Philosophie in Krisenzeiten

Krisenzeiten scheinen fern der Philosophie zu sein – warum sollte langsames Nachdenken anstehen, wenn es um schnelles Handeln geht? »Man kann das eine tun, ohne das andere zu lassen«, weiß der Westfale. Also sollten wir Handeln und Denken in Einklang bringen? Welch Wagnis … Martin Heidegger lässt es in dieser Frage philosophisch krachen:

»Das Bedenklichste ist, daß wir noch nicht denken; immer noch nicht, obgleich der Weltzustand fortgesetzt bedenklicher wird. Dieser Vorgang scheint freilich eher zu fordern, daß der Mensch handelt und zwar ohne Verzug, statt in Konferenzen und auf Kongressen zu reden und sich im bloßen Vorstellen dessen zu be­wegen, was sein sollte und wie es gemacht werden müßte. Somit fehlt es am Handeln und keineswegs am Denken.
Und dennoch — vielleicht hat der bisherige Mensch seit Jahr­hunderten bereits zu viel gehandelt und zu wenig gedacht.« (Heidegger, Martin: Was heißt Denken? (1951—1952). Gesamtausgabe, Bd. 8. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, 2002. S. 6.)

Auch bei einem Dunkelrauner wie Heidegger ist manchmal Licht. Jedenfalls ist in diesen Tagen gutes, kluges, vernünftiges Handeln gefragt. Nur: Woher wissen wir, welches Handeln gut, klug, vernünftig ist? Aus dem Hut lässt sich das nicht zaubern, wir können uns indes orientieren an dem, was darüber bereits herausgefunden wurde – in der Geschichte der Philosophie.

Nein, damit wüssten wir noch nicht, was im Einzelnen nun getan werden sollte. Aber wir hätten eine Richtschnur für unser Handeln, wir hätten Orientierungswissen. Das ist der Gewinn, der aus der Beschäftigung mit Philosophie gezogen werden kann, auch für Zeiten wie diese.

Philosophie bietet eine Grundlage für Orientierungswissen an. Die Rhetorik lehrt uns wahrzunehmen, wie Sprache und Zeichen in Argumenten und im Wettstreit der Ideen eingesetzt werden, um uns zu überzeugen. Literatur und Kunst generell können uns die Augen öffnen, damit das Wirkliche und das Mögliche sich anders zeigen, als wir sie immer schon sehen.