Hätte Tante Märjen in den achtziger Jahren noch gelebt, wäre sie womöglich mit E.T. verwechselt worden. Sie hatte den gleichen schrumpeligen Kopf, aus dem große Augen leuchteten. Diese Ähnlichkeit mit dem Außerirdischen war allerdings rein äußerlich. Märjen war keineswegs heimwehkrank oder sonst seelisch verwundet wie E.T.
Tante Märjens Augen waren die eines Spähers. Wahrscheinlich konnte sie auch um die Ecke sehen. Sie wachte in den fünfziger Jahren über unsere Moral. Über Ruthas, Millas und meine. Eigentlich hieß Märjen nach ihrer aus Amerika stammenden Mutter Maryann, aber für uns war sie Märjen und noch schlimmer als die Polizei. Unsere Mütter arbeiteten von halb acht Uhr morgens bis abends um sechs in der Modellabteilung einer Textilfabrik. Meine Mutter zeichnete Entwürfe, die Mutter von Rutha und Milla nähte danach die Modelle der Strickwaren, Pullover, Röcke, Jacken. Es war ein anstrengender Job, zwar weniger körperlich anstrengend, wie bei den Fabrikarbeiterinnen, aber dafür mussten unsere Mütter für einen Misserfolg ihrer Kreationen geradestehen.
Tante Märjen war nicht meine richtige Tante, Gott sei Dank; sie war nur die Tante von Rutha und Milla. Trotzdem hatte sie tagsüber die Oberhoheit auch über mich, und sie verlangte, dass ich sie Tante nenne. Ich sehe sie immer noch deutlich vor mir. Heute denke ich, dass sie eine unglückliche, einsame Frau gewesen sein muss. Aber als kaum sechzehnjähriges Mädchen fürchtete ich mich vor ihr. Tante Märjen sah bedrohlich aus mit ihrer papierenen gelbbräunlichen Haut, dem flusigen Haar, das sie vergeblich mit der Brennschere in Wellen zu legen versuchte. Sie trug ständig eine Art schwarzen Kittel über ihrer Kleidung, die sie wohl dadurch schonen wollte. In dieser Schwärze erschien sie mir wie das leibhaftige Unglück, das Sinnbild der Strafe für was auch immer, der fleischgewordene Vorwurf, das ständig lauernde Misstrauen. Wenn sie mich ansah, war ich bedrückt. Ihre Lippen waren ein dünner Strich. Wenn sie den Mund aufmachte, dann meist, um uns zu tadeln oder uns zu drohen. Selbst wenn ich hätte zuhören wollen, wäre es mir nicht möglich gewesen, denn ich starrte jedes Mal wie hypnotisiert auf ihre gelbliche schiefgewachsene untere Zahnreihe.
Wenn Rutha, Milla und ich aus der Schule kamen, wusste Tante Märjen schon, wer von den Jungen uns nach Hause begleitet oder gar unsere Tasche getragen hatte. »Ihr seid eine Schande für die Familie!«, rief sie dann. »Am helllichten Tag wird mit den Kerlen poussiert. Vor aller Augen. Was sollen denn die Leute denken? Mir tun eure Mütter leid, dass sie derart leichtsinnige Töchter haben!«
In meinem Fall hatte Tante Märjen schon Schicksal gespielt. Erfolgreich. Sie hatte den Eltern meiner Schülerliebe Karl-Friedrich, genannt Torro, unsere Poussagen in den glühendsten Farben geschildert. Es waren Geschichten, die offenbar Tante Märjens Phantasie entsprungen waren, denn Torro und ich strebten nach Reinem und Hohem. Doch Torros Eltern, getrieben von der panischen Angst, vor der Zeit mit Enkeln gesegnet zu werden, schickten ihren einzigen Sohn postwendend ins ferne Amerika, wohin man geschäftliche Beziehungen hatte.
Tante Märjens Sieg war jedoch einer nach Art des Pyrrhus. Nach einem Jahr im Exil kam Torro zurück, und er kam nicht allein. Im Gepäck hatte er den größten Feind, den das Leben für Tante Märjen bereithalten sollte. Es handelte sich um äußerlich unscheinbare Schallplatten, die es allerdings in sich hatten. Sie gerieten zu einer Offenbarung für Rutha, Milla und mich. Und das kam so:
Noch am Abend seiner Rückkehr aus den USA trafen wir Torro und seine Freunde Manni und Klaus, ausgerüstet mit den besagten Schallplatten, an der Friedenseiche. Es verwirrte mich, dass Torro nicht zuerst ein Treffen allein mit mir arrangiert hatte. Schließlich war ich für ein reichlich langes Jahr seine zurückgelassene große Liebe gewesen. »Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich Dich liebe. Ich könnte lachen und weinen. Weil Du meine bist und doch ein Meer zwischen uns liegt.« Das oder Ähnliches hatte Torro mir in einem Stapel von Briefen versichert. Auch dass wir heiraten und Kinder kriegen würden. Durfte ich da nicht erwarten, dass er zuerst einmal mich allein treffen wollte? Mir wurde plötzlich klar, dass ich die Spielregeln nicht kannte. Wer weiß, was mein Karl-Friedrich in den USA erlebt hatte. Jedenfalls war ich verblüfft über diesen amerikanischen Torro.
»Mit deinem Bürstenschnitt und den braun-weißen Schuhen siehst du aus wie ein GI auf Urlaub«, flüsterte ich ihm zu. »Ich komme ja nur deinetwegen«, flüsterte er rasch zurück, »ich wollte bloß nicht, dass es am ersten Tag schon wieder Gezeter gibt.«
Durch die Gassen gingen wir möglichst unauffällig zu unserem großen, alten Haus, in dem auch Rutha, Milla, ihre kriegsverwitwete Mutter und eben Tante Märjen lebten. Wir öffneten behutsam das quietschende Gartentor, bewegten uns vorsichtig durch den schmalen Gang neben der Waschküche, gelangten ungesehen in die Diele und in unser großes Wohnzimmer, wo wir so geräuschlos wie möglich den Schlüssel in dem alten Schloss umdrehten. Einer der Jungs hängte seine Kappe darüber. So – jetzt konnte Tante Märjen nicht einmal durchs Schlüsselloch spionieren.
Wir holten unseren Plattenspieler aus dem Schrank. Torro zeigte uns Ausschnitte aus amerikanischen Magazinen über einen Rock-’n’-Roll-Musiker namens Bill Haley. Torro meinte, wir sollten uns nicht daran stören, dass er etwas dicklich und schon in den Dreißigern wäre, und schon gar nicht an der Schmalzlocke auf der Stirn – »Der Mann macht eine Musik, dass es dich elektrisiert. Du kannst einfach nicht sitzen bleiben«, sagte Torro –, und da hörten wir auch schon den Rock-A-Beatin’ Boogie, wir hörten »Rock, rock, rock, everybody, roll, roll, roll, everybody«, und Torro kickte seine langen Beine nach rechts und links, zog seine Knie hoch, dann wieder steppte er mit kleinen Schritten. Ich hatte noch niemanden so wild tanzen sehen, ich glaube, mir blieb der Mund offen stehen, doch Milla war sofort im Rhythmus. »Hey, Klaus, let’s go!«, rief sie, und die beiden sprangen herum wie Derwische. Rutha und Manni übten das mit dem Kicken, beide hatten schon hochrote Gesichter, und Rutha rief: »Mann, Torro, zeig mir das noch mal richtig!«, und Torro kickte bereitwillig ein wenig langsamer, doch dann rollte er mich in seine Arme und wieder zurück, und jedes Mal flüsterte er mir etwas zu: »Ich liebe deine Augen«, »Ich kann mich nicht sattsehen an deinem Mund« und dergleichen. Ich roch den Duft seines weißen Hemdes, spürte den sehnigen Körper, und Torro flüsterte wieder: »Du machst mich ganz schön verrückt!«, während Tante Märjen draußen vor der Tür hämmerte und schrie, scheinbar ebenfalls verrückt geworden, nur anders. Sie schrie, dass wir sofort aufmachen sollten, aber sofort, sonst hole sie die Polizei.
Wir waren allerdings gerade so richtig im Rock-’n’-Roll-Fieber, und die alte Schraube draußen war uns so was von egal! Wir schoben ruck, zuck den Tisch an die Wand, stellten die Stühle obendrauf, und Torro hatte längst Crazy, Man, Crazy aufgelegt. Wir tanzten das, was wir für Rock ’n’ Roll hielten, und Milla rief an der Türe, dass Tante Märjen mittanzen könne, sie müsse aber unbedingt einen Mann mitbringen. Und Torro rief: »Danke, Märjen, danke, dass du so schöne Intrigen gesponnen hast! Ich hab nämlich in den USA den Geschlechtsverkehr kennengelernt! Du als halbe Amerikanerin musst vielleicht noch lernen, dass Rock ’n’ Roll ein Slangwort ist. Und weißt du, wofür? Für Geschlechtsverkehr!«
Damit hatte Torro mich angestachelt. Meine Wut auf Märjen und ihre Lügen war plötzlich wieder lebendig in mir. Ich schrie durchs Schlüsselloch: »Hallo, du da draußen, du kannst unseren Eltern ruhig verraten, dass wir es miteinander getrieben haben, Torro und ich. Und die anderen auch. Denn diesmal lügst du damit nicht!«
»Abschaum!«, tönte es von Tante Märjen zurück. »Ihr seid schuld am Verfall der Sittlichkeit. Ihr werdet schon sehen, wo ihr mal landet!«
Wir hörten, wie sie sich mit polternden Schritten entfernte. Und zum ersten Mal war uns ihr Geschrei gleichgültig.
Torro hatte noch mehr Amerika für uns mitgebracht. Und weitere Zeitungsausschnitte und Plakate zeigten einen so hübschen Jungen, dass Milla, Rutha und ich ungehemmt »Oh!« und »Ah!« schrien. Was war das denn für einer? »Das ist ›Elvis the Pelvis‹«, sagte Torro stolz, als wäre er dessen Manager. Mindestens. »Soll das vielleicht ›Elvis, das Becken‹ heißen?«, fragte ich ungläubig. Von den Zeitungsausschnitten und aus Torros Erzählungen erfuhren wir, dass dieser Elvis Presley nicht nur mit einer besonders samtenen Stimme sang, sondern seine Lieder zusätzlich mit so aufreizenden Hüftbewegungen unterstützte, dass seine Fans wie von Sinnen kreischten. Als wir Don’t Be Cruel hörten, Hound Dog und Heartbreak Hotel, waren wir seiner Stimme verfallen.
»Die dürfen richtig wild sein!«, rief Milla, »die machen was los! Die lassen sich von keinem was sagen!« Verblüfft sahen die Jungen sich an, bis Torro sagte: »Und wir auch nicht mehr!«
Sie versprachen es sich in die Hand, und wir schlugen mit ein.
Tante Märjen hatte unsere Mütter schon am Fabriktor abgefangen. Sie berichtete ihnen von einer anstößigen Orgie der drei Mädchen mit den drei Jungen: »Greta, Lisbeth, ich habe diesmal das Schlimmste nicht mehr verhüten können. Die haben so unanständige Sachen geschrien, dass ich es nicht mehr ausgehalten habe!«
Wir standen hinter der Friedenseiche, geschützt vom Gebüsch, und sahen unsere Mütter näher kommen. Die beiden Frauen schoben ihre Räder schwerfällig die Hauptstraße hoch. Sie redeten miteinander, und wir sahen ihre ratlosen Gesichter. Milla, Rutha und ich waren mit einem Mal beklommen, unsere Augen trafen sich. »Vielleicht holt mein Stiefvater wieder die Schmicke vom Schrank«, überlegte ich. »Dem dreh ich den Hals um!«, drohte Torro. Doch Milla sah ihn an und meinte, sie würde auf diese Musik nicht mehr verzichten. »Alle Platten von denen kaufe ich mir, alle, darauf können die in der Hauptstraße 21 Gift nehmen!« Und zu mir meinte sie kämpferisch: »Wenn dein Stiefvater wirklich wieder die Peitsche holt, dann rennst du einfach runter zu uns! Schrei wie verrückt! Dann gehen wir zu dritt auf ihn los! Den kriegen wir klein, der hat doch bei Bockemühlen Emma jetzt schon den dritten Schnaps intus!«
Ich sah, dass meine beiden Freundinnen genauso berauscht waren wie ich. Wir lachten. Lachten bis zum Ersticken. Zum ersten Mal konnten wir alles vergessen. Den Krieg, der dieselben Farben hat wie meine Kindheit. Der Krieg hatte aus uns kleine Erwachsene gemacht, mit Wasserscheiteln und strengen Zöpfen. Er war überall gewesen, der Krieg, alle waren darin verwickelt. Auch wir Kinder. Unsere Körper waren vermischt gewesen mit dem Krieg. In unserem Denken, wenn wir wach waren, und in unseren Träumen, wenn wir schliefen. Er hatte uns besetzt, der Krieg, und einer der Besatzer war Tante Märjen.
Nie, nie, nie vorher hatten wir geahnt, wie anders das Leben sein konnte. Wie großartig. Wie außerordentlich schön es war, sich halb totzulachen. Auch ohne Grund. Und ich wusste, dass ich keine Hilfe brauchte. Völlig allein wollte ich den Gespenstern in meinem Leben Paroli bieten. Vor allem meinem Stiefvater, diesem Verrückten, immer noch vom Dritten Reich Berauschten. In meinem Kopf hatte sich das Wort »Freiheit« breitgemacht. Ich wollte eine Erziehung, frei von meinem Stiefvater, frei von Märjen, ich wollte freies Tanzen, freies Singen, notfalls auch freies Kreischen. Ich wollte den Torro frei. Überhaupt das ganze Leben. Frei.
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin entnehmen wir diese Erzählung dem Band »Streusand« (Scheib, Asta: Streusand. Hamburg: Hoffmann und Campe, 2011. S. 17—23).
Diese Geschichte zeigt sehr gut auf, dass Freiheit kein erreichbares Ziel, sondern ein Prozess, ein Weg ist. Freiheit ist immer auf einen Kontext bezogen.
Eine schöne Geschichte, die uns bewusst machen kann, wie sehr sich unsere Privilegien verschoben haben und wofür es sich heute lohnt, zu rebellieren. Jede Generation trägt ihre eigenen Kämpfe und Revolutionen aus, und nur weil jeder Kampf ein anderes Ziel hat, heisst es nicht, dass sie sich komplett unterscheiden. Während in dieser Geschichte gegen eine veraltete Moral protestiert wird, protestieren wir heute zum Beispiel gegen eine veraltete Arbeitswelt oder eine schlechte Klimapolitik. Aber das Ziel sind jedesmal neue Privilegien.
Schnell vergisst man all die Privilegien, die man jeden Tag genießt. Die Erzählung von Asta Scheib ruft dies in Erinnerung.
Wie viel Rebellion gegenüber unseren Eltern war notwendig, um „frei“ zu sein? Ein Verbot, bestimmte Musik zu hören? Für die meisten heute wohl unvorstellbar. Es waren andere Zeiten, umso mehr ein Grund, sich das Hier und Jetzt bewusst zu machen.
Diese Geschichte lässt gerade in den heutigen Tagen wieder die Erinnerungen zu, wie unbeschwert und frei das Leben eigentlich ist. Man kann das gerade jetzt schnell vergessen, wenn die Tage so gleich und grau wirken. Dabei ist es doch so wichtig, sich an diese schönen und lustigen Momente zu erinnern und auch wieder an sie zu glauben. Man sollte sich öfters die schönen Dinge im Leben in den Sinn rufen und sich darauf hin die gute Zeit immer vor Augen halten.
In dieser Erzählung ist wunderbar beschrieben, wie sich der Drang nach Freiheit, Glück und Unbeschwertheit durch die wilde neue Musik aus Amerika einen Weg bahnt und den jungen Menschen ein neues Lebensgefühl vermittelt. Sie spüren unbändige Lebenslust und fassen Mut gegen das herrschende Moralkorsett und die quälenden Überreste der Diktatur – wie den gewalttätigen Stiefvater – zu rebellieren.