In Jürgen Lodemanns neuen Roman »Mars an Erde« erfahren die Menschen durch eine bemannte Mars-Mission nicht nur Neues über den roten Planten, sondern auch über ihre Zukunft. Der Schriftsteller stellte uns eine Leseprobe zur Verfügung:
Aber an diesem Tag geschah es zweimal. Etwas nicht zu Fassendes. Denn es ist nun mal was anderes, ob du einen Stein in der Hand hältst in der Gewissheit, dies ist ein Stein, oder aber die Hand eines, der eben noch zu dir gesprochen hat. Und von nun an nie mehr, weil ab jetzt auch der nichts anderes ist als Stein. Und dann gibt es den umgekehrten Fall, den noch irrsinnigeren. Wobei die Gewissheit, wir hätten es mit unendlichem Stein zu tun, umkippt und es stellt sich raus, das unendlich Steinerne, es erzählt – von Leben –
Nach der letzten Gesteinsprobe, unten in der Ebene, im vermeintlichen Meeresgrund, da fuhren wir eine kleine Böschung hinauf, um dort oben, vor der Rückkehr zur Bodenstation so was wie einen Überblick zu bekommen. Kamen auf eine dieser Terrassen, die hier irgendwann von irgendetwas Fließendem aufgeschüttet worden sind, nur damit Epochen später diese Aufschüttungen, ebenfalls von Fließendem, unterspült wurden, nun aus anderen Richtungen.
Auf solch relativ fester »Terrasse« steuerte der Chef unser Fahrzeug in geringer Höhe dahin. Oben dann zusätzlich eine »Düne« hinauf, auf eine der »jüngeren« Aufwehungen. Und hielt oben an.
Standen da nun über verbranntem Meeresgrund. Und meinten, alles gut zu überblicken. Die Küste einer einstigen »Bucht«? Vorzeitliche »Sandbänke«? Angeschwemmt vor Millionen Jahren? Und wir auf einer »Düne«? aus Asche? Blickten also von einer mysteriösen Höhe herab. Über eine riesig dämmernde Weite.
Immerhin schien sich die Sicht vorübergehend zu bessern. Vorüberwehend. Die »Atmosphäre« blieb zwar getrübt, von Myriaden Winzigteilchen. Doch in diesen Augenblicken, da tastete sich unter den sanft bewegten Schleiern ein langsam wanderndes Licht heran, ein Licht der kleinen Sonne gelangte gut sichtbar zu uns hinunter, bewegte sich einer ihrer matten Strahlen hinab bis in dieses »Marsmeer«. Und der Strahl, dieses dünne aber deutliche Licht, das stieg schräg und seltsam langsam quer durch den Dunst. Als hätte es uns was mitzuteilen.
Hockten auf unserem offenen Panzer Turmoil, schauten dem Strahl zu, der da im Feinstaub vorwärts wollte. Und war kein Gespensterwehen.
Spätestens in einer Stunde war die Rückkehr fällig zur Bodenstation. Möglichst nie wollten wir der Risikogrenze zu nahe kommen, den kritischen Werten, wenn Luft- und Energie-Speicher zur Hälfte verbraucht sind und für die Rückkehr nur noch knapp ausreichen würden, oder gar nicht mehr.
Schauten nur noch mal gebannt zu. Chef Cocksfield hatte Winkel vermessen, zuletzt den Winkel zwischen Sonne und Rückflugs-Turm. Hatte Zeitpunkt und Ort notiert, peilte und maß und stand im Fahrzeug aufrecht. Für einen letzten Weitblick veränderte er seine Helm-Optik noch mal auf ganze Länge, richtete seine Sicht tief hinab in die Ebene.
Ich hatte meine Bodenproben verstaut. Und grübelte, wieweit ich mir am Abend erste Urteile erlauben könnte in unseren »Mars-News«, wie deutlich ich Houston/Texas melden sollte, »nein, sorry, nirgends Wasser«. Und dennoch überall Spuren von Wasser.
Da geriet in Captain Cocksfield in eine ungewöhnliche Unruhe. Verbesserte mehrfach die Schärfe der Optik. Und ließ über Funk ein Ächzen hören. Wie wenn in einem bis jetzt guten Spiel in letzter Sekunde alles vermasselt wird.
Über Funk verquälte sich sein Ton ins Schmerzliche, in unterdrückte Wut. Wie eine Erkenntnis, die nun aber überhaupt nicht mehr wahr sein konnte.
Im grau violetten Dunst hatte er was bemerkt, das ihn aufregte wie bislang nichts. Was ihn fast zu Boden schickte. Danach auch uns. Dann teilte er mit, es tue ihm leid, er zittere nicht ohne Grund. Nein, sein optisches Gerät funktioniere vollkommen korrekt. Immer noch mal blickte er hindurch, änderte Schärfen, Brennweiten. Unnötige Mühe, das Resultat blieb gleich. Nämlich unfassbar. Der Captain hatte sich weit vorgeneigt. Kippte fast vom Fahrzeug nach vorn.
Auch mit »bloßen« Augen glaubten auch wir in der Richtung, die ihn so aufregte, Auffallendes zu bemerken. Da war, mitten in dem rotgrauen Ganzen, ebenfalls ein Rot. Aber ein absolut unpassendes. In all diesen Widersinnigkeiten etwas noch Widersinnigeres. Abermals eine Gegen-Gegebenheit.
Der Chef prüfte die System-Reserven, ja, Antriebskraft und Atemvorrat reichten, die trennten uns vom kritischen Moment noch immer um eine volle Stunde. Wir würden näher heranfahren, an das Fragwürdige. Kaum waren wir dorthin unterwegs, da meinten auch Green und ich, auch ohne optische Hilfe etwas zu erkennen, einen Fremdkörper. Etwas, das hier einfach nicht hingehörte.
Rötlich schimmerte hier ja fast alles. Graurot, rostrot, violettrot, auch in Ockertönen. Alle Varianten von ausgebrannt Rötlichem glaubten wir inzwischen bestens unterscheiden zu können. Schon im alten Rom sah man den Kriegsplaneten rot. Und dieses Rot dort vor uns? Das strahlte. Geradezu frech. Im Schein der kleinen Sonne leuchtete das. Und zwar unerhört, als rotzfreches Rot. Auf einer dieser Dünen, völlig unpassend.
Und dann, unterwegs, ein zusätzliches Rätsel. Auch das wollten wir einfach nicht wahrhaben. Denn da sahen wir auf dem Asche- und Staub-Boden frisch geschabte Fahrspuren. Ketten-Spuren, quer zu unserer Fahrtrichtung. Und jeder, so haben wir uns das noch am selben Abend eingestanden, jeder klammerte sich augenblicklich an die Ausrede, wir seien also inzwischen so kaputt und desorientiert, dass wir glauben konnten, wir seien auf unserem Fahrzeug in Kurven gefahren, querten hier nur die eigenen Spuren, frisch aufgewühlt von unserem Raupenfahrzeug.
Überlegten aber zugleich angestrengt, ob wir nun im Weltraumstress so sehr die Geistesgegenwart verloren hätten, dass wir annehmen konnten, wir seien in Kurven unterwegs gewesen? vor kurzem schon mal genau an dieser Stelle? Nun in anderen Richtungen? Waren wir aber nicht. Natürlich nicht. Fuhren nicht im Kreis, höchstens in unseren Köpfen.
Desto heftiger lärmte der andere innere Alarm. Das mehrfarbig Leuchtende dort vor uns auf einer Anhöhe, dieses extrem Farbige und Fremde, das war, ob wir das nun wollten oder nicht, das war in Wirklichkeit etwas überaus Irdisches. Da war tatsächlich ein anderes Kettenfahrzeug unterwegs gewesen. Auf dem Hügel vor uns stand eine metallene, eine dreifarbige Nationalfahne. Stak da als Metall fest im Marsgrund. Und zeigte real und stark drei Großflächen, ein unmissverständlich und makellos riesiges Weiß. In der Mitte ein energisches Blau, und unten als Stärkstes das Rot. Mitten darin einen doppelköpfig goldenen Adler – die Flagge der russischen Nation.
Die Russen, was ihnen kaum jemand ernstlich zugetraut hatte oder nur ungern, kurz vor den Amerikanern waren sie abermals Erste gewesen. Abermals sie. Nun auf dem Mars. Hatten auf ihrer Metallfahne das Datum eingraviert. Knapp sechs Monate vor uns. Gleichfalls mit einem Raupenfahrzeug. Russische Ingenieure, vordem mit »Sputnik« als »erste im Weltraum«, sie gingen, allen Voraussagen zum Trotz, als erste auch in den interstellaren Raum. Den »Jahrtausendflug«, auch den schafften nicht die Alleskönner im »Westen«, sondern russische Pioniere. Sorgten für neuen Sputnik-Schock, stark verbesserte Auflage.
Ich kann nicht berichten, welche Gesichter Cocksfield und Green zeigten. In den goldfarbenen Helmfenstern erkennt man fast nichts. Wir drei standen nur herum, steif, verstört. Wie nicht bestellte Weihnachtsmänner. Plötzlich arbeitslos.
Amerikaner, vor dem Sieges-Signal der anderen. Mitten in amerikanischen Hochgefühlen, im Stolz über die eigene Pioniertat diese knallbunte Auskunft. Gegendarstellung. »Sechs Monate zu spät«. Die Sieger-Nation USA wieder mal Verlierer. Aber auch die erste Frau im Weltraum – auch die war schon Russin. Auch für unseren Universal Peace Number One hätte es wunderbare Kandidatinnen gegeben.
Von Green kamen energische Flüche. Vom Captain nur sein Ächzen. Schwächer jetzt. Zuletzt nur wie gestöhntes »nein, nein, nein«. Tappten um die Flagge herum, Schritt für Schritt, einer hinterm anderen, mit Tönen wie »nein, nein, nein«. Weltreisende, tief gekränkt.
Dem ersten Schock an diesem sechsten Januar folgte dann der zweite. Noch tiefer, noch grundlegender. Während Cocksfield und Green noch trauerten, schimpften und seufzten, hatte ich mich umgeschaut. Beobachtete, wie in der fernen und höheren Umgebung weiterhin zarte Staubvorhänge schwebten und zergingen. Was unser Schrämmeisen Turmoil aufgewühlt hatte, das zog dort geduldig dahin und empor, in zerwehenden Fahnen. Für Augenblicke auch wieder wie eine rostbraune Wendeltreppe, weit ausschwingend. Auch die würde sich wohl auflösen, blieb aber doch zäh beisammen, strebte ins Höhere, als wollte sie am trüben Firmament zur Cirrus-Wolke werden. Dann zerfiel auch sie. Ich blickte wieder in die Ebene –
Und in der Tiefe des Mare Martis? Nahm ich das richtig wahr? Oder war auch das nur optische Täuschung, überfordertes Hirn? Da zeigte sich, ja was nun? Da bot sich in all den Wirrnissen um uns herum etwas, was noch mehr verwirrte. Und nun war ich es, der fragende Töne hören ließ. Gemurmel wie »kann mir jetzt irgendjemand erklären, wie ich das hier begreifen soll?« Bedrängte den Chef und John Green, zeigte denen, was ich in gut dreihundert Metern Distanz zu erkennen meinte. Der Chef schraubte wieder an den Geräten, richtete seine Fern-Optik nunmehr dorthin. Und abermals schien seine große weiße Figur ihren Halt zu verlieren, machte Bewegungen wie ferngelenkt, unklare Griffe in Richtung Geräte.
Über den Funk aber deutlich sein Atmen, das sich steigerte zum Schreckens-Atem, zu kleinen, zu schnell fragenden Seufzern, wie nach etwas keineswegs Erwartbarem. Und kaum haben wir im Schreck seltsam heftig atmen müssen, da wollen wir das zurücknehmen, möchten wir das verhüllen in bewährter Abwehr, mit »plötzlich und unerwartet« – verschied heute Morgen – meine lebenslange Erkenntnis – wonach der Mars bekanntlich –
Und was zeigte der Blick in die 300-Meter-Distanz? Er zeigte Linien. Weil hier die jahreszeitlichen Orkane des Mars samt Staubgewittern zur Hochform aufgelaufen waren und weil sie hier jede Asche beiseite gestürmt hatten. Deswegen sahen wir hier – dem toten alten Planeten – zum ersten Mal ins steinerne Gesicht?
Ja, Linien. Frei gewehte, steinerne Linien. Lang und geradeaus verlaufend, auch parallel, auch Quer-Linien. Allerletzte Reste? Von was? Wie gesagt, es gibt auch den umgekehrten Fall, den noch irrsinnigeren. Bei dem die Gewissheit, man hätte es mit unendlichem Stein zu tun, umkippt. Und es stellt sich heraus, das unendlich Steinerne, es hatte, vor Ewigkeiten, zweifellos zu tun – mit Leben – mit unserem?
Lodemann, Jürgen: Mars an Erde. Tübingen: Klöpfer, Narr, 2020.
Ich bin begeistert von der Leseprobe!
Ich habe bis jetzt nur selten eine so charakteristische Schreib-und Erzählweise lesen dürfen. Es ist beeindruckend zu sehen, wie beides zusammenspielt um eine einzigartige Atmosphäre zu erschaffen. Und was für ein fieser Cliffhanger.
Es ist eigentlich schon fast komisch, wenn man das Szenario außerirdisch betrachtet: Einer Spezies gelingt es nicht nur einmal, sondern zweimal unabhängig voneinander ihren Fuß auf einen anderen Planeten zu setzen. Dabei legt diese Spezies den Wert nur aber darauf, wer das herausfordernde Unternehmen zuerst vollbracht hat. Ein absurder und kindlicher Wettlauf.
Mit Freude las ich die Leseprobe aus Jürgen Lodemanns Roman „Mars an Erde“. Sie macht große Lust, den gesamten Roman zu lesen. Die direkte, konkrete, fast nach vorne drängende Schreibweise ist überaus passend zu solch einem Thema. Schade nur, dass selbst im All die irdischen Rivalitäten nicht zurückgelassen werden können. Die unzähligen Kilometer trennen die Protagonisten lange nicht von erlernten Mustern und Feindseligkeiten.