HCS als HOPE

In der Ausgabe der Zeitschrift »Nature« vom 25. März 2021 (Band 591) findet sich ab S. 539 ein umfangreicher Aufsatz, der eine historische Analyse von gesellschaftlichen Reaktionen auf vergangene Formen des Klimawandels bietet und dafür die Begriffskombination »History of Climate and Society« vorschlägt, was man wörtlich als »Geschichte von Klima und Gesellschaft« übersetzen kann. Die männlichen und weiblichen Autoren des Übersichtsartikels (eines Reviews) kommen aus den USA, aus England, aus der Schweiz, aus Polen, aus China und aus Deutschland – und hier aus Jena, München, Leipzig und Freiburg – und betonen die Bedeutung lokaler Effekte und raumzeitlicher Heterogenität für die Geschichte, die sich bei dem notwendig interdisziplinären Vorhaben zeigen, an dem Archäologen ebenso teilhaben wie Geographen, Historiker, Paläoklimatologen und Vertreter weiterer Disziplinen der Wissenschaft und beiderlei Geschlechts. Der Beitrag möchte sich von den bisherigen Darstellungen der Klimageschichte abheben, indem er über die gewohnten Katastrophenszenarien (»Kollaps«) hinauszugehen und zu zeigen versucht, dass die menschlichen (gesellschaftlichen) Reaktionen auf einen spürbaren Klimawandel adaptiv sein konnten, um nicht nur das Überleben von betroffenen Populationen sicherzustellen, sondern manchmal auch ihr Aufblühen zu ermöglichen.

Den Klimawandel wissenschaftlich ins Auge gefasst hat offenbar erstmals der aus Jena stammende Geograph Eduard Brückner, der bereits 1890 frühe Einsichten zu »Klimaschwankungen seit 1700« beschrieben hat. Diese Arbeit wurde um 1915 von seinem amerikanischen Kollegen Ellsworth Huntington als Auslöser eines Paradigmenwechsels gefeiert, da Brückner nicht nur aus einer statisch gedachten Größe ein dynamisches Geschehen gemacht, sondern seinen Mitmenschen auch vorgeschlagen habe, über künftige Änderungen beim Klima nachzudenken und sich darauf einzustellen.

Der aktuelle HCS-Ansatz konzentriert sich auf zwei Perioden der Abkühlung, von denen die erste im sechsten Jahrhundert eingetreten ist – man spricht von der spätantiken kleinen Eiszeit (Late Antique Little Ice Age, LALIA) – und die zweite zwischen dem 13. und dem 19. Jahrhundert registriert wurde, wobei diese Klimaänderung als kleine Eiszeit – Little Ice Age (LIA) – bezeichnet wird. Eine genauere Betrachtung der beiden Kälteeinbrüche lässt erkennen, wie einzelne Populationen den Kampf mit den Klimaanomalien aufgenommen und das entwickelt haben, was man Resilienz nennt und womit eine adaptive Widerstandsfähigkeit gemeint ist. Der IPCC (International Panel on Climate Change) versteht unter Resilienz die Fähigkeit, mit Gefahrenlagen umzugehen und sich auf die zu erwartenden Änderungen einzulassen, um sowohl das Funktionieren der gewohnten sozialen Strukturen zu sichern als auch die sich bietenden natürlichen Möglichkeiten zu nutzen. 

Klimatische Änderungen konnten regional die Nutzung der Umwelt für ökonomische (und militärische) Zwecke beeinflussen, wie sich etwa zeigte, als im fünften Jahrhundert die Winterniederschläge im Mittelmeerraum zunahmen, was während der LALIA so geblieben ist. Die Gemeinden konnten den zusätzlichen Regen ausnutzen, weil das Steuersystem des oströmischen Reiches einen regen Handel von Gütern erleichterte. Die gesellschaftlichen Eliten – die Reichen – investierten zudem in die Konstruktion von Dämmen und Kanälen, um Bauern in (fernen) trockenen Regionen zu einem erfolgreichen Wassermanagement zu verhelfen (wie die Autoren und Historiker es ausdrücken) und ihr Verbleiben vor Ort zu erreichen.

Im 16. und 17. Jahrhundert entwickelten sich vergleichbare sozioökonomische und umweltrelevante Verhältnisse, als sich in den heutigen Niederlanden die holländischen Städte vom spanischen Empire trennen und die Gründung einer eigenen Republik in Angriff nehmen konnten. Während der LIA-Periode kam es zu kälteren Sommermonaten mit entsprechenden Ernteausfällen, was zum Beispiel finnische Bauern dazu brachte, nach Getreidesorten zu suchen, die bei Brandrodung bessere Erträge brachten, wobei die Landwirtschaft insgesamt von Gerste auf Roggen umsteigen sollte, um sich so den neuen Gegebenheiten anzupassen.

Es gibt auch Gemeinschaften, die dadurch reagierten, dass sie die Verteilungen lebensnotwendiger Güter neu durchführten und den Handel reorganisierten. Überhaupt reagierten die Menschen mit Mobilität, nicht nur beim Transport der zu verteilenden Waren, sondern auch durch eigene Migration, die als Fluchtbewegung vor allem dann zunahm, als staatlichen Autoritäten nicht geeignet auf den Klimawandel reagierten und Regionen hilflos sich selbst überließen. 

Modellrechnungen erlauben es zwar einigermaßen, die Entwicklungen der Erdtemperatur vorherzusagen, aber gesellschaftliche Folgen sind schwerer prognostizierbar. Die HCS-Bemühungen zielen bevorzugt in diese Richtung. Die vorgestellten Analysen und Betrachtungen zeigen, dass ein Untergang von Zivilisationen verhindert werden kann und Resilienz und Adaptation möglich sind. Man darf weder die Hände in den Schoß legen noch das Kind mit dem Bade ausschütten. Die HCS-Vertreter raten beim derzeitigen Stand des Wissens als Antwort auf den derzeitigen Klimawandel zu einer Kombination aus vernünftigem Bewahren und mutigem Verändern. Sowohl Kontinuität als auch Flexibilität sind gefragt, was dem Berichterstatter abschließend zwei persönliche Anmerkungen zu dem HCS-Ansatz erlaubt:

Zum einen ist daran zu erinnern, dass die Entwicklung des menschlichen (und irgendwann wissenschaftlich geleiteten) Denkens allgemein durch den Wechsel von einer starren Statik (einer göttlichen Schöpfung mit Perfektion) zu einer adaptiven Dynamik (einem evolutionären Werden mit Selektion) charakterisiert werden kann, der sich daneben sowohl bei den Genen finden lässt, die als stabile Erbanlagen konzipiert worden sind und inzwischen nur als dynamisches Geschehen mit immer neuen Kombinationen verstanden werden können, als auch im Kosmos zeigt, der längst als expansiv erkannt worden ist. Spätestens seit Brückners Arbeit ist also auch das Klima nichts Verlässliches mehr, es unterliegt vielmehr einem Wandel, zu dem inzwischen die Menschen selbst immer mehr beitragen. Und zum zweiten hat sich im Rahmen der Wissenschaft eine Idee als tragfähig erwiesen, die das Prinzip der Dynamik auf das Erkennen anwendet und besagt, dass es zu jeder Aktion eine Reaktion und jedem Stück ein Gegenstück gibt und ein objektiver Gegenstand (!) erst dann von einem subjektiven Gegenüber (!) verstanden worden ist, wenn in der Deutung zwei komplementäre Aspekte um Aufmerksamkeit kämpfen. Beispiele liefern das Welle-Teilchen-Duo beim Licht, das Wechselspiel von Realem und Idealem in der Philosophie und die Zusammengehörigkeit der beiden Farblehren, die mit den großen Namen von Newton und Goethe verbunden sind.

Einäugigkeit oder Einseitigkeit laufen ins Leere, und das Eigentliche steckt stets in der Spannung zwischen zwei Polen, die man plus und minus oder weiblich und männlich nennen kann und sowohl das Denken als auch das Leben in Gang halten und nicht an irgendeinem Endpunkt zum Halten kommen lassen. Das Bewahren und das Verändern, das Erreichte und das Erwünschte – es gilt beide zu berücksichtigen, wenn man für eine Welt tätig wird, in der sich auch für die Enkel zu leben lohnt, und diese Dualität kann man im Deutschen in einem Wort vereinen. Es heißt Bildung. Bildung meint sowohl einen Prozess – den des Formens und Gestaltens – als auch dessen Resultat – die gebildete Form und vorliegende Gestalt. Die Geschichte selbst ist das Ergebnis einer Bildung, nämlich der humanen Gestaltung der Wirklichkeit. Geschichte ist etwas Dynamisches, und der Klimawandel bringt einen Geschichtswandel mit sich. Er wäre schön, wenn die Tatsache dieser menschlichen Bildung auch zur Menschenbildung werden könnte, wie Lehranstalten sie vermitteln und was zu einer großen Verantwortung wird. Die HSC-Gelehrsamkeit kann ein erster Schritt auf diesem Weg in die Zukunft sein. Ihre Vertreter träumen von einer Konsilienz des Wissens, um die Resilienz der Gesellschaften zu erreichen. Der Anfang ist gemacht. Vielleicht kann man aus HCR eine Geschichte der Menschheit werden lassen, eine History of People – was man HOPE abkürzen könnte. Was haben wir sonst?