Lesewelten – Leserwelten

1 Glänzen sie wirklich, die Wörter? Wie kommen sie eigentlich ins Spiel unserer Wahrnehmung und was bewirken sie da? Einer der ersten, der sich seine eigenen und weit voraus schauenden Gedanken darüber gemacht hat, war ein gewisser Gorgias von Leontinoi aus dem 5. Jahrhundert vor Christus. Dem breiteren Publikum ist er aus einem berühmten Dialog Platons bekannt geworden, der ihn freilich auf etwas billige Weise ins Zwielicht setzte. Wenn der Mensch Dinge erkennt, fragte jener frühe griechische Redner und Philosoph, wie kann er sie »einem andern verdeutlichen? Denn was man sah wie sollte man dies durch Rede aussprechen? [ …] Wie nämlich auch das Sehen nicht Laute erkennt, so auch hört das Gehör keine Farben sondern Laute. Und es spricht, wer spricht – aber nicht eine Farbe und auch kein Ding.«

Ohne Zweifel, gesprochene und erst recht geschriebene Wörter erfassen, das ist keine so einfache Tätigkeit wie das Sehen – und auch dieses ist schon ein komplizierter Vorgang, den ein später Gorgias- Leser mit der Sprachschöpfung in ein genaueres Verhältnis gesetzt hat. Bei Worten, so resümierte Friedrich Nietzsche, komme es gar »nie auf die Wahrheit an«, denn, so seine lapidare Begründung, ein von einem Gegenstand angeregter »Nervenreiz wird zuerst übertragen in ein Bild! Erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einen Laut! Zweite Metapher.« An anderer Stelle noch deutlicher: »Nicht die Dinge treten ins Bewusstsein, sondern die Art, wie wir zu ihnen stehen.« Oder mit anderen Worten: unsere Meinung über sie.

Das klingt einfach und enthält doch schon die wichtigsten Überlegungen, denen auch die moderne Leserforschung nichts Wesentliches hat hinzufügen können. Wenn wir lesen, öffnen uns die Wörter den Eintritt in eine vorher unsichtbare virtuelle Welt, die wir jetzt auch sehen können – mit dem »inneren Auge«, wie wir sagen, weil dabei Hirnzentren tätig werden, die auch sonst für die optische Wahrnehmung zuständig sind. Wir übersetzen den Text gewissermaßen zurück in die sichtbare Körperlichkeit, von der er metaphorisch übertragen wurde, und bringen derart in der Vorstellung auch unsere eigene Meinung zur Geltung.

Wenn auf diese Weise die Wörter zu glänzen beginnen, wenn wir, wie man sagt, von unserer Lektüre »gefesselt« sind, wird Lesen zu einer besonderen Erfahrung, die zur Lebenserfahrung hinzutritt, unsere  Meinungen relativiert und uns eigene Möglichkeiten entdecken läßt, reichere Perspektiven eröffnet, von denen wir uns bislang nichts haben träumen lassen. 

Wir werden nicht als Leser geboren, müssen abstrakte Schriftzeichen lernen, sie in Lautwerte und dann gesprochene Worte übersetzen und schließlich erkennen, was der Text sagen will. Auch das versteht sich nicht von selber, wir brauchen einen Schlüssel, eine Art Code, um den Sinn eines Zeitungsartikels, eines Romans, eines philosophischen Traktats, erst recht eines Gedichts zu erfassen. Haben wir diesen Schlüssel nicht, verstehen wir nicht. 

Auch wenn wir uns über diesen komplexen Vorgang klar werden wollen, betreten wir schon antiken Boden. Die kontrollierte Lektüre gehörte seit dem 6. Jahrhundert, als die orale mit der schriftlichen Kultur ergänzt wurde, zu den Bildungszielen der Griechen und war schon zwei Jahrhunderte später fest im Unterrichtswesen etabliert. Man schulte die Lesefähigkeit nicht etwa an dem, was wir heute Gebrauchstexte nennen, sondern an den Meistern der eigenen  Sprache, den Dichtern. Sie standen bereit in einem oft Jahrhunderte in seinem Grundbestand festen Lektüre–Kanon. Rede- und Lese-Unterricht orientierten sich an einem sprachlichen Niveau, wie es uns kaum noch vorstellbar ist. Die in der Lektüre imaginär erlebte Welt stand derart in festem Austausch mit der Lebenswelt der Leser. Man redete und schrieb die gleiche Sprache, man »verstand« sich. Der Konsens hielt weit über zweitausend Jahre, Walter Jens hat auf seine Wirksamkeit noch im 19. Jahrhundert hingewiesen: »Ein scheinbar befremdlicher, in Wahrheit plausibler Gedanke: das Pantheon des 19. Jahrhunderts, bevölkert von Männern, zwischen denen es im Raum der Politik keine Gemeinsamkeit gab, deren Lehren sich diametral unterschieden, und alle hatten genau die gleiche Bildung genossen, alle die gleichen Texte gelesen: das gab ihnen die Möglichkeit, sich einander noch in schroffster Gegnerschaft auf gemeinsamer Basis verständlich zu machen.«


2 Lesefähigkeit und kommunikative Fähigkeit bedingen einander, und wir erleben in unserer unmittelbaren Gegenwart die Folgen, wenn beide auseinanderfallen. Das Gespräch funktioniert dann nur noch unter den Anhängern der eigenen Parteiungen und ideologischen Cliquen, nicht mehr über deren Grenzen hinweg. Der gemeinsame Waagbalken, die gemeinsame Richtscheit (so hieß Kanon ursprünglich) fehlt. Die Folgen zersplittern noch das Alltagsgespräch und zwischen den Generationen gähnt Sprachlosigkeit, denn sogar das letzte Gemeinsame, die eigene Sprache beginnt sich aufzulösen.

Die Spuren reichen weit zurück. »Das Deutsche ist eine herrliche Sprache für Poesie […], aber sehr prosaisch in der Unterhaltung«, bemerkte vor 200 Jahren Madame de Staël in ihrem berühmten Buch über Deutschland und berichtete, wie Schriftsprache und mündlicher Gebrauch auseinanderklaffen. Dazu kommt eine Eigenheit, die auch die französische Schriftstellerin schon bemängelte, nämlich den typisch deutschen »Mangel an Vorurteilen zu ihren [also der Deutschen eigenen] Gunsten.« Wie soll man andere von der Differenziertheit, Schönheit und welterschließenden Kraft der eigenen Sprache überzeugen, wenn deren Qualität einem gleichgültig ist und wenn man sie, wo möglich, durch ein anglizistisch durchsetztes Kauderwelsch vertauscht, das wiederum nur die eigene Klientel versteht? Goethes Faust drängte es, die Bibel »in mein geliebtes Deutsch« zu übertragen, und mehr als eineinhalb Jahrhunderte, bis zur Reichsgründung 1870, galt den Deutschen immerhin der Sprachpatriotismus als eine Art Unterpfand der ersehnten staatlichen Einheit. Davon ist kaum etwas geblieben. Noch nie haben Schriftsteller so schludrig geschrieben, haben Politiker seichter und formelhafter geredet, ist die deutsche Sprache und Literatur an deutschen Schulen mehr vernachlässigt worden als heute – von der Sprache in Werbung, Internetforen und Jugendjargon ganz zu schweigen. Besonders die Franzosen kämpfen noch gegen den Sprachimperialismus des Englischen, ihr Stolz auf die eigene Sprach- und Redekultur widersteht weiterhin der Einschüchterung durch Modernität. Sollen sie etwa, auf Madame de Staëls Lob hin, mit dem Deutschen eine Sprache lernen, die man in Deutschland nicht einmal den Immigranten so recht zumuten will und deren wissenschaftliche Haushofmeister auf ihren Tagungen im eigenen Lande »neben Englisch immer auch [!] Deutsch« gestatten? Und die Germanisten schließlich, die so gerne ihre Marginalisierung an den Universitäten beklagen, sind selber Teil der Misere. Denn diese Wissenschaft von der deutschen Literatur und Sprache, die gerade wieder einer neuen, der neokolonialistischen Mode hinterherläuft, sich in törichten Genderdiskussionen verliert und immer noch ganze Halden belangloser, mit Recht so heißender Sekundärliteratur produziert, hat längst den Kontakt zum Publikum verloren. Das wird nicht nur mit verbilligtem Wissen abgespeist und mit Gedanken, als kämen sie aus Onkel Toms Hütte, sondern auch um die umstürzende Erfahrung gebracht, sich im Leseerlebnis zu verlieren, um sich selber in anderer Gestalt, bereichert, verwandelt, entgegenzukommen. 

Denn eben das ist der Wörter tiefster Glanz. Was ich damit meine: Es gibt Bücher, die unsere Lebenswelt transzendieren, ein Weltmodell schaffen, in das wir einziehen und in das wir mit wiederholter Lektüre immer wieder zurückkehren können. Bei ihnen wird Lesen Wandern, auch Auswandern oder, je nach Perspektive, auch Einwandern. Womit nicht Bücher wie »Die Sonnenstadt«, wie »Utopia« oder »Nova Atlantis« gemeint sind. Auch sie sind natürlich Weltentwürfe, Campanellas »Civitas Solis« sogar in besonderem Maße, als Muster eines Sonnenkönigtums in absoluter Monarchie. Aber ihnen fehlt das Ineinander von Lebens- und Welt-Entwurf, fehlt der Gang der Erfahrung, der den Leser so wenig unverändert lässt wie den oder die Protagonisten. In ihnen wird die Welt ebenso erhellt wie das eigene Ich: Welterkenntnis führt zu Selbsterkenntnis und diese wieder in die Welt zurück.


3 Zum Abschluss seiner »Meerfahrt mit Don Quijote«, der »metaphorischen Übertragung« seiner »Jungfernfahrt über den Atlantik« im Frühjahr 1934, erscheint Thomas Mann ein vieldeutiges Traumbild. »Mir träumte von Don Quijote, er war es selbst, und ich sprach mit ihm. Wie wohl die Wirklichkeit, wenn sie einem entgegentritt, sich unterscheidet von der Vorstellung, die man sich von ihr gemacht hat, so sah er etwas anders aus als auf den Abbildungen: er hatte einen dicken, buschigen Schnurrbart, eine hohe, fliehende Stirn und unter ebenfalls buschigen Brauen graue, fast blinde Augen. Er nannte sich nicht den Ritter von den Löwen, sondern Zarathustra. Er war, wie ich ihn nun persönlich vor mir hatte, so zart und höflich, dass ich mit unbeschreiblicher Rührung der Worte gedachte, die ich gestern über ihn gelesen: ›Denn als Don Quijote Alonso Quixano der Gute schlechtweg hieß, und auch, als er Don Quijote von la Mancha war, war er immer von sanfter Gemütsart und von liebenswürdigem Umgange, weshalb er nicht nur in seinem Hause, sondern auch von allen seinen Bekannten geliebt wurde.‹ Schmerz, Liebe, Erbarmen und grenzenlose Verehrung erfüllten mich ganz und gar, während diese Kennzeichnung sich mir verwirklichte, und träumerisch schwingen sie noch in mir in dieser Ankunftsstunde.« Fällt uns hier zunächst die ironische Konfrontation von Wirklichkeit und Vorstellung auf, in welcher der Leser den Traum als die eigentliche Lebenswahrheit behandelt (in nuce ein weitreichendes ästhetisches Bekenntnis), so überrascht aber doch noch etwas anderes an dieser Passage.

Die Lektüre führt zu einer ungewöhnlichen Selbstdeutung, die nach der Veröffentlichung der Tagebücher allerdings jeden Schein von Abwegigkeit eingebüßt hat. Schon der Gegenstand der Essay-Erzählung versteht sich nicht von selbst. Im Lektürekanon Thomas Manns nehmen die romanischen Literaturen einen untergeordneten Platz ein, Cervantes’ Roman ist eine der wenigen Ausnahmen. Auch die Form, die er, der Autor eines so großen Weltromans wie »Der Zauberberg«, für die Aufzeichnungen seiner Leseerfahrung diesmal wählt, fällt auf: In der Art des Tagebuchs notiert der Autor die Erlebnisse während der Überfahrt, darunter nimmt die Beschäftigung mit einem der vier »orangefarbenen Leinenbändchen des ›Don Quijote‹« nicht einmal den größten Raum ein. Obwohl er zur Niederschrift seine wirklichen Tagebuchnotizen verwendet hat, gibt es doch eine Reihe von Abweichungen, die wichtigste betrifft die Chronologie der Ereignisse. Die »Meerfahrt mit Don Quijote« erstreckt sich über die ganze Dauer der Reise, also vom 19. bis 29. Mai 1934, während es im Tagebuch schon drei Tage nach Reiseantritt heißt: »Ich las den Don Quijote zu Ende, die letzten Seiten abends vorm Einschlafen.«


4 Wir haben hier den Glücksfall vor uns, dass ein großer Dichter uns am eigenen Beispiel zeigt, was Lesen in Wahrheit heißen kann – wenn wir es denn nicht zur Zerstreuung oder bloßen Information vernutzen. Von allen literarischen Formen ist die Authentizitäts-Suggestion beim Tagebuch am stärksten. Es zeigt die gewesene Gegenwart in Momentaufnahmen, der Reiz der Unmittelbarkeit und des zweckfreien Selbstgesprächs, psychologische Neugier und die Unabhängigkeit vom Publikum gehören zu seinen üblichen Kennzeichen. Dass Thomas Mann ausgerechnet die Dauer einer Meeresreise wählte, um jene Begegnung mit dem Ritter von der traurigen Gestalt inmitten aller anderen Geschehnisse zu dokumentieren, gewinnt damit einen tieferen Sinn, der diesem Kenner und Sammler mythischer Stoffe und Denkweisen vertraut war. Meerfahrt bedeutet Lebens- und Weltfahrt und das Lesen eine Initiationsreise zu sich selber. Das Tagebuch aber fungiert als Metapher für eine Lebenschronik, so dass die ausgezeichnete Wirksamkeit, die Don Quijote darin zugemessen wird, uns einen wichtigen Schlüssel zum Leben seines Autors in die Hand gibt. Auch dürfen wir vermuten, dass der merkwürdige Traum in der Ankunftsnacht dann ein Spiegel besonderer Selbsterfahrung sein wird. Welches Buch auch immer Thomas Mann in seiner Lektüre besonders auszeichnete, jedesmal erzählt er davon als von einem Stück seiner eigenen Geschichte.

Die »Meerfahrt« enthält sogar das Kernstück. Wer ihm da als Don Quijote im Traum erscheint, buschig der Schnurrbart und buschig die Brauen, und sich Zarathustra nennt, ist natürlich Friedrich Nietzsche, der eigentliche Begleiter auf Thomas Manns Lebensreise. Den er einen »Selbstüberwinder« nennt, dem er aber eigenem Zeugnis »fast nichts« glaubte (»und gerade dies gab meiner Liebe zu ihm das Doppelschichtig-Passionierte, gab ihr die Tiefe«) und den er 1947, in seiner großen Rede auf der Pen-Club-Tagung in Zürich, als »der Bildung Muster« ausrufen wird. »Was mich, den ergriffen sich versenkenden Leser und ›Betrachter‹ der nächstfolgenden Generation betrifft, so habe ich diese Verwandtschaft früh empfunden und dabei die Gefühlsmischung erfahren, die gerade für das jugendliche Gemüt etwas so Neues, Aufwühlendes und Vertiefendes hat: die Mischung von Ehrfurcht und Erbarmen. Sie ist mir niemals fremd geworden.«

Solches Lesen greift tief und weit, es ist ein bewegendes Kunststück und in jeder Lesebiographie gibt es seltene, große Momente wie hier. Nietzsche, Don Quijote, Thomas Mann: aus dieser Konstellation entsteht das Bild einer Selbsterweiterung, das mit dem üblichen, auch von ihm selber verbreiteten Thomas-Mann-Porträt nur in wenigen Zügen übereinstimmt. Gewiss, wenn er an Nietzsche die »Erscheinung von ungeheurer, das Europäische resümierender, Fülle und Komplexität« rühmt, der das Vergangene »in mehr oder weniger bewusster Nachahmung und Nachfolge erinnerte, wiederholte, auf mythische Art wieder gegenwärtig machte«, wenn er von ihm als »Liebhaber der Maske« spricht und ihn als den großen Kritiker, den Prosaisten ersten Ranges erkennt, so sind das alles dem Redner Thomas Mann nahe Züge. Tiefste latente Verwandtschaft aber zeigt sich nur fast nebenbei an der Stelle seines Vortrags, wo er dem »tragischen Lebensschauspiel« nachsinnt, »das er [Nietzsche] bot, ich möchte fast sagen: das er veranstaltete«.

Das ist der Punkt, an dem Nietzsche-Zarathustra und Don Quijote sich in Manns Lektüre begegnen und schließlich sogar die Gesichter tauschen. Im »Meerfahrt«-Tagebuch erläutert der ergriffene Leser, was ihn an der Romanfigur so erschüttert: Ihre Narrheit und auch die »anachronistische Marotte« sind zugleich »die Quelle einer solchen wirklichen Noblesse, Reinheit, Adelsanmut, eines so gewinnenden und Achtung gebietenden Anstandes aller seiner Manieren«, dass es niemanden gab, der nicht Respekt und Zuneigung empfunden hätte. Ja selbst die »lächerlich-kläglichsten Demütigungen« vermögen nichts gegen seine Hochherzigkeit, die unverletzlich bleibt. Das alles gilt auch für Nietzsche, der sich selber gern mit Don Quijote identifizierte und nur die lächerlichen Seiten dieser Figur tadelte – weil er auch darin Ebenbildlichkeit befürchtete. Die ganze Dimension des Vergleichs geht aus einem Aphorismus der »Morgenröte« hervor, wenn er die plötzliche Selbsterkenntnis des »armen sterbenden Don Quijote« mit den Worten Jesu verbindet: »mein Gott, warum hast du mich verlassen!«

Das ist der Lebensschauspieler Nietzsche, der sich in den Menschheitsbeglücker Zarathustra hineinträumt: eine Don Quijoterie ohnegleichen, konstatiert Thomas Mann, auch ein »Hamletschicksal«, gipfelnd in der Selbstverleugnung eines Mannes, der »tief am Leben leidet« und in dessen philosophische »Ergüsse« etwas »Uneigentliches, Unverantwortliches, Unzuverlässiges und Leidenschaftlich-Gespieltes […], ein Element tiefster Ironie« kommt. Im Spiegel seiner Lektüre und der Lebensbilder Don Quijotes und Nietzsches, dieser zweideutigen, janusköpfigen Figuren, treten diesem Leser, dem Autor der »Buddenbrooks« und des »Zauberbergs«, des »Doktor Faustus« und der »Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull«, Spielformen der eigenen Existenz entgegen. Zeitlebens verfolgt er die Entwicklung und auch die Verkümmerung ihrer Möglichkeiten, weil er in diesem Schauspiel die Geheimnisse seines Lebens verschlüsselt findet.

Zum Lesen, und das entdeckt bald auch jeder andere, der sich tief ins Buch versenkt, gehört neben Neugier und Entdeckerfreude auch gelegentlich eine gehörige Portion Mut: Man weiß nie, wer einem da in welcher Gestalt entgegenkommt. Das Beispiel des Lesers Thomas Mann ist hochgegriffen, aber keineswegs unerreichbar. Jedem steht diese Tür offen, und wie sie das Leben verändern kann, dafür gibt es so spektakuläre Beispiele wie die Erinnerungen jenes Aurelius Augustinus, der als berühmter Rhetor am kaiserlichen Hof zu Mailand residierte und eines Tages im Garten eine Stimme zu hören glaubt: »Nimm und lies, nimm und lies!« Er schlägt die auf einem Tisch liegende Bibel auf, liest die Mahnung des Apostels (»ziehet an den Herrn Jesus Christus …«) und betritt damit die erste Stufe der lectio divina, die in der Kunst des Lesens ein eigenes Kapitel füllt. Auch weniger sagenhafte Exempel, aus dem alltäglichen Lese-Leben genommen, berichten von solcher, Leben verändernden Lektüre. Ich will aus der Fülle nur drei herausgreifen.

In seinem autobiographischen Roman »Anton Reiser« (1785) erzählt Karl Philipp Moritz, dass sein Vater »ein abgesagter Feind von allen Romanen war« und deren Lektüre im Hause eigentlich verboten, dass er aber dennoch mit Hilfe der Mutter unter anderem »Tausend und eine Nacht und die Insel Felsenburg […] mit unersättlicher Begierde verschlang. Dies waren einige der süßesten Stunden in seinem Leben.« Ein Leseglück mit weitreichenden Folgen; nicht ohne Grund bemerkte Arno Schmidt: »Eine Sonderstellung nimmt die folgenschwere ›Erste Lektüre‹ ein: schlimmer als die erste Liebe!« Anton Reiser hat es erlebt: »Die Erzählung von der Insel Felsenburg tat auf Anton eine sehr starke Wirkung, denn nun gingen eine Zeitlang seine Ideen auf nichts Geringeres, als einmal eine große Rolle in der Welt zu spielen, und erst einen kleinen, dann immer größern Zirkel von Menschen um sich her zu ziehen, von welchem er der Mittelpunkt wäre […]« Moritz, dessen Kindheit alles andere als vielversprechend war, stammte aus plebejischen Verhältnissen, doch las er sich hinauf, wurde Lehrer an einem Berliner Elitegymnasium, dann Professor gar, gründete eine Lesegesellschaft und wurde ein erfolgreicher Schriftsteller. »Er ist wie ein jüngerer Bruder von mir, von derselben Art […]« schrieb Goethe Frau von Stein, nachdem er ihn in Rom kennengelernt hatte.

Aus der Goethezeit glänzt eine weitere Erinnerung. Sie stammt von  Heinrich Jung-Stilling, ärmlich von Herkunft auch er, aber dem Lesen von Kindheit an verschworen, so dass er schon mit vierzehn Jahren  Schulmeister wurde und nun seinerseits die Kinder ermunterte, »den Catechismus zu lernen, indem er ihnen versprach, schöne Historien zu erzählen, wenn sie ihre Aufgabe recht gut auswendig können würden […], und denn kam’s zum Erzählen, wobey vor und nach alles erschöpft wurde, was er jemals in der Bibel, im Kaiser Octavianus, der schönen Magelone, und andern mehr gelesen hatte; auch die Zerstörung der königlichen Stadt Troja wurde mit vorgenommen.«

Er brachte es zum Medizinstudium in Straßburg, wo er sich mit Lenz,  Herder und Goethe anfreundete, welch letzterer ihn zu seiner Lebensbeschreibung anstiftete, einem der bedeutendsten autobiographischen Zeugnisse des ganzen Jahrhunderts. Eine kleine Episode darin lenkt den Blick auf eine Eigenschaft des Lesers, die man auch an Kindern schon beobachten kann: dieselbe Geschichte wieder und wieder hören oder lesen zu wollen. So ergeht es Jung-Stilling, als ihm ein Bauer eine alte volkstümliche Ballade (»Zu Kindelsberg auf dem hohen Schloss«) vorsingt: »Stilling lauschte still, er durfte kaum Odem holen, die schöne Stimme des alten Krafts, die rührende Melodie und die Geschichte selber würkten dergestalt auf ihn, dass ihm das Herz pochte, er besuchte den alten Bauer oft, der ihm dann das Lied so oft vorsang, bis ers auswendig konnte.«


5 Die Wiederholung ist ein Wesen der Lektüre, ihr nicht etwa äußerlich. Denn Lesenkönnen ist keine fixe Fähigkeit. Warum das so ist, hat Nietzsche am Modell seiner zwei Metaphern erläutert: Der Leser muss den Weg der Sprachwerdung über zwei Stufen zurückverfolgen, gleichsam nachproduzieren, um zur gemeinten Sache vorzudringen und sie zu »sehen«. Visuelle Erlebnisse, wie wir sie aus den Bildmedien kennen, entlasten von dieser Mühe, dafür werden sie nur in seltenen Fällen so zum inneren Eigentum, wie dies den Wörtern, den Sätzen, dem literarischen Kunstwerk gelingt.

Dazu bedarf es der Übung. Lesen heißt, sich ein Leben lang zum Leser hin entwickeln, man kann es vervollkommnen – aber leider auch verlernen. Der Fall, den man oft zu hören bekommt, dass jemand sorgfältig seine Bibliothek zusammenstellt, um die Bücher dann zu lesen, wenn er, beruflich entlastet, in Rente oder Pension geschickt, die Muße dazu habe, ist ein Warnzeichen: Der späte Griff zum Buch scheitert zumeist. Ein Blick in die Bücher beweist es: Die Lesezeichen oder andere Gebrauchsspuren kommen selten über die ersten zwanzig, dreißig Seiten hinaus. Nein: schnell fertig ist man auch beim Lesen nicht mit dem Wort. 

Lesen ist eine Lernfahrt besonderer Art, aber ebenso ein Aufzug der schönsten Gespräche mit »interessanten, oft sogar bedeutenden Menschen« – so Arno Schmidt, der Vielleser unter unseren modernen Klassikern, dem »das phantastisch erhöhte Lebensgefühl des Lesenden!« zur Kraftquelle seines gesamten Werks wurde.