Das Zuhause der amerikanischen ­Aufklärung

Da hat man sich – in jahrzehntelanger Arbeit – ein repräsentatives Eigenheim in schönster Lage, nach eigenen Plänen, gebaut. Für das weitläufige Entree will man über der Tür eine große Uhr anbringen, eine Eigenkonstruktion, die nicht nur die Stunden, sondern auch – mittels der an zwei Seilen hängenden Gewichte – die Tage anzeigen soll. An jedem der beiden Seilenden sind acht schwarze Eisenkugeln aufgeperlt. Die Seile streben unterhalb der Decke nach rechts und links in die Raumecken auf zwei Rollen zu, die sie nach unten zum Boden umleiten. Und dann merkt man bei der Montage der Uhr, dass die ganze Sache nicht funktioniert: Die Gewichte müssten noch weiter nach unten hängen, als es der Boden erlaubt. Was tun?

Thomas Jefferson löste dieses Problem ganz pragmatisch: Er bohrte zwei Löcher in den Flurboden, und die Gewichte verschwanden nun samstags im Keller.

Thomas Jefferson wurde am 13. April 1743 in Shadwell in Virginia geboren. Das Anwesen Monticello, das er seit 1768 über vier Jahrzehnte hinweg er-, um- und ausbaute, bezeugt an vielen Stellen den Pragmatismus und den Erfindungsreichtum seines Besitzers. Im Esszimmer gibt es beispielsweise automatisch sich öffnende Doppeltüren und Speiseaufzüge sowie Drehschränke, auf die die Bediensteten Speisen und Getränke auftragen und ins Zimmer hineindrehen konnten, ohne die Gespräche einer Tafelgesellschaft zu stören. Die Touristenführer, die jährlich rund einer Million Besuchern Monticello zeigen, erzielen stets Lacherfolge, wenn sie ihr Publikum auf eine ebenso praktische wie dezent angebrachte mechanische Vorrichtung in Jeffersons Arbeitszimmer hinweisen: In der Seitenwand des Kamins befindet sich eine schlanke Klappe zu einem kleinen Aufzug, gerade groß genug, um darin eine Weinflasche aus dem Keller nach oben zu transportieren …

In praktischen Fragen gab der dritte Präsident der USA sicherlich ein gutes Beispiel für die Mischung aus Bewunderung für gut funktionierendes Handwerk, aus einer ordentlichen Portion Hemdsärmeligkeit und dem Willen zum Anpacken ab, eine Mischung, die den Amerikanern gern nachgesagt wird. Hinzu kommt seine Verwurzelung in der Pflanzer-Kultur seiner Vorfahren. Wie diese widmete er sich der Landwirtschaft und führte – schon neben seinem Studium und der Ausbildung zum Juristen in Virgianias Gouverneurssitz Williamsburg – seit seiner Volljährigkeit gewissenhaft die Plantagen des früh verstorbenen Vaters. Auch dabei entwickelte er ein gründliches, seinem Hang zur Wissenschaftlichkeit entsprechendes Vorgehen: Er führte Zeit seines Lebens genau Buch über die Pflanzenwelt in seinen Gärten und seiner Landwirtschaft – rund 2500 Hektar Fläche – und gewann dabei botanische, wetterkundliche und agrarwissenschaftliche Erkenntnisse, die er zur Verbesserung der Erträge einzusetzen verstand. Der Tabakanbau auf den Plantagen diente dem Gelderwerb, die anderen Agrarerzeugnisse, die er auf Monticello anbauen ließ, sowie die Viehzucht dienten vornehmlich der Ernährung der Familie und der rund 180 Sklaven.

Monticello liegt an den nordöstlichen Ausläufern der Appalachen auf einem Berg über Charlottesville in Virginia. Die Bergkuppe ließ Jefferson abtragen und planieren. Das Hauptgebäude war der erste Kuppelbau auf amerikanischen Boden. Es zeigt deutlich den maßgeblichen Einfluß, den die Bauten Andrea Palladios auf den Architekten Thomas Jefferson ausübten. Schon als Student soll er des Italieners »Vier Bücher der Architektur« erworben haben. »Palladio ist die Bibel«, wird Jefferson zitiert.

An dieser Vorliebe läßt sich erkennen, dass Jefferson nicht allein durch seine Neigung zur Landwirtschaft, zu guter Handwerkskunst und Mechanik geprägt war. Er war gleichzeitig ein Intellektueller, hochgebildet und belesen. Für Richard Rorty (1931—2007), einem in den vergangenen Jahrzehnten vielbeachteten amerikanischen Philosophen, ist Jefferson die zentrale Figur der Aufklärung in Amerika. Jefferson hat zwar nicht im engeren Sinne ein konsistentes philosophisches Werk verfaßt, aber sein gesamtes Wirken wie auch die schriftlichen Zeugnisse fußen auf einer politischen Philosophie, die eindeutig den Stempel der Aufklärung trägt. Und dass er von seinen Zeitgenossen auch als Philosoph angesehen und ernst genommen wurde, lässt sich daran erkennen, dass er mehrere Jahre der »American Philosophical Society« vorstand.

Worauf Jefferson selbst besonders stolz war, kann man der Grabinschrift ablesen, die er selbst verfasst hatte:
Hier ruht Thomas Jefferson
Autor der amerikanischen Unabhängigkeits­erklärung,
des Gesetzes der Religionsfreiheit in Virginia
und Vater der Universität von Virginia.

Diese drei Leistungen werden hervorgehoben, und sie sind ohne Zweifel zu würdigen. Mit Annahme der Unabhängigkeitserklärung durch den Kontinentalkongress am 4. Juli 1776 – der seither in den USA ­Nationalfeiertag ist – sagten sich 13 aufständische Kolonien unter Berufung auf Menschenrechte und Widerstandsrecht vom britischen Mutterland los: Die Vereinigten Staaten von Amerika waren geboren. Und die Idee der Menschenrechte hatte in diesem Dokument fortan einen Bezugspunkt, der – wie man heute weiß – auch den französischen Aufklärern und Revolutionären gut bekannt war. In der Unabhängigkeitserklärung finden sich die zentralen Sätze: »Wir halten diese Wahrheiten für offensichtlich aus sich selbst heraus, daß alle Menschen gleich geschaffen sind; daß sie durch ihren Schöpfer mit gewissen unaufhebbaren Rechten ausgestattet sind; daß zu diesen Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören. Daß, um diese Rechte zu sichern, Regierungen unter den Menschen eingerichtet sind, die ihre rechtmäßige Machtausübung aus dem Konsens der Regierten erhalten; daß wenn immer eine Regierungsform gegen diese Ziele verstößt, es das Recht des Volkes ist, sie zu ändern oder abzuschaffen und eine neue Regierung einzusetzen, deren Fundament auf jenen Prinzipien beruhen und deren Machtaus­übung in solcher Weise organisiert ist, wie es zur Erfüllung der Sicherheit und des Glücks des Volkes am wahrscheinlichsten ist.«

Jefferson wurde als Gesandter der Vereinigten Staaten in Paris 1789 Augenzeuge der französischen Revolution. Er unterhielt enge Kontakte zu den führenden Köpfen in Frankreich, in seinem Hause fanden Beratungen über Resolutionen statt, die in der Nationalversammlung verlesen werden sollten. Und auf die Formulierungen zur »Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte« nahm er direkten Einfluss. Nach dem Sturm auf die Bastille hielt er fest: »Mein Vertrauen in den Verstand des Menschen und in die menschliche Fähigkeit, sich selbst zu regieren, ist so groß, dass ich, wo der Vernunft Raum gelassen wird, sich zu behaupten, niemals Angst vor dem Ergebnis habe, und ich will mich als falscher Prophet steinigen lassen, wenn in diesem Land nicht alles gut endet. Und es wird mit diesem Land nicht sein Bewenden haben. Dies ist nur das erste Kapitel in der Geschichte der europäischen Freiheit.«

Die Unabhängigkeitserklärung hat Jefferson mit Fug und Recht als erstes in sein Grabmal, das auf dem Monticello-Gelände zu finden ist, meißeln lassen. Als zweites wird auf das Gesetz der Religionsfreiheit in Virginia verwiesen, das 1786 verabschiedet wurde und die Abschaffung der anglikanischen Kirche als Staatsreligion in Virginia zur Folge hatte. In seinen »Betrachtungen über den Staat Virginia« hatte Jefferson seine liberale Haltung auf den Punkt gebracht: »Es schädigt mich nicht, wenn mein Nachbar behauptet, es gäbe 20 Götter oder gar keinen Gott. Das leert mir nicht die Taschen und bricht mir kein Bein.«

Der dritte Verweis auf dem Grabmal gilt dem Alterswerk Jeffersons, der Gründung und dem Bau der Universität von Virginia. 1817 entwickelte er mit 74 Jahren dafür die Pläne, 1819 entschied das Parlament endlich, eine Universität in Charlottesville zu gründen. Auch hier zeigte sich Jeffersons universelles Talent: Er entwarf die Bauten, die zu den schönsten Universitätsbauten überhaupt zählen dürften, und schuf mit dem Hauptgebäude, der Rotunde, eine Nachahmung des Pantheons in Rom. Der Campus wurde als ein »akademisches Dorf« geplant, in dem Professoren und Studenten Tür an Tür wohnten. Da Jefferson davon ausging, dass nur wenige der Studenten in ihrem Leben die Gelegenheit haben würden, so wie er die europäische Baukunst vor Ort zu studieren, hat er in die verschiedenen Bauten Zitate aus der Architekturgeschichte hineingepackt – der Rundgang über den Campus wird zum Lehrgang durch die Bau- und Kunstgeschichte. Jefferson entwickelte die Lehrpläne, wirkte als Gründungsrektor und beschäftigte sich bis zum Beginn des Lehrbetriebs fast ausnahmlos mit der neuen Universität. Den Fortgang der Bauarbeiten überwachte er von Monticello aus mit einem Fernrohr …

Bemerkenswert an Jeffersons Grabinschrift ist, was unerwähnt bleibt, nämlich in welchen öffentlichen Ämtern Jefferson seinem Land diente: Vor rund 220 Jahren wurde er – nach George Washington und John Adams – 1801 zum dritten Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt und 1804 wiedergewählt, zuvor wirkte er als Vizepräsident, als Innen- und Außenminister in Washingtons Kabinett, als Gesandter in Paris, als Kongressabgeordneter und in Virginia als Gouverneur und Parlamentsabgeordneter. Dass er solch eine politische Karriere nicht der Erwähnung wert befand, gibt Zeugnis von Jeffersons unprätentiösen und bescheidenen Umgang mit der ihm durch seine Ämter verliehenen Macht. Insbesondere als Präsident irritierte er viele seiner Zeitgenossen, weil er bei seiner Amtsführung in Washington völlig auf Pomp und das zuvor gern kopierte höfische Ritual der Europäer verzichtete: Er wollte eine »einfache und sparsame Regierung«. Alexander von Humboldt schrieb über ihn: »Ich hatte das Glück, den ersten Vertreter dieser großen Republik kennenzulernen, der so schlicht und einfach lebt wie ein Philosoph und mich mit einer tiefen Güte empfing, aus der eine dauernde Freundschaft entstand.«

Jeffersons Haltung und Denken wirkt in der amerikanischen Politik wie unter den Intellektuellen bis heute nach. Richard Rorty galt als Vordenker der Demokratischen Partei in den USA, ihm wurde ein gewisser Einfluss auf die Eliten der Clinton-Regierung nachgesagt. Der Philosoph Rorty lehrte selbst mehrere Jahre an der »University of Virginia« als »professor of humantities«. Besuchern, die er gern über das Gelände führte und auf architektonische Details aufmerksam machte, versicherte er, dass die politische Philosophie sich nach wie vor in den Fußstapfen des Thomas Jefferson bewege. Rorty brüskierte seine Zunftkollegen gern mit einer Einschätzung, die von seiner Beschäftigung mit Jefferson inspiriert gewesen sein dürfte: »Die Demokratie hat Vorrang vor der Philosophie.« Der Intellektuelle habe keine bevorzugte Sonderstellung einzunehmen. Eine Haltung, die Thomas Jeffersons Wirken bestimmte. Mit seiner politischen Arbeit versuchte Jefferson, das Leben der Menschen zu verbessern, ihnen Freiheitsrechte einzuräumen und ihnen Bildung zukommen zu lassen.

Ein tiefer Schatten wird auf dieses Bestreben durch die Tatsache geworfen, dass er Sklavenhalter war. Er hatte sich zwar kritisch dazu geäußert, sah aber – ohne zu große gesellschaftliche Verwerfungen heraufzubeschwören – keine Möglichkeit, die Sklavenhalterei binnen kurzer Zeit abzuschaffen. Im strengen Umgang mit seinen Sklaven wich er auch nicht von den Usancen seiner Zeit ab. 1802 bereits veröffentlichte ein Journalist eine Spekulation, die seither immer wieder die Phantasie von Biographen, Romanciers und Drehbuchautoren beflügelt: Jefferson habe ein Verhältnis mit der Sklavin Sally Hemings unterhalten, aus dem Kinder hervorgegangen seien. Im Nachhinein lassen sich diese Vorwürfe wohl nicht mehr eindeutig klären, doch die neuere Forschung geht davon aus, dass der Liebhaber der Sally Hemings nicht Jefferson, sondern ein Neffe von ihm war. Unabhängig davon hat das Bild des Aufklärers Jefferson wegen des Sklavenhalters Jefferson aus heutiger Sicht einen Riss – die Weinflasche stellte ein Sklave in den Aufzug an der Seite des Kamins, ein Sklave, der im Keller auf die Zeichen seines Herrn zu warten hatte.

Dieser Riss in des Aufklärers Bild sollte einen nicht dazu verleiten, die großen Leistungen des Thomas Jefferson zu verkennen. Und diese endeten nicht mit dem Ende seiner Präsidentschaft und erschöpften sich nicht im Bau der Universität von Virginia. Ab 1809 zog er sich nach Monticello zurück, wo er bis zu seinem Tod im Kreise seiner Familie lebte. Er starb am 4. Juli 1826 – auf den Tag genau 50 Jahre nach der Verabschiedung der Unab­hängig­­keits­­erklärung. Bis dahin galt er seinen Bewunderern wie seinen Gegnern als »der Weise von Monticello«. Sein Rat wurde von seinen Nachfolgern im Präsidentenamt und von vielen anderen gesucht, und er erteilte ihn in der ihm eigenen bescheidenen Manier und mit dem ihm eigenen Fleiß. Täglich widmete er sich mehrere Stunden seiner Korrespondenz. Aber nicht nur brieflich stand er im Kontakt mit bedeutenden Politikern, Wissenschaftlern und Denkern seiner Zeit. Monticello war stets ein offenes Haus, häufig wurden dort Gäste beherbergt, manchmal bis zu 50 Personen, mit denen Jefferson Gedankenaustausch pflegte. Wer Monticello, dieses schöne Haus und Anwesen besucht, wird sich den Zeilen Jeffersons kaum verschließen können, der schrieb: »All meine Wünschen enden dort, wo, wie ich hoffe, meine Tage ­enden werden: in Monticello.« Auch dank Männern wie Jefferson, die Aufklärung und Menschenrechte voranbrachten, können wir heute die blinden Flecke und inneren Widersprüche dieser Männer aufdecken und kritisieren, können sehen, wie sie in ihrem Alltagshandeln nicht Schritt halten konnten mit ihrem Denken. Prüfen wir uns dabei selbstkritisch und erforschen unsere blinden Flecke, so sollten wir eingestehen, dass Jefferson trotz seiner dunklen Seiten mehr für Aufklärung und Menschenrechte geleistet hat als viele seiner Nachfolger. Vergleichen wir ihn mit den Mächtigen unserer Tage – besteht dann unsere Zeit diesen Vergleich? Amerika, du hattest es mal besser.