Kunst und die Frage nach der Wirklichkeit

Marcel Reich-Ranicki hat sich fürchterlich aufgeregt, als 1988 der Büchnerpreis an den österreichischen Schriftsteller Albert Drach verliehen wurde, der in seinen biographischen Hauptwerk »Semtimentale Reise« behauptete, er hätte das nationalsozialistische Lagersystem überstanden, weil er sich schlau verhalten habe. Reich-Ranicki folgerte daraus, dass das ja heiße, dass sechs Millionen Menschen das Lagersystem nicht überstanden haben, weil sie nicht schlau genug waren.

Unabhängig davon, ob Reich-Ranickis Kritik an Drach nun berechtigt ist oder nicht, spricht er ein Problem grundsätzlicher Art an. Können wir Wirklichkeit denn tatsächlich individuell umfingieren? Für Künstler ist das eine müßige Frage, schließlich ist das Umfingieren ihr Alltagsgeschäft. Aber stellen wir die Frage des künstlerischen Umgangs mit der Wirklichkeit erst einmal zurück. Gewiss können wir mit der Wirklichkeit klüger, quasi adaptiver umgehen als andere, aber können wir uns ihr tatsächlich einfach entziehen? 

Auch wenn die große Zeit konstruktivistischer Theorien vorbei ist, auch wenn alle Wirklichkeitsauffassung konstruktivistische Anteile hat, scheint Wirklichkeit doch etwas zu sein, was sich unserem Formwillen, unserer Einbildungskraft bzw. Phantasie nicht ohne Weiteres fügt, schließlich leiden wir ja auch an ihr – Autoren und Künstler üblicherweise etwas mehr als andere. Dennoch gibt es gegenwärtig noch einige größere Reservate konstruktivistischer Theorien, insbesondere in den Kulturwissenschaften – am Prominentesten vielleicht in den »Gender Studies«, deren Theorien nahezu ausnahmslos voraussetzen, dass das Geschlecht etwas Form- bzw. Umformbares, also Konstruiertes bzw. Konstruierbares ist, über das der Mensch letztlich jederzeit verfügen kann. Konstruktivistische Theorien leiden meist an logischen Defiziten und sind häufig Ausdruck metaphysischer Einstellungen, in dem Sinne, dass sie mit unausgewiesenen und oft unausweisbaren Behauptungen argumentieren. Aber ich werde mich hier mit philosophischen Einlassungen zurückhalten und damit zur Sache kommen:

Wir leben in Zeiten, in denen die Idee einer gemeinsamen Wirklichkeit zunehmend abhanden zu kommen scheint. Wirklichkeit scheint ein beliebiges Konstrukt zu sein. Jeder zimmert sich seine Wirklichkeit nach gusto zusammen. Die Weltsichten scheinen mehr und mehr auseinanderzudriften. Überall scheinen Monaden unterwegs zu sein, die weder über Fenster noch Türen verfügen. Weltsichten erscheinen zunehmend inkompatibel. Jeder sieht die Welt so, wie sie ihm gefällt, wie er sie macht, frei nach dem Diktum:  Wenn die Fakten mit der Theorie nicht übereinstimmen, umso schlimmer für »die Fakten«.

Was die einen als Beglückung beschreiben, sehen die anderen als Bedrohung. Einen Ausgleich, einen Kompromiss scheint noch nicht mal mehr in der Ferne zu liegen, zu unterschiedlich erscheinen die kulturellen Dispositionen, zu geschlossen die Weltbilder. Was nicht ins Weltbild passt, wird ausgeblendet und, was ihm widerstreitet, unter Sanktion gestellt bis hin zum Diskursausschluss. Dabei scheinen nicht nur unterschiedliche kulturelle Dispositionen in der Gesellschaft eine Rolle zu spielen, sondern innerhalb der gleichen kulturellen Disposition ein Beharren auf der uneingeschränkten Richtigkeit der eigenen Perspektive, die freilich durch primäre Bezugsgruppen bestätigt wird.

Das einzige, was wir mit einiger Gewissheit über den gegenwärtigen öffentlichen Diskurs sagen können, ist, dass an der Richtigkeit der eigenen Perspektive selten bis nie Zweifel geäußert werden. Man weiß, dass man auf der richtigen und die anderen auf der falschen Seite stehen, was sich zuweilen auch in Tarnbegriffen wie Haltungsjournalismus artikuliert. Ich befürchte übrigens, dass es längst auch eine Haltungswissenschaft gibt. Vielleicht wäre eine Zusammenführung unterschiedlicher Perspektiven zumindest gelegentlich ein Schritt zu einer Annäherung an das Unerreichbare, das wir Wirklichkeit nennen, aber schon die Rede von einer Zusammenführung kann von den unterschiedlichen Perspektivgruppen als Hochverrat gewertet und mit Diskursausschluss sanktioniert werden. Andererseits wissen wir auch, dass die Zusammenführung von Perspektiven zwar zu mehr Konsens führen kann, nicht aber notwendigerweise zu einer Annäherung an die Wahrheit. Konsens wird ja über alles Mögliche erzielt, ohne dass ihm irgendein Wahrheitswert zukommt.

In Kunst und Literatur waren die Perspektiven schon immer extrem unterschiedlich, Bert Brecht und Ernst Jünger waren Zeitgenossen, ebenso More und Hrlicka, Spielberg und Tarkovski, Klee und Defregger. Aber haben all diese Personen wirklich in der gleichen Zeit gelebt? Haben sie das gleiche gesehen, gehört, erfahren, gedacht? Vielleicht, wahrscheinlich aber nicht. Gerade in der Kunst kommt es darauf an, zu pointieren, also etwas in den Blick zu bringen, was bisher nicht gesehen oder ausgeblendet wurde. Ich will auch nicht an die seherische Kraft erinnern, die in der Kunst liegt und die Annahme nahelegt, dass Autoren nicht immer das zu sein scheinen, was man Zeitgenossen nennt.

So kann der Rezipient zwar extrem gegensätzliche Darstellungen der Wirklichkeit noch immer als etwas Zusammenführbares, miteinander Kompatibles empfinden, was der Künstler selbst nie als kompatibel akzeptieren würde. In den Philologien und in der Kulturkritik ist diese Zusammenführung ein beliebtes Verfahren, wenn es um die Fassung einer Epoche oder eines Zeitgeistes geht. Es kommt darüber hinaus in der Kunst auch nicht unbedingt darauf an, ob die Mehrheit einem Kunstausdruck zustimmt oder nicht. Kunst ist im modernen Verständnis nicht etwas Gefälliges, sondern etwas Erregendes und Neues. Es geht darum, etwas neu zu sehen, neu oder anders zu kontextualisieren. Kunst und Literatur sollen die Augen öffnen und haben insofern etwas mit Erkenntnis zu tun. Dass das Erkannte freilich auch in der präsentierten Form überzeugen muss und insofern immer auch im Feld der menschlichen Anerkennung verbleibt, steht dabei natürlich außer Frage. 

Die gemeinsame Wirklichkeit, in der unsere Weltsichten konfligieren, ist offensichtlich ein Problem, nicht nur in der journalistischen Darstellung, nicht nur in der Kunst, sondern auch in der Wissenschaft ist dies der Fall – wiewohl Wirklichkeit doch explizit die Annahme einer gemeinsamen Welt voraussetzt. In der Naturwissenschaft geschieht dies, indem eine Abstraktion von der jeweiligen subjektiven Perspektive vorgenommen wird. Wer einen physikalischen Versuch beobachtet, tut dies nicht als Individuum mit einer bestimmten Biographie, bestimmten Vorlieben und Ressentiments, sondern als ein Stellvertreter der Menschheit, und zwar streng genommen nicht nur der bestehenden, sondern auch der künftigen. Nur durch diese Entindividualisierung der Beobachterperson kann es zu einer Objektivierung der Wirklichkeitsaussagen kommen. 

Ich werde hier nun freilich nicht eine erkenntnistheoretische oder ontologische Bestimmung des Kunstwerks oder eine Analyse der künstlerischen Tätigkeit vornehmen, will aber versuchen dem Verhältnis von Kunst zur Wirklichkeit näher zu kommen und dabei auf zwei zentrale Charakteristika der Wirklichkeit eingehen, ohne die weder die künstlerische Tätigkeit, noch das Kunstwerk, noch die Kommunikation und Verständigung über sie denkbar sind. Es sollen also Voraussetzungen geklärt werden, ohne die jegliche Rede über Kunst und Literatur obsolet ist. 

Es ist zum einen der Widerstand gegen unseren Formwillen, den die Wirklichkeit auszeichnet. Auch die Kunst als projektive Tätigkeit kann sich diesem Widerstand nicht entziehen. Es ist genau dieser Widerstand, der Kunst inspiriert und die Kommunikation mit und über sie ermöglicht. 

Zum anderen ist es die grundsätzliche Vermitteltheit der Wirklichkeit. Wirklichkeit ist mehr als die uns jeweils gegebene Realität, was eigentlich nur die Sachhaltigkeit einer Gegebenheit benennt. Wirklichkeit ist ein historisch entstandener Verknüpfungs- und Selektionszusammenhang, dessen Zusammenbruch in der Regel Ausdruck einer psychischen Krankheit ist. Denken Sie dabei nur an literarische Figuren wie Don Quichotte oder an Kien aus Canettis »Die Blendung«. Wirklichkeit ist ein Vermittlungsprodukt, das nicht einfach auf seine aktuelle Gegebenheit reduziert werden kann. Sie ist immer auch historisch-kulturell vermittelt. Der Buschmann sieht im Regenwald nun einmal nicht dasselbe als der durchschnittliche Mitteleuropäer, wobei das, was wir sehen nicht richtiger oder falscher ist als das, was der jeweils andere sieht. Allerdings ist das, was der Buschmann sieht, gewiss wichtiger in Bezug auf das Überleben im Regenwald.

Klassisch wurde die Frage nach der Wirklichkeit von den alten Griechen in ihrem Mimesis-Konzept beantwortet, das Wirklichkeit an die Nachahmung einer vermeintlich objektiven äußerlichen Wirklichkeit bindet. In unterschiedlichen Varianten und unter unterschiedlichen Schlagworten wie Realismus, Naturalismus oder Sachlichkeit lebt es fort. Freilich kann die äußerliche Wirklichkeit, wie angemerkt, sehr unterschiedlich aufgefasst werden, schließlich nehmen wir sie doch in unterschiedlichen Perspektiven und unter unterschiedlichen kulturellen Dispositionen wahr. 

Gehen wir nun zunächst auf das grundlegende Charakteristikum der Widerständigkeit ein. Wilhelm Dilthey hat die Widerständigkeit gegen unseren Formwillen als zentrales Charakteristikum der Wirklichkeit bestimmt und damit eine längere Tradition des Wirklichkeitsdiskurses auf den Punkt gebracht, die bis in die Gegenwart nachwirkt. 

Wir können über bis ins Paranoide reichende konstruktive Fähigkeiten verfügen, die Wirklichkeit fügt sich offensichtlich nicht unseren Konstruktionen und Wünschen. Jeder Autor artikuliert sich, selbst wenn er projiziert und konstruiert, wenn er eskapistisch der Welt entflieht und Utopien beschwört, nicht völlig neben der Wirklichkeit, die wir offenbar doch irgendwie mit anderen zu teilen glauben, schließlich stören wir uns ja an der »falschen Sicht der Wirklichkeit« bei den jeweils anderen, die wir dann von der »richtigen« mit unterschiedlichem Erfolg zu überzeugen versuchen. 

Natürlich gibt es »die« Wirklichkeit nicht in dem Sinne, als wir uns niemals von unserem Standort, von unserer Geschichte und kulturellen Disposition bzw. kulturellen Brille lösen können. Wir haben immer nur perspektivischen Zugang zu ihr. 

Befreit uns das aber von der Suche nach einem gemeinsamen Bezugspunkt unserer Kommunikation? Die Aufgabe der Annahme einer gemeinsamen Wirklichkeit würde streng genommen auch jede Mitteilung infrage stellen. Autoren schreiben für eine Öffentlichkeit – sei sie auch noch so klein -, weil sie glauben, dass es etwas Gemeinsames gibt, das ihre Mitteilung verständlich macht; ja Autoren sind selbst ein Vermittlungsprodukt dessen, was wir Wirklichkeit nennen, denn sie sind wie jeder andere Ergebnis einer historischen Genese, wenngleich – so unsere Hoffnung – ein Vermittlungsprodukt, dessen selbstbestimmte Anteile an dieser Vermittlung besonders hoch sind. 

Vier Thesen

Folgende vier Thesen sollen als Leitfaden dienen:
1) Wirklichkeit ist, was unserem Formwillen Widerstand bietet und in jeder fiktionalen Umgestaltung als gemeinsamer Bezugspunkt erhalten bleibt. Nur weil es diesen Bezugspunkt gibt, können wir über sie reden.
2) Alle Kunst – auch die abstrakte oder phantastische – ist ein Reflex auf die konkrete Wirklichkeit, in der der Künstler oder Autor lebt.
3) Die Fixierung einer gemeinsamen Wirklichkeit ist die Bedingung aller Verständigung, auch der Verständigung über Kunst und Literatur.
4) Kunst und Literatur fingieren Wirklichkeit um, bleiben aber selbst in ihren extremsten Abweichungen und Variationen auf sie bezogen. 

Zu 1) Wirklichkeit ist, was unserem Formwillen Widerstand bietet und in jeder fiktionalen Umgestaltung als gemeinsamer Bezugspunkt erhalten bleibt. Nur weil es diesen Bezugspunkt gibt, können wir über sie reden.

Was Wirklichkeit auszeichnet ist also ihre Widerständigkeit gegenüber unserem Formwillen. Dies ist nicht nur der materielle Widerstand, sondern das sind durchaus auch der ideale oder der gesellschaftliche Widerstände. Ich kann nicht ohne weiteres aus dem Finanzamt austreten, ich kann auch nicht eine sinnvolle Theorie entwickeln und permanent gegen die eigenen Voraussetzungen bzw. die vorgegebene Axiomatik verstoßen. Wirklichkeit ist letztlich das, was sich einer totalen Umfingierung entzieht. Sie ist, was nicht einfach konstruiert werden kann, sondern uns in unserem tätigen Bemühen Widerstand bietet. Sie ist das, an was wir uns stoßen, wohlgemerkt sowohl im Sinne eines materiellen als auch im Sinne eines ideellen oder sozialen Widerstandes. Jeder Ingenieur weiß, dass er die Naturelemente nur beherrschen kann, wenn er sich ihren Gesetzen beugt und Umwege zu gehen bereit ist. Das Gleiche gilt für den Künstler. Nicht grundlos hatten die Griechen für Kunst und Technik nur einen Begriff. Auch wenn wir Wirklichkeit unterschiedlich in den Blick nehmen, auch wenn unser Blick immer schon kulturell disponiert ist, so gibt es etwas, was unserem Form- oder Veränderungswillen im Wege steht. Wir können eine Wand grau oder rot streichen, wir können ihr reliefartige Strukturen verpassen, sie hinter Schrankwänden verbergen, wir können aber – Tapetenwände ausgenommen – nicht ohne weiteres durch sie hindurchgehen.

Die Wand kommt also in unterschiedlichen Perspektiven in einem Punkt überein. Sie ist etwas, das unserem Formwillen entgegensteht. So unterschiedlich die Gegebenheiten auch sein mögen, wir kommen darin überein, dass Wirklichkeit uns Widerstand bietet, wenn sie den Anspruch erhebt Wirklichkeit zu sein. Wirklichkeit zu sein, kann nur beanspruchen, was alle teilen. Sie ist das, worauf wir uns als etwas allgemein Geteiltes beziehen können und was wir voraussetzen, wenn wir uns mit anderen austauschen. Nur aufgrund eines gemeinsamen Wirklichkeitsbezugs, der sich in der Widerständigkeit der Sache artikuliert, sind wir imstande, zu einem Austausch über sie zu gelangen. Aber auch jenseits kommunikativer Verhältnisse ist es die Widerständigkeit der Wirklichkeit, die uns antreibt. Ihre Bändigung hat etwas mit der Beseitigung ihrer Widerständigkeit zu tun, gleichzeitig besteht die Gefahr, dass mit einer zunehmenden Bändigung auch ein Wirklichkeitsverlust einhergeht. Lange war die perfekt sitzende Brille die Metapher für eine gut eingeführte, nicht mehr aufsässige Technik. Im Zeitalter smarter Technologien ist diese Metapher obsolet geworden. Was sich nicht bemerkbar macht, kann weder kontrolliert noch gesteuert werden. Wirklichkeitsverlust geht einher mit der Erfahrung eines Widerständigkeitsverlusts. Mediale Pathologien wie Computerspielsucht sind Ausdruck dieses Widerständigkeitsverlusts. Dennoch lassen sich Widerstände nie völlig ausschalten. Selbst in simulierten Welten gibt es die Erfahrung von Widerständigkeit. Ihre völlige Suspendierung wäre nur zum Preis der Löschung der Welt zu erlangen.

Zu 2) Alle Kunst – auch abstrakte oder phantastische Kunst – ist ein Reflex auf konkrete Wirklichkeit, in der der Künstler oder Autor lebt.

Es klingt zunächst irritierend, dass alle Kunst letztlich ein Reflex auf die konkrete Wirklichkeit ist, in der der Künstler und Autor lebt. In dem animierten, viel beworbenen, wenngleich eher mäßigen van Gogh-Film »Loving Vincent« (2017) von Dorota Kobiela und Hugh Welchman wurde versucht, anhand van Goghs Bilder zu zeigen, wie der Künstler die Welt sah. Die animierten Welten, die gezeigt wurden, waren quasi Variationen seiner Bilder, die immer einen Initiierungspunkt oder einen Endpunkt für ein Szenarium bzw. eine Lebensgeschichte des Künstlers setzten. Auch wenn van Goghs Weltsicht nicht die unsere ist, so verstehen wir doch, auf was sich der Künstler in seinen Bildern bezog. Wir scheinen also etwas mit ihm zu teilen, auch wenn wir nicht seine Sicht teilen.

Dies gilt selbst für surreale Kunst. Auch bei Dali oder Ende glauben wir zumindest einiges zu verstehen, was uns im Bild meist in der Form von Symbolen präsentiert wird. Tatsächlich tauschen wir uns über diese Bilder aus und gelangen im Austausch auch zu Einsichten. Dies heißt nicht, dass wir alles verstehen, auch nicht, dass wir alle uns über einen Kunstausdruck verständigen können. Es heißt nur, dass wir, wenn wir ein Verständnis erlangt haben, es auf eine gemeinsame Wirklichkeit von Künstler, mir und anderen Rezipienten beziehen. 

Und selbst bei abstrakter Kunst, die scheinbar allen mimetischen Aspekten abgeschworen hat, gibt es noch einen Bezug zu einer geteilten Wirklichkeit, die dann aber eher innerkünstlerische Bezirke betrifft, etwa die Ausstellungspraxis, unsere Sehpraxis usw. Alle Kunst hat ja auch reaktive Aspekte. Formalismus reagiert auf Naturalismus, Expressionismus auf Impressionismus, konkrete Poesie auf metaphernlastige Lyrik. Die Bezugnahme auf Wirklichkeit ist also nicht immer eine unmittelbare, sondern oft eine mittelbare. Aber verständigen können wir uns nur über Dinge, die wir gemeinsam haben. Und dies ist die Erfahrung der Widerständigkeit der Dinge, was auch im Begriff des Gegenstandes zum Ausdruck kommt.

Jeder Künstler lebt in einer teilbaren Welt. Jedes Kunstwerk ist ein Ausdruck seiner Zeit, der die Zeit überdauern kann. Ein Kunstwerk verstehen, heißt immer auch Widerständigkeit zu verstehen, mit der der Künstler zu kämpfen hatte. Wir verstehen die dadaistische Inhaltsverweigerung eines Hugo Ball nur, wenn wir verstehen, wie die Kunst seiner Zeit für andere Zwecke instrumentalisiert wurde. Wir verstehen einen Kunstausdruck unserer Zeit nur, wenn wir etwas von der Widerständigkeit der geteilten Wirklichkeit verstehen. Das Verstehen als Ergebnis der hermeneutischen Horizontverschmelzung, also der Verschmelzung der eigenen Zeit mit der Zeit, in der das Kunstwerk entstanden ist, ist immer auch die Erfahrung von Widerständigkeit, mit der der Künstler und auch wir zu kämpfen haben.

Alle Kunst ist also ein Reflex auf eine teilbare Wirklichkeit, ihre Widerständigkeiten und auf die Weise, wie mit diesen umgegangen wurde und wird. Es drückt sich also in jeder Aneignung auch ein Spannungsverhältnis aus, das in einer teilbaren Wirklichkeit ihren Orientierungspunkt oder archimedischen Punkt hat. 

Zu 3) Die Fixierung einer gemeinsamen Wirklichkeit ist die Bedingung aller Verständigung, auch der Verständigung über Kunst und Literatur

Diese These ist einerseits die Pointierung eines Aspektes der Wirklichkeit und zugleich die Erweiterung des Wirklichkeitsverständnisses. Wirklichkeit ist nämlich nicht nur durch ihre Widerständigkeit gegen unseren Formwillen allein gekennzeichnet, sondern auch durch ihren Vermittlungscharakter. Und dies in zweierlei Hinsicht. Zunächst sind alle vom Menschen hervorgebrachten Gegenstände und Techniken, nicht zuletzt auch die Kunstwerke, Vermittlungsprodukte. Wir sehen die Dinge nicht wie sie an sich sind, sondern durch die Brille unserer kulturellen Dispositionen, also perspektivisch. Dies ist auch der Grund, warum selbst bei einfachen Gebrauchsgegenständen eine einheitliche Definition schwierig ist. 

Ich erinnere mich daran, dass es bei der Entwicklung eines Kontexte verstehenden informatischen Systems einmal zu Irritationen kam, als man einen Tisch in einer informatischen Ontologie klassifizieren wollte. Man glaubte, dass Entitäten wie Tische sehr einfach, eindeutig und objektiv zu klassifizieren seien, bis ein Kollege einwandte, dass mit dieser Klassifikation wohl kein Beduine etwas anfangen könne. Der würde sich gewiss am Tisch kein Brötchen schmieren, den Tisch aber vielleicht als Sonnenschutz verwenden, wenn er irgendetwas tagsüber im Freien zu tun hätte.

So wie die vom Menschen hervorgebrachten Gegenstände Vermittlungsprodukte sind, so sind es auch die vom Menschen erfassten und erkannten Dinge und Sachverhalte. So ist unser Naturverständnis Ergebnis einer langen Geschichte der Entpersonalisierung, Entseelung und Säkularisierung der Natur. Das Naturverständnis von Naturvölkern ist natürlich ein anderes, magisch aufgeladen und beseelt.

Nicht zuletzt ist der hervorbringende und erkennende Mensch selbst ein Vermittlungsprodukt seiner Geschichte und Kultur im Allgemeinen, aber auch seiner individuellen Geschichte. Er ist Ergebnis kulturell-historischer und sozialer Vermittlungsprozesse, wenngleich er nie in diesen Prozessen völlig aufgeht, weil er sich als Individuum letztlich einem wissenschaftlichen Zugriff entzieht. »De singularibus non est scientia« (Über einzelnes gibt es keine Wissenschaft) stellten schon die scholastischen Denker fest. 

Auch ein Science-Fiction-Roman ist Ergebnis einer Variation, Überhöhung oder Umfingierung einer geteilten Wirklichkeit. Niemals werden alle physikalischen Gesetze aufgehoben, niemals alle sozialen Fügungen. Es bleibt immer ein Basisbestand geteilter Wirklichkeits- und Widerständigkeitserfahrung, ohne die es keine Kommunikation und keine Interaktion gibt. Diese Verständigungsbasis ist aber die Wirklichkeitserfahrung der Gegenwart. Auch wenn wir uns über Vergangenes bzw. Unabänderliches unterhalten, tun wir das aus der jetzigen Perspektive. Alles Verstehen ist auch eine Weise der Selbstverständigung. Die hermeneutische Horizontverschmelzung findet in der Gegenwart statt. Dies gilt auch für den Fall einer Verständigung über Künftiges, etwa wenn es um Fragen der Technikfolgenabschätzung geht. Auch über Zukünftiges reden wir heute. Das heißt, wir können nie ganz von unseren heutigen Wirklichkeits- bzw. Widerständigkeitserfahrungen absehen.

Wenn wir uns nun über Kunst und Literatur verständigen wollen – gleich ob wir das als Fachleute oder Laien tun – so tun wir das aufgrund der Annahme, dass es sich bei allem, was wir Wirklichkeit nennen, um etwas Geteiltes und Mitteilbares handelt. Dass es immer auch etwas gibt, das in der jeweiligen Verständigungssituation nicht vollständig mitteilbar ist, schränkt die Voraussetzung einer prinzipiellen Mitteilbarkeit nicht ein. Dass es keine vollständige Verständigung gibt, ist kein Argument gegen die Möglichkeit der Verständigung überhaupt. Wie in vielen Dingen des Alltags genügt auch eine relative Verständigung um bestimmte Ziele oder Konsens herzustellen.  

Zu 4) Kunst und Literatur fingieren Wirklichkeit um, bleiben aber selbst in ihren extremsten Abweichungen und Variationen auf sie bezogen.

Alles Fiktionale ist Ergebnis einer projektiven Tätigkeit. Selbst das unserer Wirklichkeitserfahrung denkbar fern liegende bleibt auf die gemeinsame Erfahrung bezogen. Ohne diesen Bezug gäbe es auch keine Möglichkeit der Verständigung zwischen Künstler und Rezipient. Auch realistische Formen des Umfingierens der Wirklichkeit sind Weisen der Verdichtung. Immer ist künstlerisches Schaffen ein Prozess, der das reine Abbilden transzendiert. Reines Abbilden gibt es in einem strengen Sinne nicht. Jeder Abbildungsprozess, auch der nur technisch initiierte ist ein perspektivisches Abbilden. Im Falle des künstlerischen Abbildes ist die Perspektive in der Regel eine vor dem Hintergrund von Zeitrelevanzen gewählte. Dies bedeutet keineswegs, dass der Künstler in allem, was er tut, bewusst agiert. Auch der originellste oder reflektierteste Künstler ist Ausdruck seiner Zeit. Auch das Individuelle ist sozial und kulturell disponiert; es ist allerdings zugleich auch ein Differenzausdruck zum nur Allgemeinen.

Kunst bleibt aber letztlich auf etwas bezogen, das unserem Formwillen Widerstand bietet und nur als Vermitteltes in den Blick kommen kann. Vermittelt sind nicht nur die menschlichen Artefakte und Kulturleistungen, sondern auch die Natur, selbst wenn sie nicht menschliche Hervorbringung ist. Auch sie kommt perspektivisch in den Blick. Wir vergessen zuweilen, dass romantische Naturdarstellungen – wie wir sie von Caspar David Friedrich her kennen – eine Art Neuentdeckung der Natur war. Man kannte zwar in nahezu allen Epochen den »locus amoenus«, die liebliche Gartenlandschaft, dennoch war Natur eher etwas, was lebensbedrohlich war. Bekanntlich waren es oft gelangweilte britische Adlige, die erstmals alpine Gipfel erstiegen. Den Einheimischen, die täglich den Fährnissen der Natur ausgesetzt waren, wäre es nicht in den  Sinn gekommen, solche Gipfel zu ersteigen. Auch die Natur als Ressource wurde erst im 19. Jahrhundert mit der Industrialisierung Thema, und die Idee der Bedrohung der Natur durch rücksichtslose Ausbeutung ist vor den 1960er Jahren eher selten Thema. Dass wir nur einen perspektivischen Zugriff auf die Natur haben, heißt also nicht nur, dass wir aufgrund unserer körperlichen und sinnlichen Dispositionen unterschiedliche Zugänge zu ihr haben, sondern auch aufgrund kultureller Dispositionen: Der Zugang des Eskimos zur Natur ist ein anderer als der eines Mitteleuropäers.

Auch der Austausch zwischen Künstler und Rezipient kann nur dann gelingen, wenn es Gemeinsames gibt. Wir können gewiss aneinander vorbei reden, und gerade in der Kunst, die ja nicht dem Mehrheitsprinzip untersteht, gehört das quasi zum Programm. In allen Epochen gab es Autoren, die keine allgemeine Anerkennung fanden und eher durch Zufall in einer anderen Zeit entdeckt wurden. Literatur ist sozusagen wesenhaft ungleichzeitig. Sie ist ihrer Zeit seherisch voraus oder unüberwindlich an das Vergangene gebunden. Thomas Mann nennt den Autor einen raunenden Beschwörer des Präteritums. Diese Ungleichzeitigkeit belegt, dass Literatur zwar ihre Disposition in der Gegenwart hat, aber zugleich über das nur Gegenwärtige hinausragt. Es ist das Utopische einerseits und die Beschwörung und Analyse des Vergangenen andererseits, das Kunst auszeichnet. Dennoch ist implizit immer Gemeinsames vorausgesetzt, wenn der Kunstausdruck verstanden wird bzw. werden soll. 

Wenn wir SF-Filme oder surrealistische Bilder sehen, stellen wir fest, dass nicht alle physikalischen Gesetze aufgehoben sind. Dalis Uhren mögen sich verflüssigen, aber sie scheinen noch immer der Schwerkraft zu unterliegen, weshalb sie an Ästen hängen. Wo alles Gemeinsame abgezogen ist, da gibt es auch keine verstehende Berührung. 

Wilhelm Diltheys Erfahrungsbegriff ist nicht zuletzt an die Erlebbarkeit geknüpft, also an ein Erfahrungskonzept, das fundamentaler ist als naturwissenschaftliche Empiriekonzepte, die Empirie gerade von der subjektiven Erlebbarkeit durch Abstraktionsverfahren reinigen wollen, um so die Objektivität empirischer Aussagen zu erlangen. Diese Erlebbarkeit ist aber die Basis der Kommunikation über Kunst und die Basis, um extrem Abweichendes oder Variiertes zu verstehen. Wenn H. P. Lovecraft in seinen Erzählungen auf das Bedrohliche stößt, so beschreibt er es in der Weise einer negativen Theologie. Er sagt nicht, was er da sieht oder hört, sondern grenzt es ab zu allem, was im Bereich des bisher Erfahrbahren steht. Es ist das Unsägliche, das Grauenvolle, was Spuren hinterlässt, selbst aber nie gefasst werden kann.

Fazit

Kunst und Literatur sind selbst Ausdruck von Wirklichkeitserfahrung als Erfahrung von Widerständigkeit und Vermitteltheit. Und sie schaffen neue Wirklichkeiten, die sich in Erfahrungen für den Rezipienten zeigen, die nicht in seinen Sehgewohnheiten unterzubringen sind. Kunst ist aufsässig und verstörend, was ein Adorno nicht oft genug zu betonen wusste. Auch künftige Kunst wird sich mit der erlebten Wirklichkeit und der Wirklichkeit der Kunstwelt, die eine Teilwirklichkeit ist, auseinanderzusetzen haben, sie wird Widerstand erfahren und selbst neue Widerständigkeit in die Welt setzen. Kunst erfährt die Widerständigkeit des Materials, weiß, dass nicht jedes Material für jede Darstellungsform geeignet ist. Jedes Material erfordert seine eigene Technik, jeder Stoff sein besonderes Material.

Kunst verstehen heißt immer auch die Widerständigkeit und die soziale Vermitteltheit der Kunst verstehen. Kunst schaffen, heißt die Widerständigkeit der Sache aufweisen und mit Widerständigkeit einen darstellerischen Umgang erlangen. Es heißt aber immer auch, Vermittlung zu leisten, Vermittlung von Perspektiven, die bisher noch nicht eingenommen wurden und verstören können. Kunst geht nie im Allgemeinen auf, im Gegenteil, sie verweigert sich in gewisser Weise dem Allgemeinen, weswegen sie nie auf den Begriff gebracht werden kann. Es ist das radikal Singuläre, Einzigartige und Ereignishafte, das Kunst auszeichnet, also das, was Widerständigkeit erfährt, erfasst und herstellt. 

Kunst ist in ihrer Einzigartigkeit aber zugleich Ausdruck einer geteilten Welt. Es ist zuletzt darauf hinzuweisen, dass sie es immer geschafft hat, Wirklichkeit und deren Wahrnehmung zu verändern. Nach der Entdeckung der Zentralperspektive wurde die Welt anders gesehen als zuvor. Kunst führt wie Wissenschaft zu Erkenntnis. Sie entzieht sich demokratischen Gepflogenheiten, steht nicht zur Abstimmung zur Verfügung. Und dennoch wirkt sie über Vermittler und innerkünstlerische Einflüsse. So sind Regisseure wie Tarkowskij oder Béla Tarr nie massentauglich gewesen, und dennoch ist der Einfluss ihrer Bildsprache auch auf populäre filmische Ausdrucksweisen unschwer nachzuweisen. So wie es Musiker für Musiker gibt, gibt es Autoren für Autoren, deren Wirkung immer nur vermittelt nachzuweisen ist.

Wirklichkeit als geteilte und teilbare Ordnung der Dinge und Sachverhalte bleibt die Voraussetzung für das künstlerische Schaffen und die Kommunikation darüber. Sie kommt in den Blick in ihrer Widerständigkeit, die sich dem Formwillen des Künstlers entzieht, aber für uns alle erfahrbar ist. Widerständigkeit ist nicht Ausdruck unserer Phantasie oder unserer Kreativität, sondern dessen, was sich dieser Phantasie und Kreativität entgegenstellt und eine eigene Gravität schafft, dem sich nichts und niemand entziehen kann.