht doch nicht gut, sondern sogar böse ? Und zu der sollen wir zurück? Nochmals Goethe: »und so behauptet von allen Seiten die Natur ihre schrankenlose Willkür.« 

Im Gegensatz zur Kirche fanden die Aufklärer – wenngleich nicht sofort! – allerdings eine Lösung für ihr Problem: Die (auch heute gültige) Sicht nämlich, dass Ereignisse der Natur nicht nach moralischen Kategorien zu beurteilen sind. Dazu musste allerdings auch erst wieder die kirchliche Sicht überwunden werden, dass Ereignisse der Natur intentional (d. h. als Handeln Gottes) auf den Menschen gerichtet seien (»Die Natur ist für den, um des Menschen willen da, ist auf ihn bezogen«). 

Wir Heutigen wissen, dass Erdbeben Folge der Plattentektonik sind, damit ebenso wenig Ergebnis einer Absicht wie das »Treiben« eines Virus. Das ist ein grundsätzlicher Unterschied: Es geht nicht mehr darum, eine Intention, eine Absicht (hier: die Absicht Gottes) zu verstehen und daraus moralische Handlungsanweisungen abzuleiten, sondern wir sind überzeugt, dass die Ereignisse grundsätzlich und ausnahmslos erklärbar sind, wenn wir nur den genügenden Aufwand dazu treiben und überhaupt die Wissenschaft weit genug fortgeschritten ist – sofern wir denn nicht doch die alte kirchliche Erklärung bevorzugen, dass die Pandemie, pardon: das Erdbeben die Strafe Gottes für unsere Sünden sei. (Aber Vorsicht. Schließt denn das eine das andere wirklich aus?) 

Zugegeben: Die alten Gewissheiten waren bequemer und »ergaben Sinn«. Wenn wir die nicht mehr akzeptieren können, dann müssen wir den Verlust der Gewissheiten aushalten, auch die »Kränkung« unserer technologischen Arroganz – und bescheidener werden! 

Wer mehr lesen will: 
• Günther, Horst: Das Erdbeben von Lissabon und die Erschütterung des aufgeklärten Europa. Frankfurt am Main: Fischer, 2005.
• Neiman, Susan: Das Böse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2004.