Streusand

Leonie war gerade dabei, ihren Rucksack in der Streusandkiste zu verstauen, als sie das Auto kommen hörte. Sie hatte vorgehabt, noch den Rest Kaffee aus dem Pappbecher zu trinken und sich dann schlafen zu legen, doch ein bestimmtes Gefühl, das sie nachher nicht mehr benennen konnte, ließ sie rasch in die Kiste klettern und den Deckel schließen. Und tatsächlich – der schwere Wagen bremste hart und kam unweit ihres Schlafplatzes zum Stehen. Leonies Herz klopfte laut, es dröhnte in ihren Ohren, und Leonie glaubte zu ersticken, obwohl sie den Deckel der Kiste mit einem Drahtbügel so präpariert hatte, dass er nicht zufallen konnte und die Kiste immer einen Spalt breit offen blieb. Leonie befahl sich, Ruhe zu bewahren, wer sollte sie hier finden, hier, an der wenig befahrenen Forststraße, in der Streusandkiste. Immer diese verdammte Angst, das Gefühl, wertlos und schutzlos zu sein.
Wenn sie durch die Straßen ging, hielt sie sich möglichst fern von den Passanten, denn sie hatte oftmals kein Geld, um in der Teestube zu duschen, und sie fühlte sich schmutzig. Ihre eiserne Reserve griff sie nur an, wenn die Münchner Tafel Lebensmittel austeilte. Niemals wäre sie ungeduscht dorthin gegangen, wo sie in einer Reihe mit anderen Bedürftigen warten musste. Leonie fürchtete ständig, dass die Gerüche ihrer Existenz in ihren Haaren hingen, aus ihren Kleidern strömten. Daher schienen ihr vor Scham die Füße zu brennen, sie wollte fort von allen. Die Menschen, die auf den sonnigen Gehsteigen an ihr vorbeieilten, wurden für sie zu einer gewaltigen Menge. Am liebsten war sie allein im Busch, im Wald. Der Lärm der Stadt dröhnte in ihren Ohren, aber sie musste manchmal unter Menschen, die ihr das Überleben ermöglichten, wie eben die Münchner Tafel. Manche der sich in ihrer Güte sonnenden Damen mit den sorgfältig frisierten Haaren und den teuren Kostümen waren freundlich zu ihr, versuchten aber gelegentlich, sie diskret auszuhorchen. Doch da hatte Leonie mühelos Tränen parat, die ihre Augen füllten, sodass man sie in Ruhe ließ.

Angst, würgende, demütigende Angst, hatte sie vor den anderen Obdachlosen unter den Brücken oder in den Durchgängen, die sie verjagten, wenn sie dort ihren Schlafsack ausrollen wollte. »Glaubst wohl, du bist was Bessres, weil du nicht saufen tust.« Oder wenn es ihretwegen Krach gab mit den Frauen, denen sie noch nicht aufgedunsen und abgewrackt genug erschien. »Hau ab, du greisliche Kuh, du magersüchtige!« Selbst in der Teestube trafen sie die Beschimpfungen, am liebsten wäre sie nie mehr hingegangen. Immer mehr wurde diese Einrichtung für sie ein Ort des Elends, des Scheiterns. »Da kimmt’s wieder, die Schönheitskönigin von Schneizlreith«, und keiner wollte ihr Platz machen, sodass Achim, der Leiter der Teestube, eingreifen musste. Beim Duschen hatte Tutti ihr die letzten Euro und die neue Tube Zahnpasta geklaut, und als Leonie es ihr auf den Kopf zu sagte, verlangte Achim, dass Tutti ihre Taschen auspackte. Tutti bekam einen Tobsuchtsanfall, schmiss die Zahnpasta in Leonies Richtung, brüllte aber, das Geld sei ihr eigenes und es solle ihr bloß keiner zu nahe kommen. Achim erteilte ihr eine Woche Hausverbot, und Tutti trollte sich fluchend. Achim gab Leonie zum Trost einen Krimi, den er zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Wenn der Leonie gefiele, könne sie ihn in der Teestube lesen, wann immer sie Lust habe.
Leonie schlug das Buch auf. Es war die Geschichte einer jungen Frau, die ihr Kind durch eine schwere Krankheit verliert und deshalb einen gleichaltrigen Jungen entführt, der von seiner asozialen Mutter vernachlässigt wird. Bald war Leonie so gebannt von diesem Stoff, dass die Tasse Tee neben ihr kalt wurde, und irgendwann sagte Achim lächelnd, jetzt sei es Zeit für sie, zu gehen. Sie war gerade an der Stelle, wo die Mutter vom Arzt erfährt, dass ihr Kleiner bei der Operation verstorben sei, und sie las atemlos, wie der Fußboden sich hebt, wie er sich gleichsam auf die junge Frau zubewegt und wie sie dann ohnmächtig wird.
So, genau so war es Leonie ergangen, als sie Ivo erschossen hatten. Leonie hatte ihn identifizieren müssen, ein Polizist begleitete sie, und dann hatte sich der gekachelte Fußboden gewellt, sich immer näher auf sie zubewegt, und irgendwann war sie in einem kahlen Raum auf einer Liege aufgewacht. Sie wusste nichts. Nur, dass sie älter geworden war. Das wusste sie plötzlich.

Leonie schulterte ihren Rucksack, griff nach dem Bügel des karierten Einkaufswägelchens, das ihr ein alter Mann geschenkt hatte. Seine verstorbene Frau hatte das Gerät sorgsam gepflegt, sodass Leonie beschloss, ihre Lebensmittel darin aufzubewahren, damit die Kleidung endlich nicht mehr nach Essen roch. Leonie ging die lange, gerade Straße hinunter, die zum Schlachthof führte. Sie ging ohne Trauer, ohne Neugier, so als wollte sie gar nicht gehen, nirgends ankommen. Aber sie genoss die Sonnenwärme auf ihrem Rücken wie ein unverhofftes Streicheln, doch da war Tutti schon neben ihr, zerrte sie in die Toreinfahrt und schlug ihr mit der Faust ins Gesicht. Als Leonie taumelte, versetzte sie ihr noch einen gehörigen Tritt mit ihren derben Schuhen, sodass Leonie krachend zwischen Mülltonnen fiel.
»He, he, he!«, rief ein Mann und riss Tutti zurück, die sich erneut auf Leonie stürzen wollte. Tutti machte sich unter Flüchen und Drohungen davon, während Leonie den Mann höflich davon abhielt, ihr mit seinem Taschentuch das Blut von der Nase zu wischen.
An jenem Nachmittag hatte Leonie sich wieder einmal in die S-Bahn gesetzt, stadtauswärts. Sie hatte sich so machtlos gefühlt, auch sich selbst gegenüber, dass sie nur noch wegwollte, weg vom Lärm der Stimmen. Kurz vor der Endstation war sie ausgestiegen und einfach drauflosgelaufen, immer weiter, über Feldwege bis zum Rand einer kleinen Ortschaft, die in einem so schönen Licht dalag, dass Leonie ihre Furcht verlor und seltsam getröstet auf einer schmalen Asphaltstraße schlenderte, die auf beiden Seiten von dichtem Baumbestand gesäumt war. Als am Straßenrand die Streusandkiste sichtbar wurde, ziemlich leer bis auf ein wenig körnigen Sand, erhob Leonie sie zu ihrer Eremitage, und seither hatte sie Ruhe vor Tutti und den anderen Obdachlosen, von denen viele Leute glaubten, dass sie brüderlich zusammenstünden in ihrer Misere. Doch das Gegenteil war oft der Fall. Besonders im Suff, wenn man sich um den Verstand zechte, gab es Streitigkeiten, Missgunst, Verleumdung und Gewalt zwischen ihnen. Auf einer Baustelle hatte Leonie eines Abends eine kurze, dicke Eisenstange gefunden und mitgenommen. Jedes Mal, wenn sie sich schlafen legte, tastete sie nach dem kalten Metall, das ihr Sicherheit gab, als wäre es ein scharfes Schwert.
Leonie fasste unwillkürlich an ihren Oberschenkel, der immer noch wehtat vom Sturz zwischen die Mülleimer. Gerade eben hatte sie ihn noch inspiziert und festgestellt, dass er in allen Abstufungen zwischen Grün, Violett und Gelb leuchtete. Verdammte Tutti! Sie wurde so rasch wütend, brutal, sie schrie, sie fluchte. Und Leonie schien sie besonders schnell auf hundertachtzig zu bringen. Aber was machte das schon, wenn ihr Oberschenkel unansehnlich war. Leonie trug immer lange Röcke oder Hosen, sie nahm an keinem Schönheitswettbewerb teil. Mit diesem Gedanken wollte sie sich gerade möglichst bequem zurechtlegen, als sie das Schreien einer Frau und die wütende Stimme eines Mannes hörte.
»Bevor du das tust, bringe ich dich um!«
Die Frau schrie Unverständliches, sie schien sich der Streusandkiste zu nähern. Leonie hörte die kurzen, hilflosen Schritte, die Todesangst in der Stimme. Wetten, dass die Frau hohe Hacken und einen engen Rock trug, sie konnte nicht schnell genug laufen, sie hatte keine Chance, und da hörte sie es: Der Mann hatte sie offenbar eingeholt, die beiden stürzten, und Leonie vernahm nur noch die keuchenden Beschimpfungen des Mannes, von der Frau hörte sie nichts mehr, gar nichts mehr – mein Gott, der war imstande und brachte sie um!
Leonie hob den Deckel ihrer Kiste an, sie sah im abnehmenden Abendlicht nur undeutlich, wie die beiden am Boden lagen, der Mann war über der Frau, er brüllte immer noch, dass sie ihm seinen Sohn nehmen wolle, dass sie sein Leben zerstöre, aber das würde ihr niemals gelingen, niemals, brüllte er, und er drückte der Frau den Hals zu, bis Leonie mit der schweren Eisenstange auf seinen Rücken schlug, einmal, zweimal, sodass er von der Frau abließ und versuchte, sich herumzudrehen. In der Stille hörte Leonie ein Tier im Gebüsch rascheln, sie hörte das Japsen der Frau, die sich an den Hals fasste, weil sie keine Luft bekam, und das Keuchen des Mannes, der bemüht war, sich aufzurichten, um dann aber wieder zurückzufallen auf sein Gesicht.
Leonie hockte sich in das Gebüsch hinter ihrer Kiste, ihre Augen suchten verwirrt die Eisenstange. Sie musste plötzlich daran denken, was es für eine Regung sei, zu töten. Töten hieß, Leben zu beenden, auszulöschen. Es hieß auch, über Leben zu verfügen, es zu verachten, zu verjagen. Niemals hätte Leonie so etwas gewollt. Sie zwang sich, nicht auf die beiden Menschen zu starren, die vor ihr lagen, jeder mit seinem Überleben beschäftigt. Es war jetzt fast vollständig dunkel, eine fahle, unbestimmte Zeit, wenn sich die Blätter der Bäume und Büsche schon zur Ruhe gelegt hatten und der ganze Wald in wenigen Minuten so schwarz und schweigend dastünde, dass niemand mehr Leonies Streugutkiste wahrnehmen würde. Sie war selbst fast ein Teil des Waldes, dachte Leonie, zumindest, was das Schweigen anging.

Als sie am Morgen aufgestanden war aus ihrer Streusandkiste, da hatte noch nicht die große Limousine wie ein unheimliches Riesentier am Rand des Waldes gestanden. Wieder begann die Angst in Leonies Ohren zu rauschen, sie hörte ein paar Raben krächzen und versuchte sich darüber klar zu werden, dass zwei verletzte Menschen vor ihr auf dem Boden lagen. Nein, halt, sie hatte lediglich dem Mann zwei Schläge versetzt, die Frau ging auf sein Konto. Trotzdem war sie nun angreifbar. Sie würden Leonie ihre Streusandkiste wieder wegnehmen. Sie konnte nicht einmal mit dem teuren Schlitten dahinten abhauen – oder doch? Warum eigentlich nicht? Leonie überlegte. Auto fahren konnte sie, jedes Auto. Wenn sie jetzt losfuhr, wäre sie morgen in aller Frühe in Opatja. Ivo und Goran hätten den Wagen wahrscheinlich schon verkauft, bevor man diese beiden hier finden würde.
Leonie kramte in ihrer Tasche. Wie im Fieber drehte sie sich eine Zigarette von ihrem letzten, kostbaren Tabak und zog den Rauch ein, da hörte sie ein leises ersticktes Rufen, eher ein Röcheln, das wie »Hilfe!« klang.
Die Frau hatte sich aufgerichtet, ein wenig nur, schließlich lag der Mann halb auf ihr, und der war nicht von Pappe. Leonie versuchte, ihn wegzudrehen, doch es ging nicht, aber die Frau wimmerte, sie bekam keine Luft, und schließlich zog Leonie den Mann an seinen Füßen herunter von der Frau. Er trug Lackschuhe, wie ein Dirigent, dachte Leonie, und sie überlegte, wann sie zuletzt einen Dirigenten gesehen hatte.
»Auto, Wasser, hinten, bitte!«, krächzte die Frau und versuchte erneut, sich aufzurichten. Leonie lief zum Wagen. Die Beifahrertür stand weit offen, und hinter dem Sitz fand Leonie eine Wasserflasche. Mit dem Wasser ging sie zu der Frau, die jetzt auf dem Boden kauerte und vor sich hin starrte.
»Ist er tot?«, fragte sie fast unhörbar, und Leonie schwieg. Was wusste sie denn? Die Frau murmelte etwas, das wie »Oh Gott!« klang, und Leonie dachte, dass alle Menschen in so einer Situation »Oh Gott!« sagen, nur sie selbst hatte es nicht gesagt und auch nicht gedacht, und sie glaubte der Frau vor ihr auch nicht, dass sie wirklich an Gott dachte in diesem Moment, sie hatte die Worte eher ausgespuckt wie eine faule Frucht.
»Haben Sie …?«, fragte die Frau matt und sah apathisch zu Leonie hoch und dann von ihr auf die Eisenstange, die neben ihr lag. Leonie erschrak, denn die Frau kam plötzlich auf die Beine, die Eisenstange in der Hand. Sie reckte sich überraschend weit nach oben und warf das Metall mit einem gefährlich klingenden Sirren in das Dickicht der Sträucher.
»Das ist Beweismaterial – oder so was«, sagte Leonie irritiert.
»Eben«, sagte die Frau.
Sie sah an sich herunter, sah das Blut, das sich auf ihrem weißen knappen Kleid ausgebreitet hatte, und zog es sich mit einer harten Bewegung über den Kopf. Auch der Body war besudelt, und sie zog ihn angewidert aus. Dann schaute sie sich um, als wollte sie die Kleider ebenfalls in den Wald schleudern. Sie hatte den Kopf von Leonie abgewandt, die sah nur das dicke lockige Haar und den Hals über den nackten Schultern.
Leonie starrte die Frau an, ihr Körper war so ungewöhnlich schön, als wäre er aus Marmor gehauen. Vor allem die Brüste: glatt und rund mit nach oben weisenden Spitzen. Leonie musste wegsehen, so weh tat ihr die makellose Form. Die Frau hatte eine schmale Taille, die Beine waren lang mit unglaublich zarten Fesseln, Schultern und Arme hoben sich schimmernd aus dem Dunkel des Waldes heraus, und Leonie dachte bestürzt, dass sie niemals den Fotos in den Magazinen geglaubt hatte, auf denen Frauen so aussahen wie diese hier.
Hatte sie selbst jemals so ausgesehen? Leonie besaß kein Bild von sich aus der Zeit, als sie Anfang zwanzig war. Sie konnte an die Vergangenheit nicht denken, ohne in Hysterie zu verfallen. Wenn sie überleben wollte, musste sie sich vor dem Nachdenken bewahren, musste von heute auf morgen ums Überleben kämpfen und nicht denken, das war ihr Programm. Und was dieses schöne Geschöpf hier anging, so kam es offenbar aus der Hölle. Vielleicht war die Frau bei aller Grazie blasiert, verwöhnt, zerstörerisch – jedenfalls für den Mann, der vor ihnen lag. Leonie wusste nur, dass sie selbst mindestens zehn Jahre älter war, aufgedunsen von billigem Essen, das früher üppige rote Haar glanzlos und strähnig.
Die junge Frau hielt immer noch die blutigen Kleider in der Hand, sie suchte ihre Schuhe und fand zuerst nur einen. Der zweite lag unmittelbar neben Leonie; sie hob den hochhackigen Pumps mit den winzigen Steinchen aus Strass auf und reichte ihn der Frau. Die lief zum Wagen, warf Kleider und Schuhe in den Kofferraum, streifte einen schwarzen Seidenblazer über und kam zurück zu Leonie, die sie schweigend anstarrte.
»Ich heiße Ophelia«, sagte die Frau und sah Leonie etwas ratlos an.
»Aus Hamlet?«, fragte Leonie, und Ophelia nickte. »Meine Mutter hat mal Shakespeare übersetzt, deshalb muss ich mit dem Namen herumlaufen.«
Leonie stellte sich ebenfalls vor und gab Ophelia die Hand.
»Ohne dich läge ich jetzt tot auf dem Boden«, erklärte Ophelia schaudernd, und es wirkte so, als würde sie es sich gerade vorstellen.
»Ich hab ihn geschlagen, damit er dich loslässt! Aber tot ist er nicht«, ergänzte Leonie trocken. Ophelia sprang hysterisch zurück, starrte auf den Mann, der jetzt leise ächzte. »Herrgott, nein, du hast recht, der lebt noch, ich muss abhauen! Ich muss zur Polizei!«
»Polizei? Nein! Auf gar keinen Fall! Ich bin eine Pennerin, ich streune, hab keine Wohnung – für die bin ich doch von vornherein eine Verbrecherin!«, schrie Leonie panisch. »Einer Obdachlosen glaubt doch keiner!«
»Obdachlos«, wiederholte Ophelia, und es war, als kaute sie auf jedem einzelnen Buchstaben. »Wie kommst du denn hierher?«, fragte sie kindlich, und Leonie zeigte auf ihre Eremitage, die im Dämmer kaum zu sehen war. »Ich wohne hier. Sieh mal da drüben, die Streusandkiste, kannst du sie sehen? Da schlafe ich.«
»Das ist aber jetzt ein Witz«, sagte Ophelia langsam, und Leonie sah förmlich, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete, wie Ophelia überlegte und wie es schließlich in ihren Augen aufblitzte. »Leonie, wenn sie dich kriegen, bin ich auch dran, dann haben wir beide die Justiz am Hals. Ich würde es dich nie allein ausbaden lassen, schließlich bin ich es ja, die –«
Ophelia stockte, atmete tief durch und sah Leonie entschlossen an. »Er muss auf jeden Fall weg hier, und zwar jetzt gleich. Wir tun ihn in deine Kiste, da findet ihn so schnell niemand!«
»Mensch, Ophelia. Der muss in ein Krankenhaus. Und zwar ziemlich schnell, sonst stirbt er doch!«
Ophelia schaute auf ihn herunter, ihr Gesicht hatte einen für Leonie rätselhaften Ausdruck, schließlich lachte Ophelia hysterisch, Leonie musste mitlachen, und dann saßen sie beide auf der Kiste und heulten.
»Wir müssen zur nächsten Klinik fahren, Ophelia, da müssen wir einen Zettel abgeben, dass sie deinen Mann holen kommen, schnellstens. Ich hab ihm zwar eins übergezogen, um dir zu helfen, aber ich bin keine Mörderin.«
Ophelia antwortete nicht. Ihr Blick ging starr ins Nichts.
Leise sagte Leonie, sie habe anfangs geglaubt, dass sie beide tot wären, Ophelia und ihr Mann. »Und da hab ich mir überlegt, ob ich mit eurem Wagen abhaue, nach Opatja. Ich kenne da Leute, die lackieren deinen Wagen um und verkaufen ihn. Wir kriegen dann zwar nur die Hälfte für das Auto, aber davon können wir in Opatja lange leben …«
»Ich kann nicht abhauen, Leonie. Ich hab ein Kind, Tobias ist drei, und meine Mutter bringt ihn mir morgen Mittag. Ich muss nach Hause.«
Leonie schwieg. Das Kind. Natürlich. Der Mann hatte Ophelia gedroht. Dabei war es um einen Jungen gegangen. Leonie tippte sich an die Stirn. Der Gedanke, mit Ophelia loszufahren, die Last der einsamen düsteren Jahre hinter sich zu lassen, dieser Wunsch hatte sie verhext, ihren Realitätssinn getäuscht. Und wo war ihr Gewissen? Schließlich hatte sie einen Menschen schwer verletzt, und der war Realität, lag vor ihr auf dem Waldweg. Ophelia konnte zurückgehen in ihr Haus, zu ihrem Kind, sie war ohne Schuld. Doch was wurde aus ihr? Das Leben schien Leonie widerwärtig. Warum war sie vom Pech verfolgt?
Ophelia wandte sich ihr zu. Sie strich Leonie das widerspenstige Haar zurück. »Leonie, deine Idee ist gut. Sehr gut sogar. Wir fahren jetzt zu mir nach Hause. Da kannst du baden, deine Haare waschen, alles. Dann suchen wir Klamotten für dich aus meinem Schrank, und du fährst nach Opatja und verkaufst das Auto. Nur – warum eigentlich Opatja?«
Leonie erklärte ihr, dass sie dort gelebt habe. Mit einem Mal flossen ihr die Worte nur so aus dem Mund. »Geboren bin ich in München. Als ich knapp zehn war, kamen meine Eltern bei einem Busunfall ums Leben. Die Schwester meiner Mutter, die in Opatja gelebt hat, nahm mich zu sich, ich habe dort die Oberschule abgeschlossen. Mirko habe ich dann hier in München kennengelernt, als ich die Hotelfachschule besucht habe. Im Sommer, am Monopteros. Wir haben geheiratet, ich hatte etwas Geld von meinen Eltern, und Mirko kaufte in Opatja eine große, alte Villa und baute sie zum Hotel um. Es ging uns gut. Doch Mirko …«, Leonie stockte, » … seine Blicke, seine Stimme, all das gehörte mir nur kurze Zeit. Plötzlich kam die Mafia, Mirko hat sich gewehrt, sie haben ihn erschossen. Mir haben sie dasselbe angedroht. Da bin ich nach München geflüchtet. Ich dachte, ich könnte wieder im Hotel arbeiten. Aber ich war krank, traumatisiert, konnte nichts essen, wog nur noch achtundvierzig Kilo, bei meiner Länge! Niemand wollte mir Arbeit geben, bald gehörte mir nur noch die Vergangenheit …«
Leonie schwieg erschöpft. Sie atmete tief durch und sagte, dass sie es so machen sollten, wie Ophelia vorgeschlagen hatte. Aber sie gab zu bedenken, dass Ophelias Mann sicher vermisst werde, und zwar bald. »Deine Eltern werden dich fragen, jede Menge Leute aus seinem Umfeld. Was willst du denen erzählen? Vor allem der Polizei?«
»Davor habe ich keine Angst,« sagte Ophelia ruhig. »Meine Eltern wissen, dass Christof mich ständig betrogen hat, dass seine derzeitige Freundin sogar in unserem Haus am Chiemsee wohnt. Ich werde ihnen und der Polizei sagen, dass wir wieder einmal gestritten haben, Christof und ich. Dass ich die Scheidung will und den Kleinen. Und dass er ausziehen soll aus meinem Haus und seine Freundin gefälligst auch aus unserem Bauernhaus. Und dann werde ich erzählen, was tatsächlich passiert ist:
Wir seien abends bei einem Empfang seiner Bank in der Residenz gewesen, seine Freundin sei mit ihrer Clique auch dort herumgelaufen, sodass ich auf der Stelle nach Hause wollte. Christof kam mir hinterher, und im Auto habe ich ihm eine Szene gemacht und ihm gedroht, dass ich das Sorgerecht für Tobias allein will. Da wurde er plötzlich friedlich und sagte, wir sollten das in Ruhe besprechen, an einem Ort, wo wir ungestört seien und so, und ehe ich es richtig begriffen hatte, waren wir auf dieser einsamen Straße, und er begann wieder, mich anzuschreien und mir wegen Tobias zu drohen. Ich habe gebrüllt, dass ich mein Kind niemals ihm und einer gewissenlosen Frau überlassen werde, und er solle mich und Tobias künftig in Ruhe lassen. Den Rest kennst du …«
»Aber das kannst du weder der Polizei noch sonst jemandem erzählen,« sagte Leonie panisch, doch Ophelia beruhigte sie. »Christofs Chef ist mir in der Tür zur Residenz begegnet, ich musste mich mit ihm unterhalten, und da kam Christof, mimte den zärtlichen Gatten, der seine Frau heimbringt, weil der kleine Sohn Fieber hat – also weiß die ganze Bank, dass wir heimgefahren sind, Christof und ich. Und was kann ich dafür, dass er mich nur abgesetzt hat und wieder zu seiner Freundin gefahren ist. Oder sonst wohin, jedenfalls habe ich weder ihn noch seinen Wagen wiedergesehen.«
Sie räumten den Rucksack und die Karre in den Kofferraum und fuhren zurück in die Stadt, zu Ophelias Haus am Blütenring, das im Schein der Straßenbeleuchtung wie eine schützende weiße Burg dalag. Ophelia erklärte Leonie ausführlich alle Leuchtziffern des Armaturenbretts und zeigte ihr die Autopapiere und den Fahrzeugschein im Handschuhfach.
In Leonie breitete sich langsam ein warmes Gefühl der Sicherheit aus. Ophelia war stark, sie würde mit der Polizei klarkommen. Sie und ihr kleiner Sohn gehörten vielleicht einmal zu Leonies Zukunft. Und außer der Streusandkiste hatte Leonie nichts zu verlieren.

Mit freundlicher Genehmigung der Autorin entnehmen wir diese Erzählung dem Band »Streusand« (Scheib, Asta: Streusand. Hamburg: Hoffmann und Campe, 2011. S. 24—36).