… des Menschen und flüchtet sich, wenn man ihn ganz und gar zu verdrängen denkt, in die wunderlichsten Ecken und Winkel, von wo er auf einmal, wenn er einigermaßen sicher zu sein glaubt, wieder hervortritt.«
Johann Wolfgang von Goethe
Goethe, Johann Wolfgang von: Werke. Band 6: Versepen, Schriften, Maximen und Reflexionen. Darmstadt: WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), 1998. S. 491.
Hierzu kommt mir direkt ein Sprichwort in den Sinn, das ich vor langer Zeit einmal gehört habe: »Aller Aberglaube ist ein Glaube mit einem Aber.«
Aberglaube ist eng verwandt mit dem Glauben, hat aber einen schlechteren Ruf. Der Begriff »Glaube« ist im religiösen Zusammenhang denen vorbehalten, die in organisierter Art und Weise glauben. Es ist genau vorgegeben, was richtig ist, die Mythen sind aufgeschrieben und werden heilig genannt, und die Regeln der Glaubenshüter sind strikt zu befolgen, sonst droht Strafe, entweder zu Lebzeiten oder wahlweise auch nach dem Tod, gerne bis in alle Ewigkeit.
Der Aberglaube kommt wesentlich liberaler daher: Es gibt zwar auch Regeln (schwarze Katzen, zerbrochene Spiegel, »Hals- und Beinbruch«), sie sind jedoch flexibel und individuell erweiterbar. Es steht zum Beispiel jedem frei, sich auszumalen, was passiert wenn die Fliesenfugen auf dem Boden versehentlich berührt werden oder die M&Ms nicht in exakt vorgeschriebener Farbfolge verzehrt werden. Interessant ist, dass auch in Religionen, also »offizieller« Glaube, Praktiken üblich sind, die, objektiv betrachtet, wie Aberglaube anmuten. Sei es das Küssen von Ringen oder das Betupfen der Stirn mit Wasser, das zuvor mit Formeln besprochen wurde.
Im Grunde dienen beide, der religiöse Glaube wie auch der Aberglaube, den Menschen dazu, diese unübersichtliche, chaotische Welt zu ordnen, durch Rituale das Leben zu strukturieren und unwägbare Situationen auszuhalten. Dazu kommt das gute Gefühl, dass jeder Einzelne höhere Kräfte milde stimmen kann. Ob es durch das Anzünden einer Kerze, begleitet durch die Beschwörung unsichtbarer Wesen, geschieht oder durch das dreimalige Klopfen auf Holz, spielt im Grunde keine Rolle.
Der Mensch funktioniert vermutlich ohne den Aberglauben nicht, denn Teil der menschlichen Erfahrung ist die Unsicherheit und die Unberechenbarkeit der menschlichen Existenz. Dieser Kontrollverlust kann der Mensch mithilfe von Aberglaube überwinden (zumindest ein wenig). Dies würde auch erklären, weshalb der Aberglaube trotz der fortschreitenden Entwicklung der Menschheit und der Naturwissenschaft, weiter beibehalten wurde. Kontrollverlust in dem Ausmaß wie er in menschlichen Leben vorhanden ist, ist für den Menschen unerträglich und signalisiert Bedrohung. Der natürliche Instinkt ist, sich vor Bedrohung zu schützen, weshalb der Menschen intuitiv nach Zusammenhängen und Mustern sucht, um die Kontrolle wieder zu erlangen.
Soren Kierkegaard schrieb einmal zum Aberglaube: „Unglaube und Aberglaube sind beide Angst vor dem Glauben“.
Ob diese Aussage, die eine vorherrschende Religiosität im Menschen feststellt, ihre Berechtigung hat, wird man schwer beantworten können (Kierkegaard war Theologe). Viel interessanter ist der mit Angst erwähnte Zusammenhang. Denn jeder Mensch ist Ängsten ausgesetzt, die sich als Metronom der eigenen Existenz ab und an in schwarzen Katzen manifestieren und deren Abwesenheit wie Goethe erkennt, nur von temporärer Dauer zu sein scheint.